Politische Berichte Nr.6/2022 (PDF)09
EU-Politik

Mindestlohnrichtlinie und Tarifbindung

Rolf Gehring, Brüssel. Mit einer sehr starken Mehrheit im Europäischen Parlament im September und dann einer Verabschiedung im Rat Anfang Oktober wurde die Richtlinie für einen europäischen Rechtsrahmen zu Mindestlöhnen verabschiedet. Der Umsetzungszeitraum beträgt zwei Jahre. Kernelemente sind angemessene Mindestlöhne, Kriterium hierfür ein Lebensunterhalt, der vor Armut schützt (Orientierungsmarken 50% des Durchschnittlohns oder 60% des Medianwertes), sowie mindestens 70% Tarifbindung. Relevant auch die folgenden Vorgaben: Öffentliche Auftragsvergabe nur bei Tarifbindung; Aktionsprogramme zur Anhebung der Tarifbindung; Aufbau der Kapazitäten der Sozialpartner. Wo der Mindestlohn über Tarife für alle Beschäftigten gesichert ist, greifen die Vorgaben der Richtlinie nicht.

Die Richtlinie und vor allem der Vorgang ihrer Entstehung zeigen eine Stärke der Verfahren in der EU. Thorsten Müller (ETUI) und Thorsten Schulten (WSI) beginnen einen Aufsatz zu Entstehung und Inhalten der Richtlinie mit Ausführungen dazu, dass etwas Historisches gelungen sei. Tatsächlich hat hier ein erfolgreicher Aushandlungsprozess zwischen enorm differierenden Ausgangspunkten stattgefunden. Erstens ist die EU nicht zuständig für Tarif-, Streikrecht und Koalitionsfreiheit. Zweitens, die industriellen Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaten der EU, die Organisationsgrade und die institutionelle Rolle der Gewerkschaften in den Gesellschaften variiert in sehr hohem Masse. Drittens, die Tarifbindung aber auch die wesentliche Ebene (allgemein, Branchen-, Haustarif) variieren erheblich, siehe Grafik aus dem Aufsatz). Viertens, insbesondere die dänischen und die schwedischen Gewerkschaften hatten sich vehement gegen eine solche europäische Richtlinie gestellt, fürchtend, ihre gesellschaftliche Rolle und die Tarifautonomie würden infrage gestellt. Trotz all dieser Differenzen sind weitreichende Zielstellungen zu Lebensstandards, Arbeitsbeziehungen und der Funktion von Tarifverträgen erreicht worden. Vor dem Hintergrund schwacher Organisationsgrade wird aber der Weg der Allgemeinverbindlicherklärung in vielen Ländern mittelfristig der wahrscheinlichste sein, um Tarifbindungen zu erhöhen.

Abb. (PDF): Tarifbindung in europäischen Ländern (in Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen). Aus: Thorsten Müller und Thorsten Schulten, https://journals.akwien.at/wug/article/view/155