Politische Berichte Nr.3/2022 (PDF)30
Kalenderblatt

Kalenderblatt: 5. bis 17. Juli 1888 Großbritannien. Matchgirls und Matchwomen in London streiken erfolgreich und gründen eine Gewerkschaft

01 Stichwort Weißer Phosphor:
02 Annie Besant (1847–1933), inmitten des Streikkomitees der Match Girls.
03 MUSICAL The Match Girls:

Barbara Burkhardt, Berlin, Eva Detscher, Karlsruhe

Aus Protest gegen die niedrigen Löhne, lange Arbeitszeiten und entsetzlichen Arbeitsbedingungen streikten vom 5. bis 17. Juli 1888 etwa 1.400 Arbeiterinnen der Streichholzfabrik Bryant & May in Bow, East London. 134 Jahre später hat dieser Kampf immer noch einen Ehrenplatz in der Geschichte der britischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. The English Heritage, eine Organisation, die in Staatsbesitz befindliche Denkmäler und archäologische Stiftungen betreut, wird in diesem Jahr die Matchgirls und Matchwomen von 1888 mit einer blauen Plakette am Gebäude der ehemaligen Bryant & May-Fabrik ehren. Jedes Jahr findet außerdem ein Londoner Matchwomen‘s Festival statt (2022 am 9. Juli in der Bow Road 183).

Bryant & May

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts stieg der Bedarf an sicheren Streichhölzern immens. Jeder brauchte Streichhölzer zum Heizen, zum Kochen, für die Beleuchtung. Neben dem Import begann das Londoner Unternehmen Bryant & May ab 1861 die Produktion von Streichhölzern in einer neuen Fabrik in East End, damals das Armenviertel von London, aufzunehmen.

Gute Nachfrage, niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und genügend hungrige Arbeiterinnen brachten sehr schnell hohe Gewinne. So hatte sich das Nettovermögen von Bryant & May von 4625 Pfund im Jahr 1863 auf 11915 Pfund im Jahr 1865 mehr als verdoppelt. 1884 ging das Unternehmen – inzwischen der größte Streichholzproduzent Englands – an die Börse. 1885 zahlte Bryant & May eine Dividende von 22,5 %, 1886 und 1887 von 20 %. Für 1888 war eine Dividende von 22 % angekündigt worden.

Die Arbeitsbedingungen

Die jungen Mädchen – einige unter zwölf, viele zwischen 15 und 20 Jahre alt – und Frauen arbeiteten stehend 12 bis 14 Stunden an 6 Tage in der Woche in überfüllten, heißen und schlecht belüfteten Räumen mit nur zwei Pausen täglich. Sie verdienten durchschnittlich zwischen 8 und 4 Schilling pro Woche. Wenn Streichholzschachteln in häuslicher Arbeit hergestellt wurden – dem sogenannten Schwitzsystem – war es noch deutlich weniger. Die Frauen mussten die dafür benötigte Ausrüstung (Schnur, Farbe, Kleber, Pinsel etc.) vom Unternehmen kaufen. Das Schwitzsystem war beliebt bei Bryant & May, weil die Fabrikgesetze für häusliche Arbeit nicht galten.

Regelmäßig verhängte die Geschäftsleitung Lohnabzüge von drei Pence bis zu einem Schilling wegen „Vergehen“ wie einem unordentlichen Arbeitsplatz, Gesprächen, Verspätung, Toilettengang außerhalb der Pausen und sogar wegen schmutziger Füße – da Schuhe teuer waren, gingen viele der Mädchen und Frauen barfuß.

Die Arbeit in der Fabrik war gefährlich: Arbeitsschutz an den Maschinen gab es nicht. Einer jungen Frau wurde 1 Schilling vom Lohn abgezogen, weil sie ein Netz um die Maschine gewickelt hatte, um ihre Finger zu schützen. Sie wurde angewiesen, sich bei der Arbeit an den Maschinen „nicht um ihre Finger zu kümmern“. Die schwersten gesundheitlichen Schäden erlitten die Arbeiterinnen jedoch in den schlecht belüfteten Räumen durch den Einsatz von weißem Phosphor bei der Streichholzherstellung. Die Dämpfe von erhitztem weißem Phosphor sind hochgiftig. Sie verursachen eine Gelbfärbung der Haut, Haarausfall, Hirnschäden und den sogenannten „Phossy-Kiefer“, eine sehr schmerzhafte Form von Knochenkrebs. Diese Krankheit beginnt mit Zahnschmerzen, dann fallen die Zähne aus, dann wird der Knochen weggefressen, was unbehandelt schließlich zum Tod führt. Die Behandlung besteht aus dem Entfernen von Zähnen, Kieferabschnitten oder des gesamten Kiefers. Da es in der Fabrik keinen separaten Raum für die Pausen gab, atmeten die Arbeiterinnen die giftigen Dämpfe nicht nur während der Produktion ein, sie „aßen“ den weißen Phosphor auch quasi mit ihrem Brot.

Als Bryant & May 1861 die Streichholzfabrik eröffneten, war die Gefährlichkeit des weißen Phosphors seit Jahrzehnten bekannt. Bereits 1848 machte ein Artikel in der British and Foreign Medico-Chirurgical Review auf die gesundheitlichen Folgen der Chemikalie aufmerksam. 1852 schrieb Charles Dickens in einem Essay darüber.

Das Unternehmen hätte den roten Phosphor, der seit den 1850er Jahren verfügbar war und keinen „Phossy-Kiefer“ verursachte, einsetzen können. Aus Profitgründen entschied sich Bryant & May für die Verwendung des gefährlichen, aber kostengünstigeren weißen Phosphor und „löste“ das Problem so: klagte eine Arbeiterin über Zahnschmerzen, wurde ihr befohlen, sich sofort die Zähne entfernen zu lassen. Wer sich weigerte, wurde entlassen.

Der Arbeitskampf

Der Streik 1888 war nicht der erste in der Streichholzindustrie. Aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes war 1871 gegen die Einführung einer Streichholzsteuer gestreikt worden. Die Steuer wurde zurückgezogen. 1881, 1885 und 1886 streikten die Arbeiterinnen und Arbeiter – jedes Mal erfolglos – gegen die Senkung ihrer Löhne und gegen das Bußgeld-System.

Für den Streikerfolg 1888 war nicht unwesentlich, dass die Journalistin Annie Besant, Mitglied der sozialistisch-intellektuellen Fabian Society, von der Not der Arbeiterinnen in der Fabrik von Bryant & May gehört hatte und Kontakt zu den Frauen aufnahm. In ihrem Artikel „White Slavery in London“, erschienen im Juni 1888 in ihrer Zeitung „The Link“, schildert sie sehr detailliert die ausbeuterischen Zustände in der Fabrik und machte sie damit einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Bryant & May forderte die Arbeiterinnen daraufhin auf, Annie Besant der Lüge zu bezichtigen und eine Erklärung zu unterschreiben, dass sie mit den Arbeitsbedingungen zufrieden seien. Die Frauen weigerten sich. Als die Unternehmensleitung drei Arbeiterinnen, die sie in Verdacht hatte, Annie Besant über die Zustände in der Fabrik informiert zu haben, feuerte, legten rund 1.400 Mädchen und Frauen am 5. Juli 1888 die Arbeit nieder und verließen die Fabrik. Der Arbeitskampf gegen Bryant & May und gegen die mächtige britische Streichholzindustrie begann. Es war der erste Streik ungelernter Arbeiterinnen in Großbritannien.

Noch am selben Tag ging eine Gruppe der Streikenden zu Annie Besant und bat um Unterstützung. Die Arbeiterinnen gründeten ein Streikkomitee. Annie Besant rief in ihrer Zeitung zu Spenden für die Streikenden auf, ein Streikfonds wurde eingerichtet und die Streikenden aufgefordert, sich in ein Register für die Zuteilung von Streikgeldern einzutragen. Auch der mächtige Gewerkschaftsdachverband London Trades Council unterstützte die Streikenden.

Das Streikkomitee organisierte Demonstrationen und Kundgebungen im Regents Park im West End sowie im Victoria Park und im Mile End Waste im Osten. Jedes Mal wurden die Streikenden auf den Straßen bejubelt. Annie Besant stellte auch den Kontakt zwischen Vertreterinnen des Streikkomitees und Abgeordneten des Unterhauses her. Eine Delegation der Streikenden berichtete dort über die Zustände in der Bryant & May-Fabrik.

Die Vorwürfe über die schlechte Bezahlung und die katastrophalen Arbeitsbedingungen nahm die Öffentlichkeit ernst. Der Streik erhielt viel Unterstützung, in der Bevölkerung, in der Presse und von einflussreichen und angesehenen Persönlichkeiten.

Der Sieg der Arbeiterinnen

Am 17. Juli trafen sich Vertreter des London Trades Council und das Streikkomitee der Arbeiterinnen mit den Direktoren von Bryant & May. Die Einigung, die erzielt wurde, habe „die Erwartungen weit übertroffen“. Vereinbart wurde u.a.: Wiedereinstellung der entlassenen Arbeiterinnen, Abschaffung aller Bußgelder, Abschaffung der Lohnabzüge für Schnur, Farbe, Kleber, Pinsel usw., ein phosphorfreier Pausenraum, die Anschaffung von Sackkarren für Kisten, die die Arbeiterinnen bisher auf dem Kopf tragen mussten, und die Anerkennung der von den Frauen gegründeten Gewerkschaft durch Bryant & May. Die Arbeiterinnen kehrten in die Fabrik zurück.

Am 27. Juli 1888 fand die konstituierende Sitzung der Union of Women Match Workers statt, die erste Frauengewerkschaft Großbritanniens. Ende des Jahres änderte die Gewerkschaft ihre Regeln und ihren Namen. Sie wurde zur Matchmakers Union, offen für Männer und Frauen.

Vor dem Streik und zu Beginn waren in der Öffentlichkeit viele der Meinung, die streikenden Mädchen und Frauen seien schwach und nicht in der Lage sich selbst zu helfen. Für Anhänger des viktorianischen Frauenbildes waren sie zudem verdorben und Schlimmeres. Andere sahen in ihnen ungebildete und manipulierbare Mädchen. Der Streik hat die Stärke, Entschlossenheit und Solidarität der selbstbewussten East-End-Arbeiterinnen sichtbar gemacht.

Der erfolgreiche Arbeitskampf hatte auch Einfluss auf künftige Arbeitskämpfe wie den großen Streik im Londoner Hafen im folgenden Jahr. Als ab August 1889 zehntausende Hafenarbeiter für höhere Löhne und besserer Arbeitsbedingungen streikten, feuerte John Burns, einer der Gewerkschaftsführer, die Arbeiter auf Massenkundgebungen z.B. so an: „Steht zusammen, denkt an die Matchgirls, sie gewannen ihren Kampf und gründeten eine Gewerkschaft!“

Abb. (PDF): Arbeiterinnen der Streichholzfabrik 1888: Bei den beiden vorderen Frauen in der Mitte ist der Beginn vom „Phossy-Kiefer“ schon zu erkennen. The Match Girls Strike – Historic UK (historic-uk.com)

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Stichwort Weißer Phosphor: Weißer Phosphor wird von der Industrie zur Herstellung von Phosphorsäure und anderen Chemikalien verwendet, die in Düngemitteln, Lebensmittelzusatzstoffen und Reinigungsmitteln eingesetzt werden. Geringe Mengen von weißem Phosphor wurden in der Vergangenheit in Pestiziden und Feuerwerkskörpern verwendet. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung hat strenge Regeln für den Schutz und die Kontrolle bei Arbeiten damit. – Eine Phosphorbombe enthält ein Gemisch aus weißem Phosphor und Kautschuk und wird als Brandbombe und als Nebelkampfstoff eingesetzt. Das internationale Recht verbietet ihren Einsatz (Zusatzprotokolle von 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949), sofern sie „unterschiedslos“ eingesetzt werden. – Allein vor der Küste Mecklenburg-Vorpommerns liegen nach Schätzungen 50 Tonnen Phosphor-Brandbomben (u.a. die Nazis entsorgten sie angesichts ihrer Niederlage durch Abwurf in die Ostsee) – davon werden Brocken weißen Phosphors an die Strände der Ostsee geschwemmt: Wegen seiner großen Reaktionsfreudigkeit entzündet er sich bei Kontakt mit Luftsauerstoff von selbst und verbrennt mit einer Temperatur von rund 1300 °C. Da sein Aussehen dem von Bernstein ähnelt, kommt es häufig zu schweren Verletzungen und werden Urlauber davor gewarnt. Thema auch der 9. Folge „Strandgut“ der Krimiserie „Usedom“ (2019).

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Annie Besant (1847–1933), inmitten des Streikkomitees der Match Girls. Muriel Pécastaingt-Boissière hat eine beeindruckende Biografie über das beeindruckende Leben von Annie Besant geschrieben. Ihre Offenheit dem realen Geschehen gegenüber gepaart mit einem fast schon missionarischen Gerechtigkeitssinn sowie eine unerschrockene Verfolgung dessen, was sie für richtig erkannt hat, machten sie zu einer Schlüsselfigur in der Verbindung der sozialen Bewegungen in allen gesellschaftlichen Kreisen (Schichten oder Klassen) des viktorianischen Englands. Sie gründete Zeitungen, schrieb und trug vor, beteiligte sich am Kampf gegen Arbeitslosigkeit und die restriktive Irlandpolitik des konservativen Premierministers Lord Salisbury. Sie wurde nach 1888 in die Londoner Schulbehörde gewählt und kämpfte für Bildungsreformen. Ihr eigenes Leben fand weitere Wendungen, sie wandte sich der Theosophie zu, beteiligte sich in Indien am antikolonialen gewaltlosen Widerstand. – Der Streik der Match Women hat sie gelehrt, dass die Arbeiterinnen doch nicht so „unterdrückt, weil hilflos“ sind, wie sie anfangs in ihrem Artikel „White Slavery in London“ geschrieben hat. Der Kampf für Bürgerrechte und für Arbeiterrechte wurde zu einem Kampf; die Suffragetten wären nie erfolgreich gewesen, wenn es nicht die hartnäckigen Kämpfe der Arbeiter und Arbeiterinnen gegeben hätte, und auch deren Kämpfe hätten wenig Aussicht auf Erfolg gehabt, wenn es in der Gesellschaft keine Sympathie und Unterstützung gegeben hätte.Abb. (PDF): Hist. Fotografie

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MUSICAL The Match Girls: Das 1965 uraufgeführtes Musical erinnert an die widrigen Umstände und an die Entschlossenheit der Frauen und Mädchen – nachvollziehbar in der Geschichte einer Protagonistin, Kate. „Die Verzweiflung macht aus Kate, dem Mädchen aus dem Mietshaus, eine wagemutige Streikführerin und belastet ihre Beziehung zu Joe, einem Hafenarbeiter. Annie Besant, die liberale Reformerin, setzt sich für die Sache der Streikenden ein und spielt eine entscheidende Rolle bei ihrem letztendlichen Sieg über die damalige gefühllose Unternehmensleitung.“ Das Einganslied heißt: „Phosphor“.

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Abb. (PDF): CD Cover

Quellen: Louise Raw, Striking a Light: The Bryant and May Matchwomen and their Place in History, Striking a Light – Google Books • The Story of the Strike | Matchgirls Memorial (matchgirls1888.org) • The Match Workers Strike, The Union Makes Us Strong: TUC History Online (unionhistory.info) • The Match Girls Strike – Historic UK (historic-uk.com) • Matchgirls‘ strike – Wikiwand • ‘Out of light a little profit’? Returns to capital at Bryant and May, 1884–1927: Business History: Vol 53, No 4 (tandfonline.com) • Bryant & May – Wikipedia.