Die Kohäsionspolitik der EU – Zusammenhalt in krisenhafter Zeit
Rüdiger Lötzer, Berlin
Die Struktur- und Regionalpolitik der EU – in der Fachsprache Kohäsionspolitik genannt – und ihre Fonds sind ein wichtiges Instrument, um das Auseinanderdriften von Regionen und damit verbundene soziale Spaltungen zu bremsen, möglichst umzukehren und so zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse in der EU beizutragen.
Eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen Fonds (Regionalfonds, Sozialfonds, Fischereifonds, Migrationsfonds usw.) würde diesen Artikel sprengen. Hier nur so viel: Alle Fonds zusammen umfassen in der aktuellen Förderperiode 2021 bis 2027 ein Volumen von 392 Milliarden Euro. In der Förderperiode 2014 bis 2020 flossen 351 Milliarden Euro. Da es hier um Programme geht, bei denen die EU die Kofinanzierung übernimmt, müssen die Einzelstaaten ihre Programme entsprechend den Richtlinien der EU formulieren, anmelden und – je nach Entwicklungsstand – auch teilfinanzieren. Je ärmer das EU-Land ist, umso höher der Finanzierungsanteil, den die EU übernimmt.
Im Amtsblatt der EU vom 30.6.2021 wurde die aktuelle „Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Juni 2021 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und den Kohäsionsfonds“ veröffentlicht. Inzwischen hat die EU mit vielen Mitgliedsländern Vereinbarungen über deren Programme geschlossen, an denen sie sich beteiligen wird. Hier eine – unvollständige – Übersicht über die Mittel, die von 2021 bis 2027 fließen sollen:
- Deutschland: 20,0 Milliarden Euro
- Österreich: 1,3 Milliarden Euro
- Niederlande 2,0 Milliarden Euro
- Schweden: 2,2 Milliarden Euro
- Dänemark: 0,8 Milliarden Euro
- Frankreich: 18,4 Milliarden Euro
- Finnland: 2,0 Milliarden Euro
- Griechenland: 21,0 Milliarden Euro
- Zypern: 1,0 Milliarden Euro
- Litauen: 6,4 Milliarden Euro
- Bulgarien: 11,0 Milliarden Euro
- Polen: 76,5 Milliarden Euro
- Tschechische Republik: 21,4 Milliarden Euro.
Kohäsionsbericht: Fortschritte, Rückschläge
In ihrem im Februar veröffentlichten 8. Kohäsionsbericht stellt die EU-Kommission die Erfolge und Rückschläge dieser Programme für die letzten zehn Jahre dar. Normalerweise überwiegen in solchen Darstellungen die Erfolge. Unter dem Eindruck von Corona aber sind auch viele kritische Entwicklungen genannt.
Im Folgenden wird anhand von Zitaten aus dem Bericht ein Überblick über die Sicht der EU-Kommission gegeben.
- Die Corona-Pandemie „führte zur größten Rezession seit 1945, die vor allem Sektoren traf, die von persönlichen Kontakten abhängen, wie z.B. den Tourismus“. Sie führte „zu drastischen Veränderungen unserer Arbeitsplätze, Schulen und sozialen Interaktionen“. Und: sie „hat sich asymmetrisch auf die EU-Regionen ausgewirkt“, sprich, die Unterschiede vertieft. So stieg die Sterblichkeitsrate in der EU durch Covid-19 um 13 %, in weniger entwickelten Regionen sogar um 17 %.
- „Seit 2001 haben die weniger entwickelten östlichen Regionen der EU gegenüber dem Rest der EU aufgeholt.“ Aber: „Mehrere Regionen mit mittlerem Einkommen und weniger entwickelte Regionen, insbesondere in den südlichen Teilen der EU, haben eine wirtschaftliche Stagnation oder einen Niedergang erlitten.“ Eine Kritik an den skandalösen Programmen der „Eurogroup“ gegenüber Griechenland & Co vermeidet die Kommission, stellt aber klar: „Viele von ihnen (den südlichen Ländern, d. Verf.) wurden im Jahr 2008 von der Wirtschafts- und Finanzkrise getroffen und haben sich seitdem nur schwer erholen können.“
- Das Stadt-Land-Gefälle ist gestiegen: „Metropolregionen schneiden besser ab als andere Regionen.“ Die Kommission nennt hier die nördlichen, südlichen und östlichen Regionen gleichermaßen.
- „Die Beschäftigung hat zugenommen, aber die regionalen Unterschiede sind größer als vor dem Jahr 2008.“ Hinzu kommt: „In den weniger entwickelten Regionen ist das Geschlechtergefälle bei der Beschäftigung fast doppelt so groß wie in den stärker entwickelten Regionen (17 gegenüber 9 Prozentpunkten).“
- „Die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen ist zwischen 2012 und 2019 um 17 Millionen gesunken“, vor allem in den östlichen EU-Ländern. „Jedoch ist die Zahl der Menschen, die von Armut und Ausgrenzung bedroht sind, durch die Pandemie um Jahr 2020 um fünf Millionen gestiegen.“ Fast ein Drittel der Aufholerfolge wurde also im ersten Corona-Jahr wieder zunichte gemacht.
- Welche Konsequenzen zieht die Kommission?
„Die Kohäsionspolitik hat dazu beigetragen, die Ungleichheiten zu verringern.“ Hauptfaktor dafür waren die durch die EU mitfinanzierten öffentlichen Investitionen. Da viele Staaten ihre Investitionen infolge der Finanzkrise verringerten, stieg der Anteil der durch die EU finanzierten öffentlichen Investitionen steil an, von 34 % im Förderzeitraum 2007–13 auf 52 % im Zeitraum 2014–20.
- Auch hier gilt: Viele Investitionen „konzentrieren sich noch immer auf stärker entwickelte Regionen und städtische Gebiete“. Beispiel Breitbandzugang: „Nur zwei von drei Personen in Städten und eine von sechs Personen auf dem Land haben Zugang zu Hochgeschwindigkeitsanschlüssen.“ „Auch beim Bildungsniveau und den Qualifikationen gibt es ein großes Stadt-Land-Gefälle. Bewohnerinnen und Bewohner von Städten haben mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Hochschulabschluss, nehmen eher an Aus- und Fortbildungen teil.“
- Etwas nebulös wird es, wie zu erwarten, bei den Prognosen für die Zukunft. In den nächsten 30 Jahren werde die Wirtschaft der EU vor allem „durch die grüne und digitale Transformation“ wachsen. Darüber kann man ernstlich streiten. Wieso nicht durch eine Verringerung der sozialen Spaltung und die Angleichung der Lebensverhältnisse im Süden und Osten? Immerhin sieht die Kommission Risiken: „Ohne eine klare territoriale Vision … und ohne eine ehrgeizige Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte könnte eine wachsende Zahl von Menschen das Gefühl bekommen, dass ihre Stimmen nicht gehört und die Auswirkungen auf ihre Gemeinden nicht berücksichtigt werden, was die Unzufriedenheit mit der Demokratie noch verstärken könnte.“
- Hinzu kommt der demografische Wandel. „Insbesondere die Überalterung wird alle Regionen betreffen, aber die ländlichen Regionen zuerst“, stellt die Kommission fest. Das können auch ostdeutsche Bundesländer bestätigen, die Appelle von Handwerksbetrieben, der Landwirtschaft und kleiner Unternehmen in diesen Regionen nach Nachwuchs für ihre Arbeitskräfte sind unüberhörbar. Die Kommission rät deshalb, die Sorgen um Lebensqualität, Beschäftigung und soziale Eingliederung sowie die Rolle der Regionen künftig höher zu gewichten. „Im Einklang mit dem Ziel einer stärkeren sozialen Konvergenz der europäischen sozialen Rechte sollte eine breit angelegte Grundsatzdebatte zu diesen Themen eingeleitet werden, die in die Entwicklung der Politik nach 2027 einfließt.“ Sprich: Soziale Rechte sollen ausgebaut werden, europaweit. Das bietet Ansatzpunkte, die linke Politik nutzen sollte.
Zum Schluss: Im Europaparlament hat unter dem Eindruck des russischen Überfalls auf die Ukraine und der dadurch ausgelösten Fluchtwelle eine breite Debatte über Folgerungen auch für die Kohäsionspolitik begonnen. Mehr Mittel für Geflüchtete und für die Energiewende sind erste Überlegungen. Der Europäische Rat der Regierungschefs hat am 2. Juni den Kohäsionsbericht bestätigt, aber darauf hingewiesen, dass diese Aggression zusätzliche Aufmerksamkeit für alle Nachbarländer Russlands, von Belarus und Moldawien erfordert. Welche Programme dafür erforderlich sind und wie diese finanziert werden, auch der Wiederaufbau der Ukraine, darüber hat die Debatte erst begonnen.
Abb. (PDF): EU-Hilfen für Deutschland nach Bundesländern
Quellen: Amtsblatt der Europäischen Union vom 30.6.2021; Mitteilung der Kommission zum 8. Kohäsionsbericht: Kohäsion in Europa bis 2050, Brüssel, 4.2.2022; Council of the European Union, Outcome of Proceedings (zum 8. Kohäsionsbericht, d. Verf.), Brüssel, 2. Juni 2022.