Politische Berichte Nr.4/2022 (PDF)31
Kalenderblat

* 30-kalenderblatt-europa-1961-sozialcharta-detscher-3.html * 31-kalenderblatt-europa-manifest-ventotene-giaculli-3.html

1941 – Italien: Das Manifest von Ventotene

Aus der Gefangenschaft heraus für eine Überwindung der Feindschaft und ein friedliches Europa

Über achtzig Jahre alt ist das Manifest von Ventotene geworden, hat aber kaum an Aktualität eingebüßt. Zwei Antifaschisten, die Mussolini 1939 auf der kleinen Insel von Ventotene in Süditalien eingekerkert hatte, entwickelten hier die Utopie eines friedlichen Europas, während der Kontinent vom brutalsten Konflikt der Geschichte geplagt wurde. In ihren Augen waren die Nationalstaaten und der Nationalismus mit seinem die Gesellschaften prägenden Militarismus verantwortlich für diese Katastrophe. Daraus entstand ihr Einsatz für einen europäischen Bundesstaat. Sie stellten in ihrem Manifest die ruinöse Entwicklung der europäischen Gesellschaften dar, die zu den beiden Weltkonflikten geführt hatte und gaben Hinweise für den Aufbau einer friedlichen und gerechten Zukunft. Frieden und Gerechtigkeit sind in ihrer Reflexion untrennbare Begriffe und Grundlage des zukünftigen Europas.

Paola Giaculli, Berlin

Das Manifest („Für ein freies und vereintes Europa. Entwurf zu einem Manifest“) wurde von Spinelli und Rossi auf kleinen Zetteln verfasst und aus der Insel Ventotene von Ursula Hirschmann herausgeschmuggelt. Deren Mann Eugenio Colorni, Sozialist und Insasse wie Spinelli und Rossi in Ventotene, der später von den Faschisten ermordet wurde, lektorierte und veröffentlichte 1944 mit einem Vorwort das Manifest.

Altiero Spinelli (31. August 1907 – 23. Mai 1986) war ein eigenartiger Politiker, ein Kommunist, der 1937 aus der kommunistischen Partei wegen deren für ihn zu eng nationalen Dimension des politischen Handelns ausgetreten war. Später wurde er Inspirator der Bewegung Giustizia e Libertà (Gerechtigkeit und Freiheit), und nach dem Zweiten Weltkrieg der Bewegung für die Europäische Föderation, sein Anliegen auch als Mitglied des Europäischen Parlaments (1979 bis 1986, als unabhängiger Linker in den Listen der Kommunistischen Partei Italiens).

Kurz vor seinem Tod 1986, sagte Spinelli in einem Interview:

„Europa muss in der Lage sein, ein politisches Projekt zu entwerfen. Die Alternative liegt nicht zwischen Europa und einer Rückkehr zum Nationalismus, die nicht zustande kommen wird, weil heutzutage alles, was entscheidend ist, eine übernationale Dimension hat. Die Alternative ist: entweder sich der Nation unterwerfen oder Europa aufzubauen. Das große Hindernis zur politischen Union besteht in der Tatsache, dass die europäische Frage in den Händen der Verwaltung liegt. Sie muss hingegen dem Repräsentativorgan der Gemeinschaft übertragen werden; deshalb müssen wir kämpfen, damit das Europaparlament bei den nächsten Wahlen (Juni 1989) ein Verfassungsmandat bekommt, um ein Projekt zu entwerfen, das dann von den verschiedenen Staaten durch ein Referendum und nicht von den Zentralverwaltungen bestätigt werden muss.“

Dieser Wunsch hat sich noch immer nicht verwirklicht, und viele Nationalstaaten scheinen trotz solidarischer Anstrengungen wie bei den Corona-Hilfsfonds weiter eher auf Interessen innerhalb ihrer Grenzen zu schauen, als wären die einzelnen Staaten nicht voneinander abhängig und könnten sich alleine retten.

Vorstellungen für ein friedliches Europa

Für Spinelli und Rossi war es notwendig, einen europäischen Bundesstaat aufzubauen, „der die nationalen Streitkräfte zugunsten einer europäischen Streitmacht abschafft; der entschieden die Wirtschaftsautarkien zerschmettert, die das Rückgrat der totalitären Regime bilden; der über angemessene Staatsorgane und finanzielle Mittel verfügt, um in den einzelnen Bundesstaaten seine Entscheidungen, die dem Erhalt der gemeinschaftlichen Ordnung dienen, durchsetzen zu können, dabei aber gleichzeitig den einzelnen Staaten die Autonomie lässt, die es ihnen erlaubt, das politische Leben gemäß der besonderen Eigenheiten der jeweiligen Völker auszuformen und weiter zu entwickeln“ (Teil II, Aufgaben der Nachkriegszeit – Die europäische Einheit).

„Die Ideologie der nationalen Unabhängigkeit wurde zu einer starken Triebfeder des Fortschritts“ heißt es im ersten Teil des Manifestes (,Die Krise der modernen Gesellschaft‘). „Diese Ideologie trug aber auch den Keim des kapitalistischen Imperialismus in sich, den unsere Generation mit Macht heranwachsen sah, bis hin zum Entstehen der totalitären Staaten und zum Ausbruch der Weltkriege“. Die politischen Freiheitsrechte, das Repräsentativsystem und dadurch die Einführung von progressiven Steuersystemen, öffentlicher Bildung, Agrarreformen, verbesserte Arbeitsbedingungen „erschwerten die Bewahrung der alten Privilegien“. Spinelli und Rossi weisen dann auf den Kampf der oberen Schichten, die auf ihre Privilegien nicht verzichten wollen, gegen die unteren.

„Selbst jene privilegierten Schichten, die der politischen Gleichberechtigung zugestimmt hatten, konnten nicht zulassen, dass die mittellosen Klassen diese Freiheiten dazu nutzten, eine faktische Gleichheit durchzusetzen, die besagte Rechte mit dem konkreten Inhalt wirklicher Freiheit gefüllt hätte. Als dann nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Bedrohung zu stark wurde, war es nur natürlich, dass diese Schichten das Aufkommen der Diktaturen freudig begrüßten und aktiv unterstützten, die dann ihren Gegnern auch die gesetzlichen Waffen entzogen“.

Oft erleben wir auch heutzutage, wie das liberale Lager ihre Interessen über das allgemeine Interesse stellt. Wie in den 1920er in Italien und in den 30er Jahren in Deutschland, besteht die Gefahr, dass dieses Lager sich wieder mit den reaktionären post-faschistischen Kräften verbünden kann, wenn die Interessen des Kapitals es erfordern. Spinelli und Rossi waren der Meinung, dass die politischen Freiheitsrechte nur durch eine soziale Revolution und die Kontrolle über die Regierenden konkretisiert werden können.

„Die europäische Revolution muss, um unseren eigenen Ansprüchen zu genügen, sozialistisch sein, (…) sie muss also sich als Ziel die Emanzipation der arbeitenden Bevölkerung und das Erreichen würdigerer Lebensbedingungen für diese Schicht setzen“ (Teil III, die Aufgaben der Nachkriegszeit – Die Reform der Gesellschaft).

Ohne das Privateigentum völlig in Frage zu stellen, hielten es Spinelli und Rossi für notwendig, Unternehmen kollektiven Interesses zu verstaatlichen (z.B. im Bereich Energie, Stahl, Waffen und Banken). Privateigentum und Erbschaftsrecht sind in dieser Logik zu reformieren, damit große Reichtümer nicht in die Hände einiger weniger parasitärer Wohlhabender gelangen, und sollten stattdessen gerecht verteilt werden.

Zitate und deutsche Fassung des Manifestes aus: Eurostudium 3w gennaio-marzo 2011, www.istitutospinelli.it/download/il-manifesto-di-ventotene-tedesco/.

Abb. (PDF): (Ausschnitt): Gedenktafel am Castello die Ventotene. ommons.wikimedia.org/wiki/File:Castello_di_ventotene_%28municipio%29,_lapide_manifesto_di_ventotene.jpg