Politische Berichte Nr.5/2022 (PDF)06
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Der Wahlausgang in Italien zwischen Zäsur und Kontinuität

Paola Giaculli

„Die lange Nachkriegszeit ist nun endlich vorbei. Die Erbepartei einer Kraft, der die antifaschistische Verfassung fremd war, wird Italien regieren.“ So meint der ehemalige Parteivorsitzende von Rifondazione comunista und der europäischen Linkspartei, Fausto Bertinotti, zum Sieg von Giorgia Meloni, Chefin der Rechtenpartei Fratelli d’Italia (FdI), Erbepartei der MSI (Movimento sociale italiano), die nach dem Zweiten Weltkrieg von Faschisten gegründet wurde. Meloni gewinnt die Parlamentswahlen mit 26 Prozent im Bündnis mit der Lega (8,8) und der Forza Italia (8,1). Das Rechtsbündnis habe die Mehrheit im Parlament, aber nicht im Lande, meint Giuseppe Conte, ehemaliger Ministerpräsident und seit über einem Jahr Chef der Movimento 5 Stelle (M5S). In der Tat hat die FdI nur ca. 7,3 Millionen von 46,022 Millionen Wahlberechtigten gewonnen. Die Wahlbeteiligung war mit 63,9 Prozent (minus neun Prozentpunkte im Vergleich zu 2018) seit 1948 noch nie so niedrig. Meloni vertritt somit nur ca. 16 Prozent der Wahlberechtigten. Das ist das Ergebnis der schweren Krise der repräsentativen Demokratie und der dramatischen sozialen Krise in Italien. Die Rechten hätten nicht gewonnen, es seien eher alle anderen, die verloren hätten, meint der Kunsthistoriker und Publizist Tomaso Montanari.

Die tiefe Enttäuschung über ein gescheitertes Parteiensystem war für den größten Teil der Wählerschaft, die stärkste „Partei“ Italiens, der Grund ihrer Enthaltung. Die ca. sechzehn Millionen Nichtwählende sind oft linksorientiert, die sich von keiner der antretenden Parteien vertreten fühlen. Die Protestwähler sind zuhause geblieben.

Mit 15,5 Prozent ist die M5S drittstärkste Kraft nach der Partito Democratico (PD, 19 Prozent) geworden. Obwohl die M5S im Vergleich zu 2018 über sechs Millionen Stimmen verlor (von 32,6 auf 15,5 Prozent, von 10,732 auf 4,334 Millionen), halten viele dieses Ergebnis für einen Erfolg, denn für viele Beobachter:innen und Mainstream-Medien galt die M5S als tot. Diese Kraft habe nun nach der ersten Regierung Conte mit der Lega (2018-19) und der Koalition mit der PD als Juniorpartner (2019-21) eine dritte Entwicklungsphase erlangt, und sei nach links gerückt, meint der Politologe Giovanni Orsina. Dies sei Conte zu verdanken. Mit Forderungen nach mehr Sozialstaat, Mindestlohn und Friedenspolitik profilierte sich die M5S als „progressive Kraft“ und wurde attraktiv für Linksorientierte. Conte wetterte insbesondere gegen Meloni und neoliberale Kräfte wie Azione-Italia viva, die das Bürgergeld abschaffen wollen.

Die PD erlitt wieder eine krachende Niederlage. Der minimale prozentuale Anstieg (+1 Prozent) kann nicht über den Verlust absoluter Stimmen hinwegtäuschen. Die PD verlor fast eine Million Stimmen. Die Warnung vor einer faschistischen Gefahr durch den Sieg Melonis erwies sich als Etikettenschwindel. Denn, um diese Gefahr zu verhindern, hätte sich eine einheitliche Front der antifaschistischen Kräfte bilden sollen. Der PD-Chef Enrico Letta wollte aber kein Bündnis mit der M5S, sie seien verantwortlich für den Sturz der Regierung Draghi. Die PD-Strategie wurde umso undurchsichtiger, als Letta eine unbestimmte „Agenda Draghi“ für den Wahlkampf übernahm, ohne sich mit einer eigenen Agenda zu profilieren. Die PD sah nicht, dass der hochgelobte Technokrat Mario Draghi doch als ungeeignet erwiesen hatte, dem sozialen Notstand abzuhelfen. Die Identität dieser Partei, eine Fusionierung (2007) zwischen Linksdemokraten (DS), Erbepartei der KPI und dem sozialen Flügel der Democrazia Cristiana (DC), war von Anfang an undefinierbar. Die PD saß in den letzten zwölf Jahren fast immer in der Regierung, ohne eine Wahl gewonnen zu haben. Die PD habe sich vom Volk distanziert und die Regierungsbeteiligung sei ihre einzige Weltanschauung gewesen, meint Fausto Bertinotti.

Die linke Liste der Unione popolare (mit Rifondazione comunista und Potere al Popolo u.a.) erwies sich wieder mal als gescheitertes Experiment einer Linken (1,46 Prozent), die trotz eines guten und pazifistischen Programms nicht in der Lage ist, sich nicht nur anlässlich von Wahlen sichtbar zu machen, und in der Gesellschaft zwischen Wahlen am Aufbau eines einheitlichen Projektes zu arbeiten. Potenzielle Wähler:innen entschieden sich dann für die M5S, um ein Zeichen von links gegen die Rechten zu setzen.

Wählerwanderungen

Die FdI ist stärkste Partei überall mit Ausnahme des Südens geworden. Das Rechtsbündnis gewinnt mit 43,79 Prozent, aber dank eines perversen Wahlsystems, – Das Wahlrecht wurde 2017 nach einem Gesetzentwurf der PD verabschiedet. Nach der Reduzierung der Parlamentssitze vom letzten Jahr ist die Sitzaufteilung noch undemokratischer geworden – das Bündnisse begünstigt, kann es mit ca. 60 Prozent über die Mehrheit der Sitze im Parlament verfügen. Sogar in traditionellen PD-Hochburgen, wie zum Beispiel Emilia-Romagna und Toskana, gewann das Rechtsbündnis fast alle Direktmandate. Dass dies jedoch kein Erdrutschsieg für die FdI ist, wird durch die Wählerwanderung deutlich. Melonis Partei profitiert vor allem von ihren Verbündeten. Insgesamt hat das Rechtsbündnis ca. zwölf Millionen Stimmen fast genau wie im Jahre 2018 (+ ca. 150 000) erhalten. Es handelt sich also um eine Wählerwanderung innerhalb des rechten Lagers. Laut des demoskopischen Instituts SWG gewann die FdI 50 Prozent der Stimmen von der Lega und Forza Italia, 17 % von M5S (die aber bereits nach 2018 zur Lega gewandert waren) und 17 % von Nichtwählern. Die Lega bricht zusammen und verliert ca. 60 Prozent der Stimmen. Die Forza Italia von Berlusconi erhielt 2,8 Millionen Stimmen. Sie präsentierte sich als Garant für europafreundliche Politik im Gegensatz zu ihrer Verbündeten im Rechtsbündnis, denen Europafeindlichkeit und Putin-Nähe vorgeworfen wird, und mag „moderate“ Wählende angezogen haben.

Ca. 40 Prozent der M5S-Wählenden von 2018 haben nicht gewählt, ihre rechtsorientierten Anhänger waren bereits zur Lega übergelaufen, 14 Prozent haben FdI gewählt.

Die PD verlor fast 37 Prozent der Stimmen an die Nichtwähler (17 %), an die neoliberale Formation Azione-Italia Viva (12 %), M5S (5 %) und etwas weniger an die Rechten. Azione-Italia viva (7,7 %) entstand als Allianz zwischen zwei personalisierten Gruppierungen, beide PD-Abspaltungen, die respektive von Carlo Calenda und Matteo Renzi angeführt werden. Die Gruppe um ehemaligen PD-Chef Renzi (Italia viva) entstand im Parlament als antisoziale Lobby, die opportunistisch parlamentarische Mehrheiten umbildet. Nach seinem Abbruch mit der PD schloss sich Calenda mit seiner Azione an Renzi an. Sie haben im Wahlkampf gegen Arme gehetzt, die Abschaffung des Bürgergelds, Atomkraft, Aufrüstung gefordert und für eine Neuauflage der Regierung Draghi plädiert. In puncto Soziales und Verfassung (zugunsten einer Präsidialrepublik) haben diese viel mit Meloni gemeinsam. Sie haben sich auch bereit erklärt, deren Reformen zu unterstützen. Calenda und Renzi hätten allein kaum Chancen gehabt, die 3-Prozent-Sperrklausel zu überwinden.

Kleine Formationen Sinistra italiana/Verdi (Italienische Linke/Grüne), in der Opposition zur Regierung Draghi, und die ultraliberale +Europa (deren Vertreter abwechselnd im Mitterechts- bzw. Mittelinks-Lager saßen) waren Teil des PD-Bündnisses. Deshalb war die Sinistra Italiana (3,5) für Linksorientierte ein No-Go.

Wer wählte wen

Die FdI profitierte von der Oppositionsrolle, obwohl sie bei einzelnen Maßnahmen wie Waffenlieferung an die Ukraine und Aufrüstung die Regierung Draghi unterstützte. Sie ist stärkste Partei unter Arbeiterschicht, Lehrkräften, Geschäftsleuten, Wohlhabenden und Älteren. Mehr Männer als Frauen haben sie gewählt. Die Jugendlichen (18 bis 34 Jahre) haben mehrheitlich M5S und PD gewählt (respektive 20,9 % und 18,7 %). Die M5S ist auch unter den Arbeitslosen, Studierenden und Menschen mit niedrigem Einkommen stärkste Partei. Die PD ist stärkste Partei unter den Menschen mit Uni-Abschluss und auch unter Menschen mit mittel-hohem Einkommen.

Drag-oni

Angesichts der großen Herausforderungen und der Umsetzung der Wiederaufbaupläne, die durch die EU-Coronafonds finanziert werden sollen, kann sich Meloni nicht leisten, sich mit der Verfasstheit der EU anzulegen. Sie hatte übrigens bereits im Wahlkampf und am Wahlabend von „Verantwortung“ gesprochen. Deshalb spricht sie sich regelmäßig mit dem Noch-Premier Draghi ab, und es wird spekuliert, dass die Finanzpolitik einer Regierung Meloni sich kaum von seiner unterscheiden wird – aber unsozialer und illiberaler. Meloni machte bereits bekannt, sie wolle weiter eine Regierung mit Experten in Schlüsselämtern wie Finanz und Wirtschaft bilden.

Abb. (PDF): Grafik Wahlergebnis Italien