Politische Berichte Nr.5/2022 (PDF)07
EU-Politik

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Die Zukunft der Kohäsionspolitik in Krisenzeiten

Bericht zur Konferenz der Linksfraktion The Left am 27. September 2022 im Europäischen Parlament in Brüssel.

Nora Schüttpelz, Brüssel*

Als die EU-Kommission am 9. Februar 2022 den achten Kohäsionsbericht vorlegte, geschah dies mit vorsichtigem Optimismus und als erster Auftakt für die Debatte um die Zukunft der Kohäsionspolitik nach 2027. In Folge des Kriegs gegen die Ukraine kommt nun der EU-Regionalförderpolitik erneut eine unerwartet verstärkte Rolle zu, immerhin untersetzt sie ganz wesentlich die EU-Krisenhilfspakete mit Mitteln. Doch dieselben Gelder sind ihrem Programm nach eigentlich für langfristige Strategien der EU zur Angleichung der Lebensverhältnisse sowie für Investitionen in nachhaltige wirtschaftliche, ökologische und soziale Entwicklung vorgesehen. Die Leitfrage unserer Konferenz lautete daher: Wie können wir – aus linker Sicht – die drängendsten aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Krisenprobleme angehen und gleichzeitig die strategischen Ziele des Zusammenhalts in der EU beibehalten, einschließlich einer zukunftsorientierten Energie- und Sozialpolitik. Zu diesem Zwecke lud die Linksfraktion The Left im Europaparlament Experten aus unterschiedlichen Bereichen ein, ihre Sicht und ihre Erwartungen an die parlamentarischen Linke zu darzulegen.

Martina Michels als Koordinatorin der Linksfraktion im zuständigen Fachausschuss setzte in ihrer Begrüßungsrede die Akzente und betonte den sozial-ökologischen Ansatz linker Politik. Die Corona-Krise habe in der EU schwerwiegende Auswirkungen und zur größten Rezession seit 1945 geführt. Dank des raschen und flexiblen Einsatzes auch von EU-Strukturfonds-Geldern, konnten dennoch massive Folgen von Arbeitslosigkeit und Unternehmensinsolvenzen eingedämmt werden. Wiederaufbaupakete wurden geschnürt, um notwendige Investitionen wieder anzukurbeln, öffentliche Haushalte zu entlasten und zur Beschleunigung von Projekten für Klimaschutz und Digitalisierung beizutragen. Soziale Ungleichheiten sind gewachsen. Daher hebe der Kohäsionsbericht richtigerweise die sozialen Herausforderungen deutlich hervor: regionale Ungleichheiten zwischen dem Norden und Süden bzw. Osten der EU, zwischen Stadt und Land und sogenannten Randgebieten, zwischen den Geschlechtern, zwischen gut und weniger gut Ausgebildeten, Menschen mit und ohne unmittelbaren Migrationshintergrund.

Bereits im vergangenen Winter hätten sich die Preise für Gas und Strom verdoppelt, und auch schon vor der Corona-Krise sei Energiearmut ein ernsthafter Faktor beim Armutsrisiko gewesen. Verlauf oder gar Ende der jetzigen Krise seien nicht absehbar. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen könnten eine unberechenbare Sprengkraft entwickeln. Problematisch sei, dass sozialer Zusammenhalt, ökologische Transformation und Energiepolitik gerade in der jetzigen Krise nicht kohärent gedacht würden.

Aus linker Sicht gehe es daher verstärkt darum, Fachpolitiken und Förderstrategien zusammenbringen und neu zusammendenken, um diese schwerste bisher vorstellbare Krise zu bestehen.

Dr. Vera Weghman, Forscherin an der Universität in Greenwich, erläuterte Ergebnisse ihrer Forschung über Energiepolitik in der EU. Die Liberalisierung des Energiemarktes habe ihre Versprechen – niedrigere Verbraucherpreise, fairerer Wettbewerb und innovative Lösungen, Ende der (vormals staatlichen) Monopole – nicht erfüllt. Stattdessen gebe es höhere Preise, mehr Monopole, wenig Fortschritt bei der Einführung CO2-neutraler Energieversorgung. Gas und Öl seien weiterhin die wichtigsten Primärenergieträger, zugleich steige der Energieverbrauch. 2020 konnten 36 Millionen Europäer ihr Zuhause nicht adäquat heizen. Jeder vierte Haushalt in Spanien beispielsweise konnte sich vor der Pandemie keine notwendige Kühlung im Sommer leisten. Dort starben mehr Menschen an den Folgen von Energiearmut als infolge von Autounfällen. Die jetzige Energiekrise sei eine weitere Verschärfung. Regional seien die Ausprägungen unterschiedlich, aber Energiearmut sei strukturell verbunden mit anderen Arten der Ungleichverteilung, zum Beispiel solcher aufgrund von Alter, Geschlecht, Gesundheit, ethnischer Herkunft und natürlich Einkommen. Eine Haupterkenntnis der Forschung von Dr. Weghman ist, dass Energieversorger in öffentlichem Eigentum viel besser in der Lage wären, erschwingliche Energie bereitzustellen. Beispielsweise seien im April 2022 die Energiepreise des öffentlichen Energieversorgers EDF (Frankreich) um 4 %, auf dem vollständig liberalisierten Markt in UK um 54 % gestiegen. Zudem sei die öffentliche Hand auch besser geeignet, die dringenden Herausforderungen des Klimawandels zu bearbeiten. Das oft vorgebrachte Argument, Subventionen für erneuerbare Energien würden dem liberalisierten Energiemarkt widersprechen, gelte nicht, denn Kohle und Atomkraft erhielten ebenfalls Subventionen. Öffentliche Förderung habe zum Anwachsen der Erneuerbaren geführt, das Abschmelzen solcher Subventionszahlungen in vielen Mitgliedstaaten nun zu einem Schrumpfen ihres Anteils.

Die EU-Politik sollte die Liberalisierung des Energiemarktes dauerhaft zurücknehmen, und mehr öffentliche Mittel würden auf allen Ebenen und allen Lebensbereichen für Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau benötigt.

Rolf Gehring, Vertreter der Europäischen Föderation der Bau- und Holzarbeiter, erläuterte die Position der Europäischen Gewerkschaften zur Kohäsionspolitik und zu den wichtigsten Herausforderungen der aktuellen Krisen. Er erinnerte, die Kohäsionspolitik mit ihrer Zielstellung der Angleichung der Lebensverhältnisse sei in den EU-Verträgen verankert und habe damit den Rang eines Verfassungsauftrags. Den Gewerkschaften ginge es traditionell zuallererst um den Erhalt von Arbeitsplätzen und daher um den Erhalt von Industriezweigen – selbst, wenn diese (noch) nicht nachhaltig produzieren. Die verschiedenen Sektoren versuchten jede für sich staatliche Förderung heranzuziehen bzw. für sich und in der jeweiligen Region zu erhalten.

Es setze sich jedoch seit längerem ein breiterer Ansatz durch, der auch auf Interessenvertretung in Transformationsprozessen fokussiert. Es gehe um die Gestaltung der Arbeits- und Produktionswelt von morgen, mit fairen und regulierten, also auch gesunden und sicheren Arbeitsbedingungen. Bildung, Ausbildung und Weiterbildung sowie Forschung seien Schlüsselelemente auch beim energetischen Umbau, der sinnvollerweise einhergehe mit der Weiterentwicklung von Materialien und Technologien. Zentral sei weiterhin stets die Arbeitnehmerbeteiligung bei aller Planung und Umsetzung von Förderprogrammen und Politiken und vor allem den betrieblichen Umstrukturierungen.

Eine mögliche Verbindung zum „Neuen Europäischen Bauhaus“ findet sich etwa in der Holzbauindustrie. Holz ist bei der neuen Bauhausidee ein wichtiger Rohstoff, der viele Materialprobleme ökologisch lösen könnte. Doch auch dieser Rohstoff ist eine begrenzte Ressource, muss sparsam und sinnvoll eingesetzt werden und aus nachhaltigem Anbau kommen. Ohne internationale Vereinbarungen und Verpflichtungen komme Europa hier auf Dauer nicht weiter.

Langfristige Förderstrategien der Kohäsionspolitik für die grüne digitale, nachhaltige, soziale Transformation seien aus Gewerkschaftssicht ebenso wichtig, wie kurzfristige und trotzdem nachhaltige Hilfsprogramme. Gestaltung der konkreten Arbeitsbedingungen und Beteiligung blieben in der Gewerkschaftspolitik zentral.

Dimitrios Papadimoulis, MdEP der Linksfraktion im Haushalts- wie Regionalausschuss, erläuterte kurz die bestehenden und geplanten EU-Krisenhilfspakete. Die akuten Herausforderungen zwangen die EU, neue Politiken zu entwickeln, während sich Wirtschaft und Gesellschaft eigentlich noch von der Covid-19-Pandemie erholen müsse. Natürlich stehe die Kohäsionspolitik bereit, Kommunen und Regionen bei der Aufnahme und Integration von und bei Bereitstellung von Bildungs- und Gesundheitsdiensten für Geflüchtete zu helfen. Natürlich wollen die EU-Regionalpolitiker*innen den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien und damit die Verringerung externer Energieabhängigkeit unterstützen.

Aber es sei ein ernstes Problem, dass der EU dafür Mittel, auch Eigenmittel fehlen. Die Taktik, bei jeder Krise Mittel aus der Regionalförderung umzuwidmen, sei grundfalsch, denn so seien die langfristigen Ziele in Gefahr. Schon in der Finanzkrise sei die Chance verpasst worden, neue und zusätzliche Instrumente zu finden, um Ungleichheiten zu überwinden – Griechenland könne ein langes Lied davon singen. Mit einem EU-Haushalt von einem Prozent des BIP und Schuldenbremsen seien die großen Krisen nicht mehr zu bewältigen.

Rüdiger Lötzer, für Die Linke in der Bezirksverordnetenversammlung in Berlin Mitte und dort Vorsitzender des Ausschusses für Soziales, Bürgerdienste und Wohnen, brachte ganz praktische aktuelle Herausforderungen zur Sprache, vor denen Kommunen stünden.

Beispielsweise müssten sich die Berliner Bezirke auf einen Winter vorbereiten, in dem noch mehr Menschen ihre Wohnung nicht ausreichend heizen können oder nicht einmal eine solche haben. Daher würde in diesen Wochen die kommunale Kältehilfe ausgebaut – auch mit Hilfe von EU-Mitteln.

Nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine sei Berlin bevorzugtes Ziel vieler Migrant*innen und Geflüchteter. Seit der Syrienkrise 2015 lebten allein im Berliner Bezirk Mitte (ca. 380 000 Einwohner) noch immer 3000 bis 4000 Geflüchtete in Notunterkünften, darunter etwa 1000 Kinder. Grund: fehlender Wohnraum, verstärkt durch Immobilienspekulationen und Touristifizierung von Wohnraum (airbnb). 2022 habe Berlin 50 000 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Viele Roma und Sinti kamen von dort und aus EU-Ländern.

Nicht nur die Einwohner der Stadt stünden vor dem Problem massiver Preissteigerungen. Auch die Bezirke hätten damit zu kämpfen, dass sich zum Beispiel die Preise für Obdachlosenunterkünfte verdoppelt haben.

Drei Hauptanliegen an die EU-Kohäsionspolitik ergäben sich: mehr Unterstützung der kommunalen Ebene für konkrete Projekte; EU-Fördergelder vor allem für die armen und ärmsten Gegenden und sie müssen über längere Zeiträume gewährt und planbar sein. Kurzfristige Hilfsprogramme seien nötig, gäben sozialen Projekten wie Wohnungslosenunterkünften aber keine dauerhafte Perspektive. Es sei also nötig, langfristige und nachhaltige Investitionen in soziale Infrastruktur zu tätigen und zu erhöhen, um so die Krisenresilienz von Kommunen strukturell zu stärken.

Eugenia Lleal Fontàs, Senior Policy Analyst bei der Konferenz der maritimen Randregionen (CPMR), setzte Krisenprogramme und Kohäsionspolitik zueinander ins Verhältnis und gab einen Ausblick auf mögliche künftige Szenarien in diesem Politikfeld.

Die EU-Kohäsionspolitik habe in den vergangenen zwei Jahren mehrfach Krisenpakete ermöglicht (CRII, CRII+, React-EU, Care und Fast Care). Kernaufgabe blieben langfristige Investitionen. Die Strukturfonds sollten nicht dauerhaft zu Notfallinstrumenten werden. Die erneute Teilfinanzierung eines Krisenpakets (RePowerEU) aus Strukturfondsmitteln sei problematisch.

Mittelfristig bestehe die Gefahr, dass nicht abgerufene Strukturfondsgelder in andere Instrumente umgeschichtet würden und damit völlig andere Ziele unterstützt würden. Langfristig stelle diese Entwicklung eine Gefahr für die Kohäsionspolitik dar, etwa Unsicherheit und Verwaltungsbelastung für Regionen und Kommunen, daraus folgende Projektverzögerungen, Einschränkung der Rolle der regionalen und lokalen Ebene bei der Koordinierung der Entwicklungsstrategien und möglicherweise schlechtere Mittelausstattung der Strukturfonds in künftigen EU-Haushalten.

Auch aufgrund der verschiedenen Krisen würden künftige Zukunftsszenarien und als Folge die Kohäsionspolitik nach 2027 sicher anders aussehen als heute. Das A und O in diesem Gestaltungsprozess sei stets die Einbeziehung der regionalen und lokalen Ebenen. Auch ein eigenständiges Krisenmanagementinstrument innerhalb des nächsten mittelfristigen Haushaltsplans (MFR) oder sogar als Bestandteil der Kohäsionspolitik sei denkbar.

Die Balance zu finden zwischen lang- und kurzfristigen Zielen und zwischen Flexibilität und grundlegenden Prinzipien werde dauerhaft Aufgabe bleiben. Kohäsionspolitik mit ihrem Verfassungsauftrag der Angleichung der Lebensverhältnisse habe eine zentrale Funktion für den Zusammenhalt und Krisenresilienz in der EU.

Younous Omarjee, Vorsitzender des Ausschusses für regionale Entwicklung im Europaparlament und MdEP der Fraktion The Left, hielt das Schlusswort. Er sah die Kohäsionspolitik auf dem richtigen Weg hinsichtlich nachhaltiger Förderstrategien und einer sozialen Energiewende. Die Widersprüchlichkeit zwischen traditioneller Strukturförderung und akuten Krisenpaketen sei unübersehbar. Zugleich bedaure niemand die Hilfspakete für Kommunen, Menschen und KMU. Die Pandemie machte Änderungen an alten Zielen der Förderperiode unausweichlich.

Inzwischen scheinen Krisen um Fragen wie Ernährungssicherheit, Energieversorgung, Klimawandel, Naturkatastrophen, Wirtschafts- und Finanzlage zum Dauerzustand zu werden. Die Besteuerung von Krisenprofiteuren sei diesbezüglich ein Anfangsschritt. Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt in der EU, innerhalb und zwischen den Regionen seien gerade bei der Krisenbewältigung nicht zu vernachlässigen.

* Nora Schüttpelz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro Martina Michels im Europäischen Parlament

Abb. (PDF): Einteilung der EU nach Entwicklungsgrad der Regionen: hellgrau: entwickelt (über 100%), grau: Übergang (75 bis 100%): dunkel: wenig entwickelt (unter 75%). Quelle: https://cohesiondata.ec.europa.eu/stories/s/2021-2027-EU-allocations-available-for-programming/2w8s-ci3y