Politische Berichte Nr.4/2022 (PDF)21a
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Leseempfehlung: „Fluchtpunkte der Erinnerung …“

Natan Sznaider ist als Soziologe in Tel Aviv tätig. In seinem Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung – Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus“ befasst er sich mit dem Verhältnis kolonialer Greueltaten und nationalsoziastischem Judenmord in der globalen Erinnerungskultur unterschiedlicher Opfergruppen.

Olaf Argens, Schmitten

Natan Sznaider fragt, ob es möglich ist, aller Opfer zu gedenken, ohne Geschichte zu relativieren, und untersucht Argumente, die schon früher unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs, des Holocaust und der Unabhängigkeitsbewegungen vorgetragen wurden.

Er beginnt mit der Diskussion um den kamerunischen Theoretiker des Postkolonialismus Achille Mbembe. Dieser hatte 2015 den Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München für eine Übersetzung seines Buches „Kritik der schwarzen Vernunft“ erhalten. In 2020 forderte dann u. a. der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben, Felix Klein, dazu auf, Mbembe als Festredner nicht mehr einzuladen, weil er antisemitische Thesen vertrete. Mbembe hatte das zurückgewiesen und warf Klein Rassismus vor. Szaider stellt diesen Streit in den Zusammenhang einer Diskussion, deren Anfänge weit zurückliegen.

Er bereitet die Debatten auf, indem er sich mit Hannah Arendt, Claude Lanzmann, Franz Fanon, Jean Amery, Albert Memmi sowie Edward Said befasst. Er beginnt den Rückblick mit den Forschungen des jüdischen Soziologen Karl Mannheim, einem Begründer der Wissenssoziologie in der Weimarer Republik. Mannheim wollte soziologisch verstehen, warum Gewissheiten der Tradition ihre Gültigkeit verlieren und partikuläre Perspektiven zu allgemeingültigen Wahrheiten werden, die sich ausschließen.

In einem weiteren Kapitel behandelt er die Folgen der Dreyfus-Affäre. Für die politische Philosphin und jüdische Aktivistin Hannah Arendt war die Affäre und der damit verbundene wachsende Antisemitismus der Anfang des totalitären 20. Jahrhunderts. Die Konsequenz der Auslöschung jüdischen Lebens war für sie die Desintegration. Juden sollten bewusst eine Minderheit bleiben und nicht länger versuchen, sich zu assimilieren. Die Gründung des Staates Israel wurde dann das Kriterium für eine neue Ethik: Nie wieder wir. Während es sich aus arabischer Perspektive bei den Juden um weiße Europäer handelt, die ein Land erobern, erleben die Juden diese Auseinandersetzungen als Fortsetzung der jüdischen Leidensgeschichte. Sie sind keine weißen Europäer, sondern eine um Befreiung kämpfende Minderheit. Universalismus oder Partikularismus? Menschenrechte oder nationale Rechte?

In der Auseinandersetzung mit Arendt weist Sznaider auf einen Gesichtspunkt hin, den sie in ihrem Buch Die Ursprünge des Totalitarismus (1952) entwickelt hatte und den der postkolonialistische Diskurs später aufgreift: Der vernichtende rassistische Blick der Weißen auf die Afrikaner sei später wie ein Bumerang als vernichtender nationalsozialistischer Blick des Westens auf die Juden zurückgekehrt.

Claude Lanzman, Schöpfer einer einzigartigen Dokumentation über den Holocaust, war ein enthusiastischer Verteidiger Israels und der Singularität der Shoa. Der Psychiater Franz Fanon, in Martinique geboren, war ein Theoretiker und Aktivist der Entkolonialisierung. Für Sznaider sahen sich beide jeweils als Jude und als Schwarzer durch den französischen Universalismus verraten.

Der Schriftsteller Alber Memmi, in Tunis geboren, ein nichtweißer „kolonialisierter Jude“ aus Nordafrika, war Zionist, Jude und Araber sowie Franzose. Er stand in gewisser Weise quer, indem er kritisierte, dass der antikolonialistische Kampf verstärkt chauvinistische Züge trüge und Juden aus Nordafrika zur Flucht zwänge.

Edward Said erzählt die Geschichte aus der Perspektive der Palästinenser. Für Sznaider avanciert der Heimatverlust bei ihm zu einem Grundbegriff des Postkolonialismus. Er will die jüdisch-zionistische Erzählung der Gründung Israels nicht akzeptieren, würde darin aber keinen Antisemitismus sehen. Der in den USA lebende Literaturprofessor bezieht sich immer wieder auf die universellen Begriffe des Humanismus und der Menschenrechte.

Sznaider resümiert: „… weder der jüdische Partikularismus noch postkolonialistische Befindlichkeiten taugen als Alternativen für den aufklärerischen Geist. Vielmehr stehen diese Beschreibungen der Wirklichkeit im ständigen kritischen Dialog mit dem Universalismus der Aufklärung, der befreien kann, durch diese Befreiung aber auch die eigenen Identitäten einschränkt.“