Politische Berichte Nr.5/2022 (PDF)19b
Gewerkschaften/Soziale Bewegung

Ende der Vertrauensarbeitszeit?

Bruno Rocker, Berlin

In einer Grundsatzentscheidung im September dieses Jahres hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) erklärt, dass für alle Arbeitgeber eine Pflicht zur systematischen Erfassung von Arbeitszeiten besteht. In der Verkündung in Erfurt verweist das BAG dabei auf die Auslegung des Arbeitsschutzgesetzes nach dem sogenannten „Stechuhr-Urteil“ des europäischen Gerichtshofes von 2019. Das damalige Urteil verpflichtete die EU-Mitgliedsstaaten zu Zeiterfassungssystemen, weil die Einhaltung von täglichen und wöchentlich einzuhaltenden Höchstarbeitszeiten sowie vorgeschriebene Ruhepausen Grundrechte der Arbeitnehmer darstellen und also nun mal kontrollierbar sein müssen. Bis heute ist dieses EuGH-Urteil in der Bundesrepublik nicht umgesetzt worden. Jetzt wird es ernst. Bislang haben Arbeitgeber lediglich Überstunden und Arbeitszeiten an Sonn- und Feiertagen entsprechend dem Arbeitszeitgesetz schriftlich erfassen müssen. Dokumentationspflichten darüber hinaus bestehen bis jetzt nur bei Berufskraftfahrern und Beziehern des Mindestlohns.

Nunmehr jedoch gerät auch die sogenannte „Vertrauensarbeitszeit“ in den Focus. In etlichen Unternehmen, insbesondere im Bereich von Forschung und Entwicklungsabteilungen, ist seitens der Arbeitgeber den Arbeitnehmern oftmals das „vergiftete Angebot“ gemacht worden, doch auf die Erfassung von Arbeitszeiten verzichten zu wollen. Man habe doch ein absolutes Grundvertrauen in seine Arbeitnehmer, dass sie selbstbestimmt die Vertragsarbeitszeit einhalten werden. Viele Betroffene haben nicht widersprechen wollen, um nicht als „Erbsenzähler“ oder „Bürokraten“ zu gelten. Vergiftet war dieses Angebot deshalb, weil die Arbeitnehmer in diesen Bereichen häufig Mehrarbeit leisten, und zwar ohne Bezahlung. Das wurde einfach erwartet. Profitiert von der Nichterfassung der Arbeitszeiten haben also die Arbeitgeber. Einige haben so lang profitiert, bis ihnen die ersten Ingenieure durch „Burnout“ ausfielen.

Das Urteil des BAG schafft neue Verhältnisse, verbessert die Position von Arbeitnehmern und Betriebsräten und ermöglicht zivilisierte Arbeitsbeziehungen auch in angespannten Arbeitssituationen. Es kommt jedoch auf allseits akzeptable betriebliche Regularien an. Die SPD hat den Entwurf eines neuen Arbeitszeitgesetzes angekündigt.