Politische Berichte Nr.3/2022 (PDF)29
Globale Debatten - UN Initiativen

Lesehinweis: „1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“

Bruno Rocker, Berlin

Der Historiker Philipp Sarasin beschreibt in seinem 2021 herausgegebenen Buch über das Jahr 1977 die damaligen Umbrüche in den gesellschaftlichen Entwicklungen. Es geht ihm um die Untermauerung seiner These, dass damals nichts weniger als eine ganze Epoche, nämlich die Epoche der „Moderne“ zu Ende ging, und dass damals Entwicklungen ihren Anfang nahmen, die bis heute die politische Auseinandersetzung prägen.

Sarasin beginnt mit dem „Deutschen Herbst“ 1977, dem Ende der 1. RAF-Generation, dem Niedergang der Neuen Linken in Westdeutschland, in Frankreich und Italien. Damals schwanden aus seiner Sicht in Westeuropa letzte Hoffnungen auf den Sozialismus. 1977 war das Jahr der Menschenrechtskampagne von US-Präsident Carter. Gleichwohl sprachen schwarze Aktivistinnen in den USA zeitgleich über „identity politics“. Enttäuschte Linke suchten derweil nach Ansatzpunkten für eine neue Orientierung. Selbstverwirklichung, Ganzheitlichkeit, Authentizität, Gestalttherapie, Bioenergie, Gesundheitsnahrung … sind nur einige Begrifflichkeiten aus dem Strauß von Möglichkeiten, die damals eine Rolle spielten. Tatsächlich wandten sich damals viele aus der linken Szene den Zielen der Selbstfindung zu. Esoteriker sprachen über „New Age“ und in der Pop-Welt etablierten sich Punk, Disco und Hip-Hop nahezu gleichzeitig. Zu dieser Zeit kamen auch die ersten PCs, also personale Computer (z.B. Apple II) auf den Markt, entstand Silicon Valley und wurde das „Internet“ erfunden, begann Globalisierung und erschlossen sich neue Medienwelten.Sarasin stellt die Verbindungen zwischen all den verschiedenen Ereignissen des Jahres 1977 her und führt aus, dass damals der Glaube verblasst an ein gemeinsames Allgemeines, der doch die „Moderne“ formte. Nach vorn rückte das Besondere und „authentische Individuen“. Er zeigt in fünf Kapiteln, was damals verloren ging. Dazu dient ihm jeweils ein „Nekrolog“, also eine Lebensbeschreibung einer Person des öffentlichen Lebens, die 1977 gestorben ist. Damit will er verdeutlichen, welche Aspekte der „Moderne“ damals buchstäblich verblassten oder zerbröckelt sind. Gleichzeitig will er aber auch zeigen, welche Themen für die Postmoderne, manche sagen auch, Spätmoderne, bedeutsam wurden. Bis heute dauern innerhalb der Linken die Konflikte an zwischen jenen, die sich für Menschenrechte und universelle Gleichheit einsetzen, und jenen, die sich gegen die Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppen durch Rassismus und Sexismus einsetzen. Auch der Begriff „identity politics“ stammt aus dem Jahre 1977.

Sarasins 1977 bearbeitet ein sehr breites Themenspektrum, zusätzlich ergänzt um Einschübe über Songtexte, Bild- und Filmanalysen, Interviews. Er schreibt ebenso klug über Netzwerkprotokolle wie über die Entwicklung des Hip-Hop in der südlichen Bronx. Alle Achtung!2021 bestritt er mit den Soziologen Andreas Reckwitz eine gemeinsame Veranstaltung in der Berliner Urania.

Philipp Sarasin: „1977 eine kurze Geschichte der Gegenwart“ ist bei Suhrkamp erschienen.

Abb. (PDF): Buchumschlag