Politische Berichte Nr.4/2022 (PDF)30
Kalenderblat

* 30-kalenderblatt-europa-1961-sozialcharta-detscher-3.html * 31-kalenderblatt-europa-manifest-ventotene-giaculli-3.html

18. Oktober 1961 Europa

Die Europäische Sozialcharta wird beschlossen

È arrivato il momento in cui dobbiamo sapere come scartare i vecchi fardelli, come essere pronti per il nuovo mondo che sta arrivando, che sarà così diverso da quello che abbiamo immaginato».

„Heute ist der Augenblick gekommen, um die alten drückenden Lasten abzuwerfen, und bereit und offen zu sein für das Neue, das so ganz anders sein wird, als man es sich vorgestellt hatte“.

Mit diesem Zitat aus dem Manifest von Ventotene hat Ursula von der Leyen vor dem Europäischen Parlament am 16. April 2020 für ein geschlossenes Vorgehen gegen die Covid-19-Pandemie geworben. Immer wieder beziehen sich Projekte der EU auf dieses Manifest. Die darin festgehaltenen Gedanken über „Die Krise der modernen Zivilisation“1, „Aufgaben der Nachkriegszeit: Die europäische Einigung“1 sowie „Aufgaben der Nachkriegszeit: Die Gesellschaftsreform“ sind Meilensteine auf dem Weg der heute in Europa gängigen Praxis – auch in Fragen der Absicherung gegen soziale Risiken.1

Eva Detscher, Karlsruhe, Rolf Gehring, Brüssel

60 Jahre Europäische Sozialcharta

Die Europäische Säule sozialer Rechte, die auf dem Gipfel in Göteborg von allen (damals noch) 28 Staaten der EU am 17. November 2017 verabschiedet wurde, bezieht sich ausdrücklich (Absatz 3 in der Präambel) auf die am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichnete Europäische Sozialcharta – ein Vertragsvorschlag des Europarats (Vertrags-Nr. SEV 035), aufgelegt zur Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten des Europarates.2 Das Unterzeichnen, Ratifizieren und Inkrafttreten ist seither einschließlich einer Revision von 1996 ein fortlaufender Prozess – Stand heute sind es 44 Unterzeichnerstaaten, davon haben 35 den Vertrag ratifiziert. Die Revision trug der veränderten gesellschaftlichen Praxis im Respekt vor vorangegangenen Fortentwicklungen des Arbeits- und Sozialrechts Rechnung.

Der Europarat (dieser sitzt seit 1949 in Straßburg und hat 46 europäische Staaten als Mitglieder, nachdem Russland am 25.2.22 ausgeschlossen wurde) spielt eine oft unterschätzte Rolle für das Auf-den-Weg-Bringen von Konventionen, die dann normierend wirken können. In Deutschland ist die Sozialcharta seit Mai 2021 in Kraft, solange hat es gedauert, bis die revidierte Version von 1996 hier ratifiziert wurde.

Ein langer Weg

Erst in der Zeit 1919 bis 1933 gab es „einen regen Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Staaten“.3 Zuvor „hatten sich nur wenige Staaten für einen sozialen Schutz der Bevölkerung interessiert und auch kein Interesse an einer Übernahme der Maßnahmen der Nachbarstaaten bekundet“,. obwohl „die Bedingungen in Bezug auf den Industrialisierungsstand sehr ähnlich waren“. Es kam zu einer „schlagartigen Verbreitung der Sozialversicherungen“. Ein Grund dafür war der Einfluss der 1919 gegründeten ILO, die alles unternahm, um „das Modell Bismarcks weltweit zu verbreiten“. Den entscheidenden Impuls aber gab der Beveridge-Bericht 1942 in Großbritannien: „… zum ersten Mal auf deutliche, ja sogar vereinfachte Weise (wurden) die verschiedenen Techniken zum Schutz gegen soziale Risiken zusammengefasst“, und der Schutz wurde der ganzen Bevölkerung zugestanden. „Beveridge entwickelte viele seiner Konzepte auf der Grundlage existierender Lösungen, aber sein Geniestreich war es eben, all diese Lösungen zusammenzufügen.“3 Die vielen Wegemarken in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen (Zünfte, Gewerkschaften, Kirchen, staatliche Einrichtungen usw.) wie Versicherungen, Versorgungen oder Fürsorge erhielten in Beveridges Konzept von „Sicherheit, Verantwortlichkeit und Freiheit“4 mit den drei Maßnahmen „allgemeine Kinderbeihilfen, … umfassenden Gesundheits- und beruflichen Wiedereingliederungsschutz und Wirtschaftspolitik, die der Massenarbeitslosigkeit vorbeugt“4, den Charakter eines Sozialsystems. In Großbritannien wurde daraus er u.a. der nationale Gesundheitsdienst NHS.

Demokratie braucht Menschen, die sie ausüben können – ohne Furcht vor Elend

„Das Projekt der Europäischen Sozialcharta (ESC) wurde am 16. April 1953 das erste Mal erwogen. Das Generalsekretariat des Europarats verfasste ein Memorandum…“ 3 Das neue daran war, dass es als eine „Fortsetzung der Aktivitäten des Europarats auf dem Gebiet der Menschenrechte betrachtet wurde“.3 Gabriella Battaini Dragoni, Stellvertretende Generalsekretärin des Europarats, Straßburg fasste zusammen: „Die in der Europäischen Sozialcharta garantierten wirtschaftlichen und sozialen Rechte sind Grundrechte, welche den in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten bürgerlichen und politischen Rechten entsprechen und diese ergänzen. In einer Zeit, in der die sozioökonomischen Rechte in Europa weniger gut geschützt sind, wie aus dem jüngsten Menschenrechtsbericht des Generalsekretärs des Europarates hervorgeht, stellt die Charta eine wichtige Garantie für die Aufrechterhaltung des Europäischen Sozialmodells und den Schutz der Demokratieausübung in Europa dar.“5

Die in der Charta garantierten Rechte betreffen Wohnung, Gesundheit, Bildung, Erwerbstätigkeit, Schutz vor sozialen Risiken, Integration und Teilhabe sowie die Nichtdiskriminierung. Das 1995 verabschiedete Zusatzprotokoll ermöglicht eine Kollektivbeschwerde von internationalen und nationalen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften sowie von internationalen NGOs, die Beobachterstatus beim Europarat haben. Das Protokoll wurde bislang (Stand November 2020) von 15 Staaten ratifiziert.

1952 erhalten internationale Nichtregierungsorganisationen einen beratenden Status, 2003 den Teilnehmerstatus. Der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte wird mit 15 Mitgliedern besetzt, und prüft, ob nationale Gesetze den Ansprüchen genügen.

Europäische Gewerkschaften sowie der Europäische Gewerkschaftsbund gratulieren zum sechzigjährigen Geburtstag der Europäischen Sozialcharta, Kritiken beziehen sich auf unterschiedliche Bewertungen der erfassten Risiken und halten die Ausformung und praktische Anwendung im Fluss.

Insbesondere die Zurückhaltung der deutschen Regierung(en) bei der Übernahme von Rechtsansprüchen wie das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung und das Recht auf Wohnung „stehen nicht für ein europäisches Denken, sondern für Eigenbrötelei“.6 Daran kann gearbeitet werden.

(1) https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list?module=signatures-by-treaty&treatynum=035 (2) https://netzwerk-sozialrecht.net/revidierte-europaeische-sozialcharta/ (3) Cédric Guinand, „Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und die soziale Sicherheit in Europa (1942 – 1969), Dissertation, Saarbrücken 2001 (4) Walter Auerbach, „Beveridge-Plan – 10 Jahre danach, Erfahrungen und Lehren“, in „Soziale Sicherheit“ 1953 (5) https://www.coe.int/en/web/european-social-charter/home (6) https://netzwerk-sozialrecht.net/revidierte-europaeische-sozialcharta/