Politische Berichte Nr.4/2022 (PDF)29
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Lesehinweis: „Tod aus Verzweiflung“

Anne Case, Angus Deaton: „Tod aus Verzweiflung“ ist im Plassen Verlag erschienen

Bruno Rocker, Berlin

Wie hat es nur so weit kommen können? Das ist wohl die häufigste Frage im Zuge der Aufarbeitung der Präsidentschaft von Donald Trump. Welche Entwicklungen in der amerikanischen Gesellschaft werden verantwortlich gemacht für die weiterhin prekäre politische Situation in den USA.

Über einen Teil der dramatischen Veränderungen in der arbeitenden Bevölkerung haben Anne Case und Angus Deaton, zwei emeritierte Wirtschaftswissenschaftler mit einer Professur an der Princeton University, 2020 eine Untersuchung veröffentlicht, die jetzt 2022 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Tod aus Verzweiflung“ erschienen ist.

Darin ist die Kernaussage enthalten, dass die Vereinigten Staaten geradezu von einer „Epidemie des Verzweiflungstodes“ heimgesucht wurden und werden. Allein 2017 starben daran 92 weiße Frauen und Männer zwischen 45 und 54 Jahren pro 100 000. Das ist dreimal so viel wie 1999. Das Autorenpaar definiert „Verzweiflungstod“ als Sammelbegriff für Selbstmorde, Tod durch Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit einschließlich Medikamentenmissbrauch, also die bereits bis dahin gut dokumentierte Opioid-Epidemie.

Im Ergebnis sinkt in den Vereinigten Staaten die durchschnittliche Lebenserwartung, während in den anderen westlichen Industriestaaten die Lebenserwartung weiter steigt:

Sozialversicherungen in notwendiger Ausgestaltung fehlen …

Das Autorenpaar macht für die Entwicklung zerrüttete Familien, Perspektivlosigkeit, den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften und den allgemeinen Werteverfall in der amerikanischen Gesellschaft verantwortlich. Insbesondere geht es ihnen aber um den räuberischen Gesundheitssektor, der über extrem hohe Arzt-, Krankenhaus- und Arzneimittelkosten für Umverteilung von unten nach oben sorgt und damit Lohn raubt und also auch eine Schwächung der Bildungsmöglichkeiten verursacht.

Für Interessierte enthält das Buch von Anne Case und Angus Deaton zahlreiche Ausarbeitungen, Grafiken und Erklärungen. Für die weitere Entwicklung in den USA werden verschiedene politische Maßnahmen zur Diskussion gestellt.

Aus europäischer oder deutscher Sicht wird durch die vorliegende Untersuchung bestätigt, wie wesentlich die Sicherung und Erhalt eines funktionierenden Sozialversicherungssystems für die Entwicklung der arbeitenden Bevölkerung ist. Die Versicherung gegen die Folgen der Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit oder Alter, die Versicherung gegen die Folgen des Arbeitsplatzverlustes ist in der USA in der notwendigen Ausgestaltung schlicht nicht vorhanden. Wirtschaftlicher und psychologischer Stress verursachen gesundheitliche Probleme oder führen gar bis zum Tod aus Verzweiflung. Umgang mit Strukturwandel und Transformation bis hin zur statussichernden Förderung des Erwerbs einer Weiterbildung oder neuen Ausbildung fehlen in den USA sowieso. Rechtsextreme Populisten und Autokraten wissen Unzufriedenheit und Verzweiflung für ihre Zwecke zu nutzen. Das gilt nicht nur für Donald Trump.

Abb. (PDF): Lebenserwartung von Neugeborenen und Gesundheitsausgaben pro Kopf von 1970 bis 2017 in ausgewählten Ländern (Lebenserwartung in Jahren, Ausgaben in US-Dollar, inflationsbereinigt). Ablesebeispiel: In den USA betrug die Lebenserwartung 1970 ca. 71 Jahre bei Ausgaben von rund 1800 Dollar (Startpunkt der USA-Kurve). 2017 war die Lebenserwartung ca. 78 Jahre bei Ausgaben von mehr als 9000 Dollar pro Kopf (Endpunkt der Kurve). Das Schweizer Radio und Fernsehen hat eine Fassung der Grafik veröffentlicht, die animiert den Zusammenhang deutlicher macht, https://www.swissinfo.ch, Suche „Geld, Lebenserwartung“.