Politische Berichte Nr.6/2022 (PDF)20
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Rechte Provokationen – demokratische Antworten – Redaktionsnotizen. Zusammengestellt von Rosemarie Steffens, Langen, Hessen

01 Meloni und die italienische Verfassung Paola Giaculli.
02 AfD-Wähler tendieren zum Systemwechsel Gerd Wiegel,
03 Urteil im „NSU-2.0“-Komplex Olaf Argens.
04 Johannes Hillje erhält die Auszeichnung „Kasseler Demokratie-Impuls“. Rosemarie Steffens.
05 Datenlücken verschleiern Antisemitismus in EU-Staaten. Michael Juretzek.

01

Meloni und die italienische Verfassung

Paola Giaculli. Zum ersten Mal in der Geschichte wird Italien von einer Ministerpräsidentin regiert, Giorgia Meloni, Chefin der Fratelli d’Italia, (FdI, Brüder Italiens), Nachfolgepartei einer verfassungsfeindlichen Kraft, der neofaschistischen Movimento sociale italiano (MSI). Begründer dieser MSI-Partei (1946 bis 1995) waren ehemalige Funktionäre der Repubblica di Salò (September 1943 bis April 1945), der faschistischen Marionettenregierung im Dienst der deutschen Besatzung. Als grausame Gegner der Widerstandsbewegung wurden sie Mittäter bei Gräueltaten gegen Partisan:innen und Zivilisten. Ein Jahr nach Kriegsende (2. Juni 1946) wurden viele Vertreter:innen des Comitato di Liberazione nazionale (Komitee für die nationalen Befreiung, in dem die antifaschistischen Widerstandskräfte von 1943 bis 1945 organisiert waren und das die befreiten Gebiete zum Teil verwaltete) in die parlamentarische verfassungsgebende Versammlung (Assemblea costituente) gewählt. Die MSI gab es noch nicht. 1948 wurde die Verfassung verabschiedet. FdI als Nachfolgepartei der faschistischen MSI entstammt also aus einer Tradition, die sich der antifaschistischen Verfasstheit der italienischen Republik entgegenstellte und den grundlegenden Antifaschismus ausdrücklich nicht bekannte.

Ministerpräsidentin Meloni und ihre Regierungsmitglieder schworen zwar der Verfassung ihren Eid vor dem Staatspräsidenten, wie es sich gehört. Es gebe aber Gründe, daran zu zweifeln, dass ein solcher Eid durch ihre überzeugte und vollkommene Teilung der Verfassungswerte und deren demokratischer und antifaschistischer Struktur unterstützt werde, so der neu gewählte Roberto Scarpinato, ehemaliger Antimafia-Staatsanwalt im Parlament nach der Vorstellungsrede Melonis. Der Faschismus sei Geschichte und sie habe keine Sympathien für Totalitarismen, hatte Meloni gesagt. Aber Scarpinato wies darauf hin, der Faschismus sei eine Ideologie, die nach dem Krieg überlebte und den Neofaschismus der 1970er und 1980er Jahren prägte. Dieser war verantwortlich für mörderische Terroranschläge gegen Zivilisten und wollte damit die Umsetzung der Verfassung sabotieren. Teile der Partei Melonis verehrt noch Menschen, die in nachweisbarer Nähe zu Mördern standen und feiern Faschisten. Es lohnt sich hier daran zu erinnern, dass Meloni 1992 Mitglied des MSI-Jugendverbandes Fronte della Gioventù wurde.

02

AfD-Wähler tendieren zum Systemwechsel

Gerd Wiegel, Zeitschrift Luxemburg, Okt. 22. Gewählt wird die Partei als einzig wahrnehmbare Opposition zur Politik der Bundesregierung und als Adressat aller Ängste und Verunsicherungen, die mit dem Krieg und seinen Folgen zu tun haben. Dabei ist die Kennzeichnung als „Protestwahl“ jedoch zu kurz, denn dieser Protest hat eine klare politische Ausrichtung. In Niedersachen und darüber hinaus sammelte die AfD gegenwärtig vor allem diejenigen ein, die eine grundsätzliche und fundamentale Unzufriedenheit mit der herrschenden Politik und dem politischen System vertreten, die Politik vor allem an (eng definierten) nationalen Interessen ausgerichtet sehen wollen und die mit Blick auf Energie-, Familien- und Zuwanderungspolitik traditionelle bis reaktionäre Ansichten vertreten. Es sind mehrheitlich nicht in erster Linie Menschen, die aktuell sozialen Abstieg erleben, die ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben. Zwar geben in Niedersachsen 32 Prozent der AfD-Anhänger*innen ihre soziale Situation als „schlecht“ an, 66 Prozent bewerten sie aber als „gut“. Die Mehrheit derer, die sich wirtschaftlich als schlecht gestellt ansehen, wählten SPD (29 Prozent) oder CDU (26 Prozent), erst dann folgt die AfD (21 Prozent). Es ist also weder in Niedersachsen noch sonst zuerst die eigene soziale Lage, die Menschen zur AfD treibt.

03

Urteil im „NSU-2.0“-Komplex

Olaf Argens. Das Frankfurter Landgericht verurteilte am 17. November den Verfasser einer Serie von rechtsradikalen Drohschreiben Alexander M. aus Berlin wegen einer Vielzahl von Delikten zu einer hohen Haftstrafe. In 30 Verhandlungstagen hatte das Gericht die zahlreichen Empfänger:innen der seit 2018 versandten und mit NSU 2.0 unterzeichneten rechtsextremen, rassistischen und frauenfeindlichen Hass- und Drohschreiben angehört, darunter Unterhaltungskünstler:innen, Journalist:innen, Anwält:innen und Politikerinnen der Linken. Die Schilderungen hätten gezeigt, „wie schrecklich es sein kann, wenn die Menschenwürde angetastet wird“ begründete die Vorsitzende Richterin das Urteil: „Die Opfer fühlen sich hilflos, sie wurden traumatisiert“. Betroffene Frauen, darunter die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, die 2018 das erste Schreiben mit Todesdrohungen erhalten hatte, forderten nach der Verkündung des Urteils weitere Aufklärung. Das Gericht konnte nämlich nicht aufklären, wie Alexander A. an die privaten Daten betroffener Personen gelangte, die auf verschiedenen Polizeirevieren kurz vor den Drohschreiben abgefragt worden waren.

04

Johannes Hillje erhält die Auszeichnung „Kasseler Demokratie-Impuls“.

Rosemarie Steffens. Seine Promotion über die AfD und ihre Strategien in der Massenkommunikation zeigt, wie die AfD ihre Kommunikation in Mobilisierung und Wahlerfolge verwandelt. Durch zahllose Beiträge auf Facebook, Twitter, YouTube oder Instagram erreicht sie mehr Menschen als jede andere Partei in Deutschland, sie ist die erste digitale Massenkommunikationspartei.

Die Studie ist als Buch unter dem Titel: Das „Wir“ der AfD – Kommunikation und kollektive Identität im Rechtspopulismus“ erschienen. Zentral ist die Frage nach dem einenden Band zwischen Partei und Anhängerschaft, das die AfD mangels gesellschaftlicher Verankerung durch ihre Social-Media-Kanäle knüpfen muss. Das „Wir“ der AfD wendet sich gegen Andere und ist emotional sowohl negativ („Wir, die kulturell Bedrohten“) als auch positiv („Wir, die Retter unserer Kultur“) aufgeladen.

Quelle: „Das „Wir“ der AfD“, Campus Verlag, 2022, 29,99 €. https://www.uni-kassel.de/uni/aktuelles/meldung/2022/11/16/politikwissenschaftler-mit-kasseler-demokratie-impuls-ausgezeichnet?cHash=17fd747f99e77c47da193fd1c1db9de4

Abb. (PDF): Cover

05

Datenlücken verschleiern Antisemitismus in EU-Staaten.

Michael Juretzek. Die aus Deutschland gemeldeten antisemitischen Vorfälle sind gegenüber dem Vorjahr von 2.351 auf 3.027 um 29% gestiegen. Das geht aus dem Jahresbericht der Europäischen Agentur für Grundrechte (Wien) hervor, den der Direktor Michael O´Flaherty mit den Worten präsentierte: „Antisemitismus ist ein ernstes Problem. Ohne die entsprechenden Daten wissen wir jedoch nicht, wie ernst die Situation wirklich ist. Fehlende Daten erschweren uns die wirksame Bekämpfung von Antisemitismus“. Ungarn und Portugal sammeln bisher keine offiziellen Daten. Er bemängelt, dass nur 13 von 27 EU-Ländern Strategien oder Aktionspläne gegen Antisemitismus haben, obwohl während der Covid-Pandemie der Antisemitismus zugenommen hat, besonders im Internet.

https://fra.europa.eu/de/news/2021/antisemitismus-datenluecken-verschleiern-die-wahre-situation