Politische Berichte Nr.6/2022 (PDF)02c
Blick auf die Medien

Ärztestreiks in Madrid

Claus Seitz, San Sebastian. Unter der Losung „Madrid steht auf für die Verteidigung des öffentlichen Gesundheitswesens“ demonstrierten am 13.11. nach offiziellen Angaben 220 000 Menschen (nach Angaben der Veranstalter 670 000) „gegen den Plan der Zerstörung der medizinischen Grundversorgung durch die Regionalregierung“. Aufgerufen hatte der Regionalverband von 292 Madrider Bürgerinitiativen auf Stadtteil- und Gemeindeebene (FRAVM), unterstützt von Gewerkschaften und Medizinerorganisationen. „Man zwingt die Beschäftigten unter erniedrigenden Bedingungen zu arbeiten. Mit Notfallzentren ohne Ärzte verstößt man gegen die Sicherheit der Bürger.“ Gefordert wurden eine Erhöhung der Investitionen in die medizinische Grundversorgung entsprechend der von internationalen Organisationen empfohlenen Standards, die Einstellung von mehr Personal und die Aufhebung von Gesetzen zur Privatisierung.

Im dezentralisierten spanischen Gesundheitswesen, verwaltet von den Regionalregierungen, erfolgt die medizinische Grundversorgung nicht über Praxen selbständiger Hausärzte, sondern über ein Netz öffentlicher Gesundheitszentren mit angestellten Allgemeinmedizinern („Familienärzten“), Kinderärzten, Pflegern, Sanitätern und Verwaltungspersonal. Hier sind auch Notfallaufnahmen und weitere Fachärzte angesiedelt. Im Regelfall sind die Versicherten einem bestimmten Familienarzt zugeordnet.

Zum Zeitpunkt der Demonstration befand sich das Personal der Notfallaufnahmen der Madrider Gesundheitszentren bereits sieben Tage im Streik gegen den Plan der Madrider Regionalregierung zur Wiedereröffnung von 37 Notfallaufnahmen, ohne die dafür notwendigen Personaleinstellungen vorzunehmen. Nach drei weiteren Streiktagen konnte die Ärztegewerkschaft Amyts in einem Abkommen mit der Regionalregierung ihre wesentlichen Forderungen bezüglich Personalbesetzung, Selbstverwaltung, Einsetzung eines Evaluierungskomitees und eines Runden Tisches durchsetzen.

Am 21.11. rief Amyts ca. 5 000 Familien- und Kinderärzte in den 430 Madrider Gesundheitszentren zu einem weiteren unbefristeten Streik gegen die unerträglich hohe Arbeitsbelastung und miserable Arbeitsbedingungen auf. Gefordert werden maximal 31 Patienten pro Tag (für die Kinderärzte 21), anstatt der üblichen 50 bis 60. Daneben familienfreundliche Arbeitszeiten, Angleichung der Gehälter auf das Niveau der Krankenhausärzte, zum Teil Forderungen, deren Erfüllung der Ärztegewerkschaft 2020 von der Regionalregierung versprochen, aber nicht eingehalten wurde. Amyts vermeldet eine historisch hohe Streikbeteiligung. Die letzten Verhandlungen am 2.12. scheiterten.

Auch in anderen Landesteilen rumort es unter den Ärzten: In Katalonien droht die Gewerkschaft Metges, kurzfristig einen Streik auszurufen, falls ihre Forderungen gegen prekäre Arbeitsbedingungen nicht erfüllt werden. Streiks sind auch in Murcia und Navarra geplant. In Sevilla und anderen andalusischen Städten demonstrierten am 26.11. die Ärzteorganisation Marea Blanca (Weiße Flut) und Gewerkschaften gegen den Kollaps der medizinischen Grundversorgung und gegen die Verschiebung von Operationspatienten in Privatkliniken. „Dem öffentlichen Gesundheitswesen wird das Blut ausgesaugt.“ In Galicien rief die Plattform SOS Sanidade Publico am 30.11. an 30 Orten zu Kundgebungen für die „Verteidigung der medizinischen Grundversorgung“ auf.

Madrid, die reichste der spanischen Regionen, investierte 2021 am wenigsten in das Gesundheitswesen: 1170 Euro / Kopf (nationaler Durchschnitt 1478 Euro). 69,7 % der Mittel flossen in die Krankenhäuser, nur 10,8 % in die Primärversorgung (OMS-Empfehlung 25 % in die Primärversorgung). Nach Auffassung von Amyts fehlen in Madrid 1200 bis 1300 Ärzte. Auf einen Termin muss je nach Zentrum zwischen vier bis fünf Tage oder 15 bis 20 Tage gewartet werden.

Wegen der schlechten Versorgung in den Gesundheitszentren flüchten viele in private Krankenversicherungen. Hier ist Madrid Spitzenreiter, 38,1 % seiner Einwohner haben eine private Krankenversicherung, im spanischen Durchschnitt 24 %.

Obwohl Spanien über 55 medizinische Fakultäten verfügt und sich 2022 die Rekordzahl von 8777 Studenten in Medizin eingeschrieben hat, fehlt es paradoxerweise an Ärzten.

Symptomatisch dafür: Im Juni dieses Jahres bot Madrid 338 Familienärzten, die gerade ihre Facharzt-Ausbildung beendet hatten, 197 Stellen an. Nur 59 nahmen eine Stelle an, von 26 Kinderärzten lediglich 5.

Viele ziehen es wegen der prekären Arbeitsbedingungen (50 % befristete Verträge, hohe Arbeitsbelastung, schlechte Arbeitszeiten, niedrige Gehälter, fehlende Wertschätzung) vor, in andere Regionen, in das private Gesundheitswesen, auf eine Stelle in der Forschung, in der Lehre, in Altenheimen zu wechseln oder ins Ausland zu gehen Zwischen 2011 und 2021 emigrierten ca. 18 000 Ärzte, vorrangig nach Frankreich, Großbritannien, Deutschland, in die Schweiz oder nach Irland. Das ärztliche Durchschnittsgehalt in Spanien liegt mit 53 000 Euro deutlich unter dem anderer europäischer Länder.