Politische Berichte Nr.4/2022 (PDF)26a
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

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Frieden schaffen ohne Waffen?

Martin Fochler, München

01 Erdgaslieferungen trotz Sanktionen. Ein Schritt der Deeskalation?
02 Die neuen Abkommen wegen Getreide- und Düngemittelausfuhr über das Schwarze Meer – ein Hoffnungsschimmer?
03 Damit ist eine übergreifende Verhandlungssituation noch nicht erreicht
04 Wie kann sich die Lieferung weitreichender Waffen auswirken?

In Meinungsumfragen spricht sich eine starke Minderheit – in den östlichen Bundesländern sogar eine Mehrheit – gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine aus. Die Waffen sollen schweigen, die Hoffnung auf Wiederauferstehung der lukrativen Wirtschaftsbeziehungen mit der Russischen Föderation ist nicht erloschen. Unter diesen Rahmenbedingungen sprach sich der Erfurter Parteitag der Linken Ende Juni in einem Leitantrag generell gegen Waffenlieferungen aus. Ein Änderungsantrag aus den Reihen der Initiative Solidarische Linke, der sie ermöglichen wollte, blieb mit ungefähr einem Drittel der Delegiertenstimmen in der Minderheit:

Abb. (PDF): Faksimile des Antrags

Wenn die Linke die Zustimmung zu Waffenlieferungen der BRD für alle denkbaren Situationen unterschiedslos ausschließt, wird das die Bundesregierung nicht beeindrucken. Der Linken geht es um eine langfristige Verschiebung der öffentlichen Meinung. Für eine solche Strategie wäre es aber wichtig, sich auf Stimmen aus den betroffenen Ländern berufen zu können. Die Gruß- und Gastreden, die Oxana Timofeeva, Russische Föderation, und Olena Slobbodian, Ukraine, an den Parteitag richteten, drucken wir in dieser Ausgabe vollständig ab. (1) Beide stellen klar, dass die Aggression der RF militärisch gestoppt werden muss, dass die Ukraine dabei Unterstützung braucht und verdient. Immerhin hat die Parteitagsregie diese kritischen Stimmen zu Wort kommen lassen, wenngleich der Beitrag aus der Ukraine erst gegen Ende das Parteitags eingeblendet wurde, und Teile des Parteitagspublikums – wie Teilnehmende berichten – ihren Unwillen, sich diese Position in Ruhe anzuhören, recht laut werden ließen.

Für die Verständigung mit der Anti-Kriegs-Opposition in der Russischen Föderation und der ukrainischen Linken ist die Parteitagsposition ein Hindernis. So wird es nötig, zu diskutieren, wie die Unterstützung des militärischen Widerstandes der Ukraine wirkt.

Signalisieren die reduzierten, aber doch wieder aufgenommenen Erdgaslieferungen eine Art Einlenken der RF?

Unter welchen Voraussetzungen konnte das jüngst von hohen Repräsentanten der RF und der Ukraine unterzeichnete Abkommen zur Ermöglichung von Getreideexporten verhandelt werden?

01

Erdgaslieferungen trotz Sanktionen. Ein Schritt der Deeskalation?

Anlässlich der Unterbrechung der Nordstream-1-Pipeline kam die Befürchtung auf, die RF werde die Lieferungen gleich ganz einstellen, was zweifellos eine enorme, schlagartige Belastung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur der BRD auslöst hätte. In der Eskalationslogik von Sanktionen und Gegensanktionen (2) – Verfahren des Wirtschaftskriegs – hätte das gelegen. Ist die Wiederaufnahme der Lieferungen als ein Schritt der Deeskalation zu interpretieren? Zu beachten ist die technisch-wirtschaftliche Situation. Dazu zitiert die Nachrichtenseite Telepolis schon im April Jurij Witrenko, den Chef des ukrainischen Energiekonzerns Naftogaz:

„Wenn Sie Öl und Gas fördern, können Sie die Bohrungen nicht einfach abschalten. Die Flüsse können nicht wesentlich reduziert werden, und dann muss man das Gas, das man fördert, verbrennen. Ich würde davon ausgehen, dass Öl und Gas weiter fließen werden.“ (April 2022).

Offensichtlich, so Telepolis, gebe es vor Ort weder genügend große Gasspeicher noch für die Lieferung z.B. an China erforderliche Pipelines. (3)

Unter diesen Umständen ist es für die RF technisch geboten und wirtschaftlich sinnvoll, den Gasstrom nach Westen nicht zu unterbrechen, sondern bloß zu drosseln, von den dabei steigenden Preisen zu profitieren und die gewonnen Zeit zu nutzen, um neue Abnehmer zu erreichen. Die diplomatischen Bemühungen der RF, ihr wirtschaftlich-militärisches Beziehungssystem mit den Mächten des asiatischen Kontinents auszubauen, sind offenkundig. Die Umlenkung derart riesiger Güterströme und Handelsbeziehungen ist ein langwieriger Prozess. Das Mittel der vollständigen Unterbrechung der Erdgaslieferung zur strategischen Schwächung und eventuellen Spaltung von Staaten westlich der Front kann die Russische Föderation ergreifen, wenn und soweit sie andere Abnehmer angeschlossen hat. Die Bundesregierung wie die ganze EU stellen sich darauf ein, ihre Energieversorgung unabhängig von Lieferungen aus der RF gewährleisten zu müssen.

Die Militärgrenze, die sich durchs östliche Europa zieht, verfestigt sich zu einer undurchlässigen Scheidelinie des Wirtschaftens, des wissenschaftlichen Austausches, der technischen Zusammenarbeit. An dieser Front ist der Prozess der Blockbildung und weltweiten Polarisierung Tatsache. Eine Entmilitarisierung dieser Grenze wird die langwierige Aufgabe von Generationen sein. Zunächst muss sich klären, wie lange die RF ihren Eroberungszug fortsetzen kann und an welcher geografischen Linie ihre Macht eine Grenze findet.

02

Die neuen Abkommen wegen Getreide- und Düngemittelausfuhr über das Schwarze Meer – ein Hoffnungsschimmer?

Am 22.7. führten Verhandlungen unter Vermittlung der UNO und der Türkischen Republik zu einem von der RF und der Ukraine unterzeichneten Vertrag, der auf 120 Tage befristet der Ukraine die Ausfuhr von Getreide auf dem Seeweg ermöglichen soll. Parallel dazu wurde zwischen UNO und RF eine Vereinbarung getroffen, nach der sich die UNO bei sanktionierenden Staaten dafür einsetzen wird, Nahrungs- und Düngemittel aus der RF von Sanktionen auszunehmen. (4) Wie ist diese Verhandlungssituation entstanden?

Zu Beginn der Aggression hatte die Seemacht der Russischen Föderation auf dem Schwarzen Meer die Kontrolle. Die Ukraine musste die Schifffahrt einstellen, ihre Küsten schützte sie durch Seeminen. Seit Ende Mai hat die Ukraine Land-See-Raketen aus Nato-Beständen erhalte. (5) Ende Juni räumte die RF ihre Stellungen auf der in einer frühen Phase des Krieges von ihr eroberten Schlangeninsel, allerdings dauern Luftschläge an. Gleichzeitig zur Unterzeichnung des Getreide-Export-Vertrages demonstriert die Flotte ihre Fähigkeit zu Schlägen auf den Hafen von Odessa. – Die Flotte der RF bleibt gleichwohl ständig von Anti-Schiffs-Raketen bedroht, ihre Operationen sind eingeschränkt. Um die vollständige Seeblockade der Ukraine wieder zu erlangen, müsste die RF die Küste erobern, wozu sie die Kräfte zur See nicht hat und zu Lande erst noch bereitstellen müsste.

So wurden für die RF Verhandlungen interessant, in denen sie der Ukraine die Ausfuhr der Ernte per Schiff zugestand, dabei aber eine Teilblockade der Ukraine aufrechterhalten konnte. Obwohl das Abkommen der Ukraine nicht den ungehinderten Zugang zu den Weltmeeren öffnet, hat sich deren Regierung sofort auf diese Verhandlungen eingelassen. Denn die Ernte des letzten Jahres muss raus aus den Speichern, die neue Ernte steht an. Der Abtransport der alten Ernte auf dem Landweg ist teuer und stößt an Kapazitätsgrenzen. 120 Tage Frist zum Abtransport auf dem Seeweg würden der ukrainischen Landwirtschaft ausreichen, um die Speicher zu räumen, die anstehende Ernte unterzubringen und Vorbereitungen für die Feldbestellung zu einzuleiten.

Nicht zu unterschätzende Vorteile bringt das Abkommen auch der RF. International, weil sie sich aus der Rolle der Verursacherin von Hungerkatastrophen lösen kann. Auch macht sie mit der Fürsprache der UNO für ihren Düngemittelexport nicht nur ein Geschäft, sondern auch einen Punkt gegen die Sanktionspolitik. Schließlich kann sie sich der Bevölkerung der Ukraine als eine Hegemonialmacht präsentieren, die immerhin auf die Belange der Landwirtschaft Rücksicht nimmt. Eine Politik, die damit spielt, das Getreide in den Speichern verkommen und die neue Ernte auf dem Halm verfaulen zu lassen, würde jeden Herrschaftsanspruch diskreditieren.

UNO-Generalsekretär Gutiérrez sieht in den Abkommen einen Hoffnungsschimmer. (6) Diese Position ist durch folgende Punkte untermauert: Erstens ist in die Blockade der Seewege der Ukraine durch die RF eine Lücke gerissen worden. Dies ist ein Schritt im Sinne der UN-Vollversammlung betreffs Unabhängigkeit der Ukraine. Zweitens ist die Gefahr von Hungersnöten durch Unterbrechung der Lieferwege, Güterverknappung und Teuerung gemindert.

Für die Ukraine ist die – wenn auch nur eingeschränkte – Öffnung der Seewege ein Erfolg. International, weil sie Lieferverträge einhalten kann und damit ihre Handlungsfreiheit unter Beweis stellt. Innenpolitisch, weil sie die Reproduktion der Landwirtschaft aufrechterhalten kann. Diese Situation konnte eintreten, da die Ukraine inzwischen militärische Mittel hat, die das Land keineswegs zum Kampf um die Hegemonie auf dem Schwarzen Meer befähigen, aber doch ermöglichen, einen solchen Anspruch der RF zu kontern.

03

Damit ist eine übergreifende Verhandlungssituation noch nicht erreicht

RF-Außenminister Lawrow hat zeitgleich zu dem Getreide-Vertragsabschluss als Kriegsziel den Regierungs- bzw. Regimewechsel in der Ukraine bekannt gegeben. Dazu treibt die RF ihre Militäroperationen nach Westen voran. Ihre Propaganda verweist immer wieder auf die in der Tat großen Reserven. Innere Widerstände beantwortet die Regierung Putin mit Zensur und Repression, sie sind vorhanden, einstweilen aber nicht stark genug, einen Kurswechsel der Regierung zu bewirken. Die Sanktionen treffen die Fähigkeiten der RF zur Kriegsführung nicht unmittelbar. Anders als im Konflikt über die Seeblockade hat sich die Aggression noch nicht festgefahren.

Die Nachrichten über die kriegsrechtlichen Maßnahmen der Regierung der Ukraine sind spärlich, aber nicht zu überhören. Die Amtsenthebung der Generalstaatsanwältin und des Leiters der Geheimdienste, die mit der Entlassung nachgeordneter Kräfte verbunden war, wurden mit den Vorwürfen von Duldung von Kollaboration, nachsichtiger Justiz in Sachen Kollaboration und sogar direktem Verratsverdacht begründet. Solche Maßnahmen werden die vielen, die in Politik und Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten für eine Anbindung der Ukraine an die RF eintraten, nicht unberührt lassen, und dieses Potential will Lawrows Ankündigung mobilisieren.

Die ukrainische Regierung sieht Kollaboration und Verrat gleich zu Anfang der Invasion beim Verlust des Gebietes um Cherson. So hatten die zurückweichenden ukrainischen Kräfte eine Brücke, die das am westlichen Ufer des Dnepr gelegene Cherson mit den Gebieten hin zur Krim verbindet, nicht gesprengt. Eine handfeste Tatsache, die einer Unzahl weiterer Vorwürfe und Gerüchte Halt gibt.

Inzwischen verfügt die Ukraine über weitreichende Waffen, die sie zu wirksamen (7) Angriffen auf diese Brücke und Hilfsbauwerke befähigt. Könnte die Ukraine die am westlichen Ufer des Dnepr gelegenen Stadt Cherson zurückgewinnen, so würde der sehr breite und schwer zu überwindende Unterlauf des Dnepr eine Demarkationslinie bilden, die von der Seite der RF nur durch eine gigantische Anstrengung verschoben werden könnte.

04

Wie kann sich die Lieferung weitreichender Waffen auswirken?

Selbst wenn die Ukraine Cherson zurückgewinnt, indem sie die Verbindungswege nach Osten hin unterbricht, so dass die RF ihre Truppen auf das östliche Ufer des Dnepr zurücknehmen muss, bliebe immer noch die Möglichkeit, an anderen Abschnitten der Front Angriffe zu führen. Die strategische Überzahl an mobilisierbaren Geräten und Menschen liegt vor.

Nun hat der bisherige Widerstand erwiesen, dass aus naher Distanz eingesetzte Panzerabwehrwaffen das Vorrücken erschweren, wenn sie auch nicht ausreichen, starke Militärverbände aufzuhalten oder gar zurückzuschlagen. Inzwischen haben die ukrainischen Streitkräfte Lenkwaffen und weitreichende Artillerie erhalten, sie können nun die Nachschubwege des Aggressors treffen; es finden sich auch glaubhafte Presseberichte über die Verletzlichkeit der eingesetzten russischen Panzer.

Zum Redaktionsschluss (1.8.2022) ist noch nicht sicher, ob die Getreidelieferungen wirklich in Gang kommen. Es zeichnet sich auch ab, dass der Einsatz weiterreichender Waffen zu Kollateralschäden führen kann. Die ukrainische Regierung fordert die Bevölkerung mit dramatischen Apellen auf, die Kampfzonen zu verlassen, was vielfach unmöglich sein dürfte. Auch die Angriffe auf die eigene Infrastruktur – Zerstörung von Brücken und Einrichtungen – sind bitter.

Dennoch ist eine Situation denkbar, dass weitere Waffenlieferungen die ukrainische Seite befähigen, zahlenmäßig weit überlegene Invasionstruppen auf Distanz und in Schach zu halten, gleichzeitig aber nicht ausreichen, diese zahlenmäßig Übermacht in die Flucht zu schlagen. In einer solchen Situation könnte es für die RF sinnvoll werden, ein Angebot zu Verhandlungen über eine Demarkationslinie auf den Tisch zu legen, was die Ukraine kaum ausschlagen könnte.

Es ist nicht leicht zu verstehen, dass unter Fortbestehen feindlicher Absichten – hier der Eroberung der Ukraine – eine Art Patt eintreten kann, auch wenn die eine Seite, hier die Russische Föderation der anderen strategisch überlegen ist. Diese Möglichkeit entwickelt zu Beginn des 19ten Jahrhunderts Clausewitz in seinem epochalen Werk „Vom Kriege“ (8).

Im Kern geht es darum, dass zum Angriff ganz erheblich überlegene Kräfte erforderlich sind, das gilt für einzelne Kampfhandlungen wie für die Strategie, und so kommt Clausewitz im fünften Kapitel des sechsten Buches „Charakter der strategischen Verteidigung“ (8, dort S. 257f.) zu dem vielzitierten Schluss:

„… es sollen gerade die Schwachen, der Verteidigung Unterworfenen, immer gerüstet sein und nicht überfallen werden; so will es die Kriegskunst.“

In dieser Konstellation steckt auch die Möglichkeit, in einer Welt, in der militärische Konflikte angelegt sind und tatsächlich ausgetragen werden, zu einer Begrenzung von Rüstung zu kommen. Deren leitende Norm wäre „strategische Nichtangriffsfähigkeit“, die ermöglichen würde, Aggressionsopfern Beistand zu leisten und auf strategische Angriffe zielende Rüstung politisch zu bekämpfen – mit Blick auf die neue Blockdoktrin der Nato dringend (siehe auch Seite 4 dieser Ausgabe).

Abb. (PDF): Faksimile Änderungsantrag

Abb. (PDF): Karte. Karte: www.bbc.com/news/world-europe-62328682

1| https://www.die-linke.de/partei/parteidemokratie/parteitag/erfurter-parteitag-2022/live/reden/ 2| Sanktionen gegen Russland und russische Gegensanktionen https://russland.ahk.de/informationen/uebersicht-sanktionen 3| https://www.heise.de/tp/features/Den-russischen-Gashahn-einfach-abdrehen-6677395.html 4| https://www.dw.com/de/ukraine-aktuell-abkommen-zum-getreideexport-ist-unterzeichnet/a-62560114 5| https://www.fr.de/politik/ukraine-krieg-anti-schiff-raketen-usa-waffenlieferungen-russland-waffen-hafenblockade-schwarzes-meer-news-zr-91559832.html (u.v.a.m.) 6| https://www.boerse-online.de/nachrichten/aktien/un-chef-guterres-erleichtert-ueber-loesung-fuer-getreide-exporte-1031607993 7| https://www.deutschlandfunk.de/bruecken-bei-cherson-zerstoert-russische-truppen-unter-druck-102.html 8| https://www.clausewitz-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2014/12/VomKriege-a4.pdf