Rechtliches Stellung europäischer Betriebsräte soll erheblich gestärkt werden
Rolf Gehring, Brüssel
Die 1994 verabschiedete Richtlinie zu europäischen Betriebsräten setzte einen institutionalisierten und rechtlich verankerten Rahmen für grenzüberschreitende Kooperation zwischen Belegschaftsvertretungen und auch für Gewerkschaften, die ja in einer Reihe von Ländern direkt in die Vertretungsstrukturen auf Betriebs- und Unternehmensebene eingebunden sind. Die Beteiligungsrechte beschränken sich auf Informations- und Konsultationsrechte, weitergehende Mitbestimmungsrechte sind nicht vorgesehen. Gleichwohl bildete und bildet sich vor dem Hintergrund, dass die Richtlinie eine ganze Reihe von unbestimmten Rechtsbegriffen beinhaltet, eine gesellschaftliche Praxis aus, die strukturierend auf die industriellen Beziehungen wirkt. Was bedeutet rechtzeitig, was bedeutet umfassend, welche Themen sind im EBR zu verhandeln, was ist vertraulich usf.?
In der Praxis findet die Information und Konsultation Europäischer Betriebsräte (EBR) oft zu spät, unvollständig oder gar nicht statt. EBR-Mitglieder werden bei Umstrukturierungen oftmals vor vollendete Tatsachen gestellt. Belegschaftsvertretungen auch nur wahr- oder ernstzunehmen, ist auf Unternehmensseite häufig sehr unterentwickelt. Vor diesem Hintergrund hat der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) bereits vor drei Jahren eine Kampagne für mehr Demokratie am Arbeitsplatz begonnen, die auf eine Revision der EBR-Richtlinie, aber auch auf einen allgemeinen Ausbau der Beteiligungsrechte in allen Unternehmensgrößen und auf eine stärkere Berücksichtigung von Arbeitnehmerbelangen im Unternehmensrecht zielt. Unterstützung finden die Gewerkschaften seitens des Europäischen Parlaments, das bereits 2021 in einer Entschließung unter dem Titel „Demokratie am Arbeitsplatz“ nicht nur die Revision der EBR-Richtlinie thematisiert, sondern auch eine Rahmenrichtlinie über die Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung der Arbeitnehmer und eine Stärkung der Mitbestimmung in den Aufsichtsräten.
Am 12. Mai 2022 veröffentlichte nun der Beschäftigungsausschuss des Europaparlaments den ersten Entwurf eines Berichtes über die Revision der EBR-Richtlinie. Berichterstatter ist der christdemokratische Europaabgeordnete Denis Radtke. Der Bericht greift auch eine Reihe von zentralen Forderungen des Europäischen Gewerkschaftsbundes auf, die dieser im März 2017 vorgelegt hatte. Vorgeschlagen wir unter anderem:
- Eine länderübergreifende Zuständigkeit des EBR soll auch für solche Fälle gelten, in denen lediglich ein einziges Land betroffen ist, die Maßnahme aber eine große Bedeutung für die Belegschaften in ganz Europa hat.
- Die Anhörung muss immer vor der endgültigen Entscheidung der zentralen Leitung erfolgen und ist zwingend zu berücksichtigen.
- Die Zeit zur Aushandlung einer EBR-Vereinbarung wird von drei Jahren auf ein Jahr reduziert.
- Die Vertraulichkeitspflicht orientiert sich künftig an der EU-Richtlinie zu Geschäftsgeheimnissen. Damit würden Informationen z. B. über Personalabbau nicht mehr der Geheimhaltung unterliegen.
- Unternehmen sollen Dokumente gegenüber dem EBR nur noch als vertraulich einstufen, wenn dies durch juristisch genau definierte Regeln des jeweiligen Landes autorisiert ist.
- Bei Meinungsverschiedenheiten über die Zuständigkeit des EBR muss die zentrale Leitung genau darlegen, warum eine Unterrichtung und Anhörung nicht notwendig ist.
- Alle EU-Länder müssen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren schaffen, damit der EBR rechtzeitig und effektiv seine Rechte durchsetzen kann. Dazu gehört auch ein Unterlassungsanspruch.
- Gerichtsgebühren, Rechtsanwaltshonorare und Reisekosten mindestens eines EBR-Vertreters zur Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung sind von der zentralen Leitung zu tragen.
- Als Geldstrafe bei Gesetzesverstößen sind bis zu zehn Millionen Euro oder zwei Prozent des weltweiten Jahresumsatzes vorgesehen, bei vorsätzlichen Verstößen das Doppelte. Dies orientiert sich an der EU-Datenschutz-Grundverordnung; zusätzlich: Ausschluss von nationalen bzw. EU-Subventionen von bis zu drei Jahren und Ausschluss von öffentlichen Aufträgen ebenfalls bis zu drei Jahren.
- Freiwillige EBR-Vereinbarungen behalten nur noch Bestandsschutz, wenn sie den Standard der EBR-Richtlinie vollständig erfüllen.
- Plenarsitzungen des EBR sollen zweimal jährlich stattfinden.
- Am 23. Juni sind die insgesamt 299 Änderungsvorschläge vom Beschäftigungsausschuss veröffentlicht worden. Trotz der (wie üblich) hohen Anzahl von Änderungsvorschlägen wird es absehbar eine große Mehrheit für echte Verbesserungen des bestehenden Regelwerkes geben, die auch in der Plenarabstimmung Bestand haben wird.
Berichtsentwurf: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/EMPL-PR-730043_DE.pdf