Politische Berichte Nr.6/2022 (PDF)21
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Formiert sich im Osten eine faschistische Bewegung?

Christiane Schneider, Hamburg

Ende Oktober warnte der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow in der FAZ (23.10.) eindringlich vor einer „neuen faschistischen Bewegung mitten in Deutschland“, die die „Montagsdemonstrationen … für sich zu nutzen“ wisse.

Seit dem Spätsommer fanden in den ostdeutschen Bundesländern in immer mehr Orten mit immer mehr Teilnehmern Montagsdemonstrationen statt. Am 3. Oktober, dem „Tag der deutschen Einheit“, demonstrierten hier in Dutzenden von Orten Zehntausende, 36 000 allein in Thüringen, davon 10 000 in Gera auf einer von der extremen Rechten organisierten Veranstaltung. Hauptredner war der AfD-Fraktionsvorsitzende Höcke. Er hielt eine Rede, die keine Zweifel an der Absicht der extremen Rechten ließ, die durch Inflation und Energiekrise bedingte Not vieler Menschen zur Mobilisierung für einen „regime change“ zu nutzen.1 Die „raumfremde Macht“ USA treibe „auf unserem Kontinent“ Keile zwischen Nationen, „die eigentlich gut miteinander arbeiten könnten“, nämlich Deutschland und Russland, die „ähnliche seelische Prägungen“ hätten. Die USA treibe uns über eine „fremdbestimmte Bundesregierung in einen Krieg, der nicht der unsere ist“. Diese Regierung „stoße uns in Not und Elend“, aber die AfD als „parlamentarischer Arm der Volksopposition“ werde die Rettung bringen, denn sie sei stärkste Kraft in Thüringen und werde „2024 die Machtfrage stellen“. Formal mochte sich diese Ankündigung auf die Thüringer Landtagswahlen beziehen, aber im Zusammenhang seiner Rede spielte Höcke damit drohend auf einen grundsätzlichen politischen Umbruch an.

Derzeit nehmen die Demonstrationen zahlenmäßig wieder ab. Doch Entwarnung wäre verfrüht. Der Magdeburger Sozialwissenschaftler David Begrich2 etwa warnt, dass sie im Winter wieder kräftig ansteigen könnten. Die meisten der Demonstration finden bisher in kleinen und mittleren Städten statt. Wenn in Orten mit wenigen zehntausend Einwohnern Montag für Montag Hunderte oder gar Tausende demonstrieren, dann entfaltet das eine dominierende Wirkung auf die öffentliche Meinung. Auch wenn sich die Demonstrierenden oft nicht als Rechte, sondern eher als „unpolitisch“ verstehen, ist der Einfluss extrem rechter Organisationen, nicht nur der AfD, sondern häufig von kleineren, aber schlagkräftigen Organisationen wie den „Freien Sachsen“ enorm. Sie bilden meist das organisatorische Rückgrat und stellen Redner, die oft nicht als Organisationsvertreter auftreten, sondern als „Redner aus dem Volk“, und die Stimmung aufheizen.

Die Situation im Osten unterscheidet sich deutlich von der in den westlichen Bundesländern. Davon ist ein Bündel von Ursachen verantwortlich. So ist die soziale Situation vieler Menschen prekärer als im Westen: Die Löhne sind durchschnittlich immer noch um mehr als 13% niedriger, und auch ein Rentnerhaushalt hat hier durchschnittlich fast 14% weniger zum Leben. Die Preise für Gas und Benzin dagegen sind höher. Auch sind die Rücklagen, auf die Ostdeutsche zurückgreifen können, in der Regel erheblich niedriger. So trifft die Inflation viele Menschen hart und unerbittlich. Mehrere der größeren Demonstrationen, z.B. in Dessau oder in Annaberg im Erzgebirge, wurden von Zusammenschlüssen von Handwerkern und (Klein-) Unternehmern organisiert, die die Energiepreise nicht mehr zahlen können, Aufträge verlieren oder oft auch in hohem Maß vom Russlandgeschäft – von günstigen Gaslieferungen oder vom russischen Absatzmarkt – abhängig waren und nun um ihre Existenz bangen.

Aber nicht nur deshalb ist die Forderung nach Beendigung der Sanktionen gegen Russland und nach Öffnung von Nordstream 2 weit verbreitet, unterscheidet sich auch die Sicht vieler Ostdeutscher auf Russland und Putins Angriffskrieg deutlich von der in Westdeutschland vorherrschenden. Gerade in den älteren Jahrgängen, die oft die Jahre nach der „Wende“ als Entwertung ihrer Lebenserfahrungen und Lebensleistungen erlebt haben, wirken die in über 40 Jahren DDR ausgeprägten Wahrnehmungs- und Deutungsschemata, auf die man zur Erklärung des Krieges und der damit verbundenen Krise zurückgreift.3 Höcke & Co. wissen Skepsis und Gegnerschaft gegenüber „dem Westen“ auszunutzen.

Weitere Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Ein harter Kern der montäglich Demonstrierenden kommt aus der Tradition der Pegida- und der Corona-Demonstrationen mit ihren Verschwörungserzählungen. „Sie artikulieren … ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Politik und Medien auf Basis einer autoritär geprägten Elitenkritik“, schreibt David Begrich.4 Sie wähnen sich in einer Diktatur, die potenziell entgrenzten Widerstand rechtfertigt. Auch der Jenaer Rechtsextremismusforscher Matthias Quent stellt fest, dass es bei den Demonstrationen in diesem Herbst „in aller Regel gar nicht primär um die Energiepreise geht, sondern um eine Versöhnung mit Russland, dass dort gegen Migration gehetzt wird, dass es um Maskenpflicht und Corona-Maßnahmen geht …“ Quent warnt ebenso wie Ramelow vor der Formierung einer „faschistischen Bewegung auf der Straße“.5 Insofern habe man es eher mit National- als mit Sozialprotesten zu tun. Eine Abgrenzung derjenigen, die sich selbst als „unpolitisch“ bezeichnen, von den rechten Akteuren findet praktisch nicht statt. Diese finden im Gegenteil viele Anknüpfungspunkte für ihre explizit rechte Propaganda.

Sein Gewaltpotenzial hat ein harter Kern der Demonstrierenden bereits bei den Coronaprotesten unter Beweis gestellt, vor allem durch aggressive Fackelaufzüge zu den Wohnsitzen politischer Repräsentanten. Beunruhigend ist auch die Tatsache, dass viele, die als Jugendliche in den Nachwendejahren, den durch entfesselte rechte Gewalt geprägten „Baseballschlägerjahren“, sozialisiert wurden, heute als 40- bis 50-Jährige nicht nur überdurchschnittlich AfD wählen, sondern oft in den Protestbewegungen aktiv sind.

Auf einer Tagung des Hamburger Bündnisses gegen Rechts zeichnete Begrich ein insgesamt sehr bedrückendes Bild von der Situation in den ostdeutschen Klein- und Mittelstädten. Links von der CDU gebe es hier praktisch keine mobilisierungsfähige Kraft mehr. Die Linke sei hier ebenso wenig handlungsfähig wie SPD, Grüne und Gewerkschaften. Die Staatsorgane seien weder willens noch in der Lage, Entgrenzungen des Protests wie Schilder mit Galgen oder auch Gewalt zu unterbinden. Es finde eine Normalisierung des Rechtsextremismus statt.

1 Siehe Politische Berichte 5/22, S. 22, Die neue Rechte und der „heiße Herbst“ 2 Einen sehr hörenswerten Vortrag zum Thema „Protestgeschehen und -milieus in Ostdeutschland im Herbst ‚22“ hielt Begrich in einer Online-Veranstaltung des Paritätischen am 22.10.22, zu finden unter https://www.youtube.com/watch?v=0BxCnI_2b8w 3 Siehe z.B. die ARD-Dokumentation „Russland, Putin und wir Ostdeutsche“, zu finden in der ARD-Mediathek 4 In: Heißer Herbst gegen die Demokratie, Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2022 5 Deutschlandfunk, 15.10.22

In Erfurt und Leipzig stießen Nazi-Demonstrationen auf kräftigen Widerstand. In Leipzig konnten rund 2 000 Gegendemonstranten die Demonstration „Ami go home“, die der Veranstalter Elsässer großspurig mit 15 000 Teilnehmern angemeldet hatte und die schließlich nur 900 Rechte auf die Straße brachte, durch Blockadeaktionen verhindern.