Politische Berichte Nr.5/2022 (PDF)21
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Die Förderung der Kultur der Wertschätzung von Vielfalt ist das Ziel des Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG) Berlin

Olaf Argens, Schmitten, Rosemarie Steffens, Langen, Hessen

01 * Antidiskriminierungsgesetzgebung und EU-Recht

Zwischen 2000 und 2004 beschloss der Rat der Europäischen Union auf Grundlage der entsprechenden UN-Konventionen vier Gleichbehandlungsrichtlinien*; alle 28 EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, diese in nationales Recht umzusetzen sowie wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen bei Verstößen gegen das Gleichbehandlungsgebot zu erlassen und Beweiserleichterung für Betroffene zu schaffen. Die rechtlichen Grundlagen sollen die gesellschaftliche Wirklichkeit in den Mitgliedstaaten verändern, das heißt, sie sollen Diskriminierungen nicht nur verbieten, sondern wirksam beseitigen.

Das nach mehreren Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) am 18. August 2006 umfasst den Schutz vor Diskriminierung durch private Akteure (Arbeitgeber, Vermieter, Anbieter von Waren und Dienstleistungen). Allerdings gilt das AGG nicht für das Handeln von Ämtern und Behörden. Im Juni 2020 schuf Berlin deshalb als erstes Bundesland ein Landes-Antidiskriminierungsgesetz (LADG) direkt für diesen Geltungsbereich, dessen Ziel „die tatsächliche Herstellung und Durchsetzung von Chancengleichheit, die Verhinderung und Beseitigung jeder Form von Diskriminierung sowie die Förderung einer Kultur der Wertschätzung von Vielfalt“ (§ 1 LADG) im Rahmen öffentlich-rechtlichen Handelns ist. Wer sich diskriminiert fühlt, kann sich an die betroffene Behörde wenden oder an die Ombudsstelle, die seit Oktober 2020 bei der Justizverwaltung angesiedelt ist. „Dann wird der Vorwurf geprüft und zunächst nach Lösungen jenseits von Klagen gesucht. Betroffene werden aber auch bei Klagen unterstützt,“ so die Leiterin der Ombudsstelle Doris Liebscher. (rbb 13.8.22)

„Mit der Einführung einer Verbandsklage im § 9 LADG wird eine der drängendsten Forderungen von Akteurinnen und Akteuren der Antidiskriminierungsarbeit umgesetzt. Die Verbandsklage, die aus der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie bekannt ist und in Rechtsgebieten wie Verbraucherschutz schon Anwendung findet, ist ein wichtiges Instrument, um insbesondere strukturelle bzw. institutionelle Diskriminierung rechtlich anzugreifen und kollektiven Rechtschutz zu etablieren,“ so TBB-Sprecher Zülfukar Çetin. (Der Türkische Bund Berlin Brandenburg e.V., TBB, wurde als verbandsklageberechtigter Antidiskriminierungsverband lt. § 9 LADG anerkannt.)

Nach zwei Jahren Praxis der Anwendung des Gesetzes antwortet das Abgeordnetenhaus Berlin auf eine Anfrage, dass von Oktober 2020 bis zum 30.6.2022 insgesamt 705 Beschwerden bei der zuständigen Ombudsstelle eingegangen seien. Die Beschwerden beziehen sich auf folgende Gründe: 238 x rassistische Zuschreibung oder ethnische Herkunft; 195 x Behinderung oder chronische Krankheit; 64 x Geschlecht (Mann*/Frau*); 52 x sozialer Status; 47 x Lebensalter; 37 x sexuelle Identität; 30 x geschlechtliche Identität (cis/trans/inter/queer); 22 x Religion; 25 x Sprache; 10 x antisemitische Zuschreibung; 6 x Weltanschauung; 35 x unspezifisches Gefühl der Unterdrückung bzw. Zuständigkeit eines anderen Gesetzes.

Ein Großteil der Beschwerden gehe auf Vorfälle bei den Bezirksämtern und in den Schulen zurück. Auf Platz drei landeten die Polizei und die Senatsverwaltung für Gesundheit. Kurz dahinter rangiert die Berliner Verkehrsbetriebe, an die sich viele Beschwerden aufgrund von fehlender Barrierefreiheit richten. Auch werde das Verhalten von Busfahrern und von Kontrolleuren stark kritisiert. Ein mutmaßlicher Fall von Rassismus bei der Fahrkartenkontrolle beschäftigt die Berliner Justiz. (rbb24, 13.8.22)

Sicher auch auf dem Hintergrund der rassistischen Übergriffe von Polizisten war die Befürchtung groß, dass die Polizei mit Inkrafttreten des Gesetzes von Beschwerden und Gerichtsprozessen überhäuft werden würde.

Die Auswertung nach zwei Jahren kommt jedoch zum Ergebnis, dass „der Ombudsstelle bisher (nur) drei Fälle bekannt (sind), in denen nach Abschluss des LADG-Ombudsstellenverfahrens Diskriminierungsbetroffene gerichtlich Entschädigungsansprüche geltend machen.“ In ca. 90 % der o. g. Beschwerden sei die Ombudsstelle … beratend oder intervenierend tätig gewesen. (Saraya Gomis, Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung auf Anfrage des Abgeordneten M. Schulz (SPD) zum Thema: Durchsetzung des LADG am 7.7.2022)

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* Antidiskriminierungsgesetzgebung und EU-Recht

Das europäische Antidiskriminierungsrecht beruht auf einer Vielzahl von Quellen. Die maßgeblichen Rechtssysteme der EU und des Europarates funktionieren unabhängig voneinander, beeinflussen sich gegenseitig und sind geprägt durch die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen. Das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz ist zurückzuführen auf die Vorgaben der Europäischen Union, und zwar die „Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft“ (RL 2000/43/EG), die „Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf“ (RL 2000/78/EG), die „Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen“ (RL 2006/54/EG) und die „Richtlinie zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen“ (RL 2004/113/EG). Die Richtlinien legen Mindestanforderungen an das nationale Recht fest und gelten in den Mitgliedsstaaten unmittelbar. Außerdem verlangen sie von den Mitgliedsstaaten die Schaffung gerichtlicher und administrativer Verfahren, die es jedem Menschen ermöglichen, seine Rechte auch durchzusetzen, sowie von Sanktionen, d. h. Schadensersatzansprüchen. So wird etwa allen Mitgliedstaaten die Sicherstellung einer Beweislasterleichterung im Antidiskriminierungsrecht vorgeschrieben. Wenn also eine klagende Partei eine Diskriminierung glaubhaft macht, liegt es an der beklagten Partei, das Nichtvorliegen einer solchen zu belegen. Der umzusetzende effektive Rechtsschutz schließt ein die Schaffung eines Klagerechtes für Interessenverbände. Diese haben das Recht, Verstöße einer öffentlich-rechtlichen Stelle zu beanstanden, wenn deren Bedeutung über die individuelle Betroffenheit hinausgeht. Auf diese Weise können diskriminierende bzw. potenziell diskriminierungsanfällige Strukturen und strukturelle Handlungsmuster festgestellt werden. Bei der Umsetzung der Richtlinien in deutsches Recht muss die föderale Struktur der Bundesrepublik beachtet werden. Ihre lückenlose Umsetzung ist deshalb komplex. Die Möglichkeiten des Bundes, Diskriminierungen zu sanktionieren, sind größtenteils auf die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten beschränkt. Diskriminierung durch staatliche Organe geschieht auch im Verwaltungsverfahren, über das weitgehend die Länder bestimmen. Das führt dazu, dass die Richtlinien nicht allein durch Regelungen des Bundes umgesetzt werden können, sondern eine Mitarbeit der Länder unabdingbar ist.

Abb. (PDF): Logo und Adresse: www.berlin.de/sen/lads/recht/ladg/ombudsstelle/