Politische Berichte Nr.4/2022 (PDF)24
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Vom Schandmal zum Mahnmal

Die Wittenberger „Judensau“ bleibt — erst einmal

01 Bundesgerichtshof zur Wittenberger Judensau
02 Selbstkritische Erklärungen der Kirchen zum Antijudaismus
03 Der Diskurs innerhalb der Kirche hat begonnen
04 Auch die betroffene Wittenberger Kirchengemeinde selbst hat mit Überlegungen und Beratung begonnen.

Karl-Helmut Lechner, Norderstedt

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit seinem Urteil vom 14. Juni 2022 (Az.: VI ZR 172/20) entschieden: Die abscheuliche antijüdische Darstellung an der Choraußenwand der Stadt- und Pfarrkirche St. Marien in Wittenberg darf, unter rechtlichen Gesichtspunkten, so bleiben wie sie ist. Denn durch die „Kontextualisierung“, d.h. durch ergänzende Tafeln, mit denen sich die Kirchengemeinde seit 1988 versucht von diesem Schandmal zu distanzieren, sei — zumindest formal — aus dem Schandmal ein Mahnmal geworden. Es geht um die sogenannte „Judensau“, die erkennbar Rabbiner darstellt, die auf dem Relief gleichsam „Schweinepriester“ sind, die an den Zitzen eines Schweins trinken und ihm in den Hintern schauen — und in diesem Schwein erkennen sie „Ha-Schem Ha-Mephorasch“, den mit dem „ausdrücklich festgelegten Namen“ bezeichneten Gott der Judenheit. Mit Hohn und Spott wird in dieser Figur aus dem Jahre 1390 dargestellt: jüdische rabbinische Gelehrte verehren, wenn sie Gott verehren, in Wahrheit nur ein Schwein. „Eine schlimmere Form der Polemik – Judentum als Götzenverehrung, nicht als Gottesverehrung — kann man sich auch im Mittelalter, das grobe Polemik liebte, kaum vorstellen“, so beschreibt Christoph Markschies in „ZeitZeichen“1 diese Figur. Dabei handelt es sich mit der Kirche St. Marien nicht um irgendein Gotteshaus, sondern das ist die Kirche, in der Martin Luther (1483 bis 1546) gepredigt hat und in der der berühmte „Reformationsaltar“ von Vater und Sohn Cranach steht.

In den Politischen Berichten (4/2020, S.26 ff.)2 hatten wir seinerzeit bereits ausgiebig die gesellschaftlichen und religionspolitischen Hintergründe dargestellt. Auch verzichten wir ausdrücklich auf die wiederholte Abbildung dieser Wittenberger Schmähfigur. Wer sie sich dennoch noch einmal anschauen will, sei auf diesen Link verwiesen:3 Dafür zeigen wir einen Holzschnitt von 1493, der die damalige beabsichtigte Wirkung dieser antijüdischen Propaganda zeigt: Die Verbrennung von Juden. Zudem zeigen wir das Titelblatt der Antijüdischen Hetzschrift von Martin Luther aus dem Jahre 1543 „Vom Schem Hamphoras: Und vom Geschlecht Christi“. Nach dem Tode Luthers wurde 1570 die „Judensau“ mit diesen Worten mit in Gold grundierten Lettern verziert.

01

Bundesgerichtshof zur Wittenberger Judensau

Urteil vom 14. Juni 2022 – VI ZR172/20 (4)

Der für das allgemeine Persönlichkeitsrecht zuständige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass das an der Außenfassade der Wittenberger Stadtkirche angebrachte Sandsteinrelief — die „Wittenberger Sau“ — nicht entfernt werden muss.

Die Leitsätze:

a) Durch eine Darstellung, die das jüdische Volk und seine Religion, mithin das Judentum als Ganzes verhöhnt und verunglimpft, wird der Geltungs- und Achtungsanspruch eines jeden in Deutschland lebenden Juden angegriffen.

b) Der rechtsverletzende Zustand, der von einem der Diffamierung und Verunglimpfung von Juden dienenden Sandsteinrelief ausgeht, kann nicht allein durch Entfernung des Reliefs, sondern auch dadurch beseitigt werden, dass sich der Störer von dem im Relief verkörperten Aussagegehalt distanziert, dieses kontextualisiert und in eine Stätte der Mahnung zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zum Holocaust umwandelt.

c) Der Abwehranspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB ist auf die Beseitigung des andauernden rechtswidrigen Störungszustands, nicht hingegen auf eine bestimmte Handlung gerichtet. Es muss daher grundsätzlich dem Schuldner überlassen bleiben, wie er den Störungszustand beseitigt.

Aus der Begründung: „Isoliert betrachtet verhöhnt und verunglimpft das Relief das Judentum als Ganzes. Durch eine solche Darstellung wird unmittelbar auch der Geltungs- und Achtungsanspruch eines jeden in Deutschland lebenden Juden angegriffen. Denn diese Personengruppe ist durch den nationalsozialistischen Völkermord zu einer Einheit verbunden, die sie aus der Allgemeinheit hervortreten lässt. Die in dem beanstandeten Relief jedenfalls bis zur Verlegung der Bronzeplatte zum Ausdruck kommende diffamierende Aussage ist der Beklagten zuzurechnen. … die Beklagte hat sich durch ihren Gemeindekirchenrat im Jahr 1983 entschieden, das Relief im Rahmen von Sanierungsarbeiten an der Stadtkirche an seinem Ort zu belassen und zu sanieren.

Die Beklagte hat den jedenfalls bis zum 11. November 1988 bestehenden rechtsverletzenden Zustand aber dadurch beseitigt, dass sie unter dem Relief eine … in Bronze gegossene Bodenplatte mit der oben dargestellten Inschrift enthüllt und in unmittelbarer Nähe dazu einen Schrägaufsteller mit der Überschrift ‚Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg‘ angebracht hat, der den historischen Hintergrund des Reliefs und die Bronzeplatte näher erläutert.“

Sie hat „… das bis dahin als Schmähung von Juden zu qualifizierende Sandsteinrelief — das ‚Schandmal‘ — in ein Mahnmal zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zur Shoah umgewandelt und sich von der diffamierenden und judenfeindlichen Aussage — wie sie im Relief bei isolierter Betrachtung zum Ausdruck kommt — distanziert.“

„… Die Umwandlung des ‚Schandmals‘ in ein Mahnmal und in ein Zeugnis für die Jahrhunderte währende judenfeindliche Geisteshaltung der christlichen Kirche ist eine der Möglichkeiten, den rechtsverletzenden Aussagegehalt zu beseitigen. Aber auch wenn man annähme, die Beklagte habe sich durch die Enthüllung der in Bronze gegossenen Bodenplatte und die Aufstellung des Schrägaufstellers noch nicht hinreichend von der im Relief bei isolierter Betrachtung zum Ausdruck kommenden Aussage distanziert, könnte der Kläger nicht die — allein begehrte — Entfernung des beanstandeten Sandsteinreliefs verlangen. Bestehen, wie im Streitfall, mehrere Möglichkeiten, eine rechtswidrige Beeinträchtigung für die Zukunft abzustellen, muss es dem Schuldner überlassen bleiben, wie er den Störungszustand beseitigt.“

02

Selbstkritische Erklärungen der Kirchen zum Antijudaismus

„Hüte dich nur und nimm dich sehr in Acht, dass du die Ereignisse und Begebenheiten nicht vergisst, die du mit eigenen Augen gesehen, dass sie dein Leben lang nicht aus deiner Erinnerung verschwinden, vielmehr erzähle davon deinen Kindern und den Kindern deiner Kinder!“

Debarim nach der hebräischen Bibel bzw. Deuteronomium 4, 9; zitiert nach „Dialog — Du Siach“, 59, April 20055

„Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung“, dieser Ausspruch des polnischen Juden und Chassiden Baal Schem-Tow, Gründer des Chassidismus (1700–1760), „pointiert Sinn und Absicht des heutigen Gedenkens: Das Entsetzen über die Abgründe menschlichen Handelns und speziell die Scham der Enkel und Urenkel über die Taten und die Täter dürfen und sollen nicht verloren gehen im Gedächtnis der Gegenwart. Nur wer um die Abgründigkeit des Menschen und auch die Macht des Dämonischen weiß, wird Achtung vor dem Mitmenschen und die unveräußerliche Menschenwürde aller zu verteidigen wissen.“

Aus der Erklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), 2005; zitiert nach „Dialog — Du Siach“, Nr.: 59, April 20055

„Lass die Christen der Leiden gedenken, die dem Volk Israel in der Geschichte auferlegt wurden. Lass sie ihre Sünden anerkennen, die nicht wenige von ihnen gegen das Volk des Bundes und der Verheißungen begangen haben.“

Papst Johannes Paul II. im Jahre 2000; Schuldbekenntnis im Verhältnis zu Israel6

„Nicht nur durch, ‚Unterlassen und Schweigen‘ ist die Kirche schuldig geworden. Vielmehr ist sie durch die unheilvolle Tradition der Entfremdung und Feindschaft gegenüber den Juden hinein verflochten in die systematische Vernichtung des europäischen Judentums“.

9. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), 2000 (7), Seite 221

03

Der Diskurs innerhalb der Kirche hat begonnen

Dazu ein Auszug aus der Stellungnahme von Christoph Markschies in „ZeitZeichen“.1 Er ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Professor für Antikes Christentum an der Humboldt-Universität zu Berlin:

„Ich weiß nicht, ob man überhaupt Kunst, die man als problematisch empfindet, durch Kontextualisierung auf Stelen mit Erläuterungstexten und weitere Kunstwerke zu Gedenk- und Erinnerungsorten umgestalten kann. … Die amerikanischen Truppen haben das Hakenkreuz auf der Haupttribüne des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes nicht erläutert und auch nicht kontextualisiert, sondern gesprengt. Ich weiß aber inzwischen, dass es trotz anerkennenswerter Bemühungen der Kirchengemeinde nicht gelungen ist, die ungeheuerliche Gotteslästerung der sogenannten Wittenberger Judensau zu kontextualisieren und durch eine Erläuterung aus einer Beleidigung zu einem Gedenkort zu machen. Die Erläuterung auf der Bodenplatte ist theologisch so unglücklich formuliert, dass man sie wiederum für lästerlich und beleidigend halten kann. Daraus folgt meiner Ansicht nach glasklar: Ein Schwein unter dem hochheiligen Gottesnamen bleibt eine schlimme Gotteslästerung für Juden und gehört daher von dem Chorhaupt der Kirche entfernt. Das Relief droht, die Glaubwürdigkeit der Verkündigung dieser Kirche zu beschädigen, allzumal, wenn man sich die enge Verbindung seiner frühneuzeitlichen Präsentation mit Martin Luther klarmacht. Ich bin sicher, dass sich in Wittenberg ein geeigneter Ort für seine Präsentation findet – das beeindruckende reformationsgeschichtliche Museum in Luthers ehemaligem Wohnhaus wäre beispielsweise ein guter Platz. Was in die leere Stelle eingefügt werden sollte, wie man mit der Inschrift im Gedenkzeichen von 1988 umgehen sollte, die vielleicht gleich einfach mit ins Museum gehört – alles das sollte man in Ruhe und vor allem nicht unter Christenmenschen allein diskutieren. Man sollte aber bald damit beginnen. Und als erstes schleunigst das Relief von der Kirchenwand nehmen.“

04

Auch die betroffene Wittenberger Kirchengemeinde selbst hat mit Überlegungen und Beratung begonnen.

Dazu ein Auszug aus der „Mitteldeutschen Zeitung“ vom 20. Juli 2022:8

Unter der Überschrift „Neuer Umgang mit Schandmal? Gremium äußert sich nach BGH-Urteil“ berichtet sie aus dem Leitungsgremium der Gemeinde, es habe bekräftigt, den „bisherigen Weg der Neukonzeption eines Mahnmals gegen Antijudaismus und Antisemitismus konsequent weiterzugehen“. Sogar ein Ortswechsel der Plastik werde nicht ausgeschlossen.

Zwar verweist der Vorsitzende des Gemeindekirchenrates Bielig darauf, dass nach dem BGH-Urteil die Schmähplastik aus dem 13. Jahrhundert als Teil einer Stätte der Mahnung an ihrem Ort bleiben darf.

„Viele Einzelgespräche, öffentliche Wortmeldungen und begleitende Briefwechsel“ hätten klargemacht, „dass eine deutlichere Distanzierung der Kirchengemeinde vom Antisemitismus der Plastik nötig ist“, so Bielig.

Die Gemeinde wolle unterstreichen, dass sie „trotz juristischen Freispruchs auch ihre gesellschaftliche Verantwortung im Umgang mit der Schmähplastik ernst nimmt“.

Abb. (PDF): Titelblatt von Martin Luther, „Vom Schem Hamphoras: Und vom Geschlecht Christi“ Wittenberg 1543

Aus: Thomas Kaufmann: „Luthers ‚Judenschriften’“, Tübingen 2011

Abb. (PDF): Michael Wolgemut (1434 bis 1519) aus Nürnberg: „Judenverbrennung“,

Aus: Helmut Eschwege: „Die Synagoge in der deutschen Geschichte“, Wiesbaden 1988

(1) https://www.zeitzeichen.net/node/9855 (2) . https://www.linkekritik.de/fileadmin/pb20-04/pb20-04-26-judenhass-in-stein-lechner.html (3) https://www.stadtkirchengemeinde-wittenberg.de/aktuelles/nachrichten/die-staette-der-mahnung.html#gallery (4) https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=130536&pos=0&anz=1 (5) https://drive.google.com/drive/folders/1v7xTVli9R9R38BhQvNiiQ6HjpjGzbDAY (6) https://alt.nuntiatur.de/VaticanEXPO/EXPOFiles/EXPO_VATICAN_DE/Dokumente/G_Frieden/Mea_Culpa.doc (7) https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/christen_und_juden_I-III.pdf (8) https://www.mz.de/lokal/wittenberg/wird-die-judensau-jetzt-doch-abgenommen-3409003