Politische Berichte Nr.5/2022 (PDF)18
Gewerkschaften/Soziale Bewegung

Tarifbilanz 2022 – Reallohnsenkungen europaweit –Erwartungen an die IG Metall

Bruno Rocker, Berlin

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern der Europäischen Union einbrechen lassen. Die in die Höhe schießenden Energiepreise und die dadurch angetriebene Inflation hat die Kaufkraft der Löhne spürbar vermindert. Arbeitnehmer in den unteren Lohngruppen sind durch die Wirkung steigender Lebensmittelpreise und die sukzessive weiter gereichten gestiegenen Energiepreise besonders betroffen. Der Krieg wirkt auf die Ergebnisse von Tarifpolitik.

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) hat in seiner Zwischenbilanz für die Bundesrepublik ermittelt, dass nach den bislang vorliegenden Abschlüssen die Tariflöhne in 2022 im Durchschnitt nominal zwar um 2,9 Prozent gestiegen, tatsächlich nach Abzug der Inflationsrate jedoch real um 3,6 Prozent sinken. Das ist die Bilanz für das erste Halbjahr. „Nachdem die Tariflöhne in den 2010er Jahren deutlich zugenommen haben, drohen 2022 für viele Beschäftigte im zweiten Jahr in Folge Reallohnverluste“, kommentierte der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Prof. Dr. Thorsten Schulten die Entwicklung im ersten Halbjahr. Inzwischen steigt die Inflation weiter. So stieg die Geldentwertung im August 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat um 7,9 Prozent, in der EU insgesamt um 9,1 und in den USA um 8,3 Prozent. Die Leitzinserhöhungen der Notenbanken haben bislang den Anstieg der Inflation kaum bremsen können. Die Herausforderungen für Tarifpolitik wachsen weiter.

Der im August veröffentlichte „Europäische Tarifbericht des WSI – 2021 /2022“ gibt u. a. Aufschluss über die insbesondere im Zusammenhang mit dem jeweiligen Ausmaß von Tarifbindung sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen für Tarifpolitik in einzelnen EU-Ländern. Die in dem Bericht enthaltene Entwicklung der Tariflöhne in der EU zeigt, wie bereits seit 2021 auch in den anderen EU-Staaten Reallohnverluste hingenommen werden mussten.

Für die Bundesrepublik verzeichnet die Halbjahresbilanz des WSI immerhin für die vergangenen Monate einige erfreuliche Ausnahmen vom Gesamttrend. So konnten in einigen klassischen Niedriglohnbereichen (Hotel- und Gaststätten, Gebäudereinigung, Leiharbeit) Tarifabschlüsse in zweistelliger Höhe vereinbart und damit Reallohnzuwächse gesichert werden. Diese Branchen reagieren also auf den zunehmenden Arbeitskräftemangel und nutzten auch die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro, um die oberhalb dessen liegenden Entgeltgruppen neu aufzubauen.

Im zweiten Halbjahr 2022 kommen nun die noch ausstehenden Tarifbewegungen hinzu. Das gilt für die Chemische Industrie und für die Metall- und Elektroindustrie. Die Tarifparteien stehen unter sehr großem Druck. Wie sind die Erwartungen?

Der Ukraine-Krieg dauert an, die weitere Entwicklung bleibt ungewiss. Die wirtschaftlichen Folgen sind nicht kalkulierbar, zumal die Folgen vorheriger Krisen nicht überwunden sind. Die Arbeitgeberverbände erwarten Zugeständnisse. Von der IG Metall wird eine Nullrunde erwartet. Zum Tarifauftakt am 10. September in Leipzig hat der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann die Erwartungen der Arbeitgeber nach einer Nullrunde zurückgewiesen. Er erinnerte in seiner Ansprache auf der Kundgebung der IG Metall an die notwendige tabellenwirksame Erhöhung, die die vergangenen zwei Tarifrunden ausgeblieben war: „Die vergangenen Tarifabschlüsse waren ein Zeichen von Verantwortung und Solidarität von uns und den Beschäftigten“, betonte er. Nach vier Jahren ohne Tabellenerhöhung sei nicht die Zeit für Zurückhaltung. „Unsere Tarifpolitik ist immer auch Verteilungspolitik“, sagte die Bezirksleiterin von Berlin-Brandenburg-Sachsen, Irene Schulz, mit Blick auf die steigenden Energiekosten für Verbraucher. Die aktuelle Energiekrise werde regelrecht für eine Verteilung von unten nach oben genutzt. „Wir setzen dagegen“, bekräftigte die Bezirksleiterin.

Dennoch bleibt die Erkenntnis, dass Tarifpolitik allein die durch Ukraine-Krieg und Inflation ausgelöste Notstandssituation nicht aufzulösen vermag. Die Bundesregierung ist in der Bringpflicht. Bis Oktober soll eine vom Bundeskanzler eingesetzte Expertenkommission darlegen, wie eine Begrenzung der Wärme- und Gaskosten umgesetzt wird. Darauf warten alle. Auch eine wirksame Deckelung der Strompreise noch in diesem Jahr wäre überaus wichtig. Für die IG Metall ist der Vorschlag der Bundesregierung für steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen der Arbeitgeber bis zu 3000 Euro kein Grund, von der Forderung nach tabellenwirksame Erhöhung des Entgelts abzuweichen. Dennoch ist der Vorschlag für außerhalb der Tarifbewegung nicht uninteressant. Die IG Metall hält an ihrer Forderung nach 8 Prozent in dieser Tarifbewegung fest und erklärt: Betriebe können steigende Kosten weiterreichen, Beschäftigte nicht. Dementsprechend lautet das Motto dieser Tarifrunde „Solidarität gewinnt!“

Quellen: Europäischer Tarifbericht des WSI – 2021 /2022, Malte Lübker, Thilo Janssen, Zwischenbilanz des WSI-Tarifarchivs 2022

Abb. (PDF): Tarifauftakt am 10. September in Leipzig mit dem IG Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann und der IG Metall-Bezirksleiterin Berlin-Brandenburg-Sachsen, Irene Schulz.

Abb. (PDF): Grafik WSI-Reprot