Politische Berichte Nr.5/2022 (PDF)23
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Wie weiter mit dem Schandmal zu Wittenberg?

Karl-Helmut Lechner, Norderstedt

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat am 14. Juni dieses Jahres die Klage gegen die Wittenberger Stadtkirche abgewiesen, das obszöne Sandsteinrelief — gemeinhin als „Judensau“ bekannt — zu entfernen. Wir haben in den Politischen Berichten* verschiedentlich davon berichtet. Gegen das Urteil hat der Kläger Herr Düllmann Verfassungsbeschwerde eingereicht. Als Mitglied der jüdischen Religionsgemeinschaft fühlt er sich durch diese Skulptur in seinem Persönlichkeitsrecht angegriffen.

Nun ist Ende August beim zuständigen Gemeindekirchenrat in Wittenberg ein Offener Brief von fünfzig HistorikerInnen aus Israel eingegangen. In ihrem Schreiben plädieren sie eindringlich dafür, diese Skulptur doch an Ort und Stelle zu belassen. Wir dokumentieren hier die wichtigsten Passagen aus beiden konträren Schriftsätzen.

01 dok Verfassungsbeschwerde gegen die BGH-Entscheidung
02 dok Brief der 50 HistorikerInnen aus Israel

01

dok Verfassungsbeschwerde gegen die BGH-Entscheidung

„Das Sandsteinrelief mit der Darstellung der ‚Judensau‘ und mit ihrem Kommentar durch Martin Luther ist in Ansehung der damit verbundenen schweren Persönlichkeitsrechtsverletzung nicht nur des Beschwerdeführers, sondern jedes Juden in Deutschland zu entfernen. …

Die Entfernung der ‚Judensau‘ von der Fassade der Wittenberger Stadtkirche ist entgegen der Auffassung des BGH auch die einzige Maßnahme, die die Persönlichkeitsverletzung des Beschwerdeführers als ‚Jude in Deutschland‘ tatsächlich und nachhaltig beseitigen kann. Eine ‚Kontextualisierung‘ ist … generell nicht ausreichend …

Die Belassung des Sandsteinreliefs mit der ‚Wittenberger Judensau‘ nicht nur an einer christlichen Kirche, sondern damit auch in aller Öffentlichkeit, kann in Deutschland bereits generell nach dem unvorstellbaren und unbeschreiblichen Verbrechen des Holocausts mit der in industriellem Maßstab durchgeführten Ermordung von nahezu 6 Millionen Juden nicht (mehr) akzeptiert werden. Es geht also nicht, wie von den Befürwortern des Belassens der ‚Wittenberger Judensau‘ an der Fassade der dortigen Stadtkirche geltend gemacht, um eine ahistorische Bilderstürmerei, sondern um das längst fällige Eingeständnis, dass Darstellungen gerade aus historischen Gründen aus der Öffentlichkeit verbannt gehören.

Mit anderen Worten: Der so öffentlich präsentierte, abstoßende und »in Stein gemeißelte Antisemitismus« … verschließt sich … jeder Relativierung und Kontextualisierung, insbesondere auch einer solchen in historischer Hinsicht. Genauso wenig wie es jemandem einfallen würde … Hakenkreuz-Embleme oder Hitlerbüsten in der Öffentlichkeit zu belassen und (lediglich) zu kontextualisieren, verliert so ein ‚Schandmal‘ wie die an der Wittenberger Stadtkirche angebrachte ‚Judensau‘ seine abstoßende Wirkung durch Beifügung von ‚Erklärtafeln‘. Das gilt umso mehr und erst recht, als es nicht nur um die mittelalterliche Darstellung der ‚Judensau‘ und ihrer die Schmähung noch vertiefende Kommentierung durch Martin Luther selbst geht, sondern weil diese zutiefst beleidigende Manifestierung eines unversöhnlichen Judenhasses das Menetekel eines sich über die Jahrhunderte immer mehr verstärkenden Antisemitismus darstellt, der in die Shoa einmündete, aufgrund deren Deutschland auf unabsehbare Zeit gebrandmarkt ist.“

02

dok Brief der 50 HistorikerInnen aus Israel

Wir, Kunst- und Kulturhistoriker der verschiedenen Universitäten in Israel, möchten uns gegen die Initiative aussprechen, das anstößige Relief der sogenannten ‚Wittenberger Sau‘ von der südlichen Außenwand der Stadt- und Pfarrkirche St. Marien in Wittenberg zu entfernen. Wir weigern uns zu glauben, dass Antisemitismus durch Bilderstürmerei gestoppt werden kann. Im Gegenteil, wir glauben, dass visuelle Beweise vor Ort das beste didaktische Mittel für die Bildung sind.

Bei der seit Jahrzehnten als Wittenberger Sau gekennzeichneten Botschaft ist die Botschaft durch ihre Sichtbarkeit, den guten Erhaltungszustand und die darüber angebrachte Inschrift von Bedeutung: „Rabini Schem HaMphoras“, die den unaussprechlichen Namen Gottes mit der Sau verbindet. Wittenberg wäre unserer Meinung nach gut beraten, die visuellen Beweise zu nutzen, um historische Informationen über die Beziehungen zwischen Juden und Christen im Mittelalter zu vermitteln und zu diskutieren.

Außerdem wurde 1988, zum Jahrestag des Novemberpogroms, ein von Wieland Schmiedel und Jürgen Rennert geschaffenes Bronzedenkmal unter dem mittelalterlichen Relief als Gegenmonument aufgestellt. Gemeinsam verbinden sie den mittelalterlichen und Martin Luthers Antisemitismus mit dem der Nazis und dienen als direktes und unvermitteltes Mittel, um die Absurdität des Hasses auszudrücken und zu Toleranz und Frieden aufzurufen. Das moderne ortsspezifische Denkmal wird seine Bedeutung verlieren, wenn das mittelalterliche Relief entfernt wird. Sie sind an Ort und Stelle miteinander verbunden.

Sie und wir kennen den Ausdruck „Wenn Wände sprechen könnten“. Von ihrem hohen Standpunkt an der südlichen Außenwand der Kirche konnte die Wittenberger Sau alles sehen, auch Martin Luther, der zum Eingang des Bethauses schritt, um seine Predigten zu halten.

Aus der Sicht von Kunst- und Kulturhistorikern sprechen die Kunstwerke, vor allem, wenn sie vor Ort belassen werden. …

Die Präsenz der ‚Wittenberger Sau‘ im öffentlichen Stadtraum ist eine wichtige Erinnerung an die Vergangenheit; sie zu entfernen bedeutet, die Gräueltaten des Antisemitismus zu beseitigen und zu manipulieren, was zu einer Verleugnung der Vergangenheit führt.

Wir bitten den Gemeindekirchenrat respektvoll, die Entscheidung des Gerichts zu akzeptieren und das mittelalterliche Relief an Ort und Stelle zu belassen, damit die heutige und die nächste Generation und die nächsten Generationen es aus demselben Blickwinkel betrachten können, wie es die Wittenberger seit dem Mittelalter sehen konnten. Es ist ein visuelles Zeugnis vergangener Zeiten, das wir – und Sie – für die Zukunft bewahren müssen.

Außerdem unterstützen wir die Empfehlung des Gerichts, die Gedenkstätte weiter zu entwickeln. …

Mit allem nötigen Respekt … (es folgen die 50 Namen der UnterzeichnerInnen)

Eigene Übersetzung des englischen Textes

* Suche bei: https://www.linkekritik.de/index.php?id=1331

Abb. (PDF): Auch Luthers Gegner waren in ihrer Polemik nicht zimperlich: Dazu dokumentieren wir noch einmal ein Deckengemälde aus dem Goldenen Saal der ehemaligen Jesuiten-Universität Dillingen an der Donau. Darauf ist ein 1762 von Johann Anwander geschaffenes gegenreformatorisches Deckenfresko zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria — im schönsten schwäbischen Rokoko. Die Darstellung enthält ein aggressives Schwein, das einen aufgeschlagenen Folianten mit dem kanonischen Recht, den schriftlichen Glaubensüberlieferungen der Katholischen Kirche, zerstört. Auf der rechten Buchseite wird es mit der lateinischen Aufschrift „Sus Isleb.[ensis]“ als die „Eislebener Sau“ charakterisiert. – Das Bild in Dillingen bezieht sich eindeutig auf die Bannandrohungsbulle „Exsurge domine“ (Erhebe Dich, Herr), die am 15. Juni 1520 vom Papst Leo X. gegen Martin Luther verfasst wurde. Sie zitiert den Psalm 80, in dem es heißt, „wilde Säue haben den Weinberg des Herrn zerwühlt und verderbt“. Quelle: Kleine Hefte zur Denkmalpflege: „Die ‚Wittenberger Sau’“, Halle (Saale) 2020