Politische Berichte Nr.6/2022 (PDF)24
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Marxisten und Christen im Dialog

Gemeinsames Positionspapier „Auf der Suche nach einer gemeinsamen Zukunft in Solidarität“

Karl-Helmut Lechner, Norderstedt

Am 8. November 2022 fand mit Unterstützung der Linksfraktion im Europäischen Parlament im Altiero-Spinelli-Gebäude die Präsentation des gemeinsamen Positionspapiers „Auf der Suche nach einer gemeinsamen Zukunft in Solidarität. Christen und Marxisten/Sozialisten im Dialog“ statt.

Das Dokument über gemeinsame Positionen im christlich-sozialistischen Dialog, das von Prof. Michael Brie von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem belgischen Soziologen Prof. Bernhard Callebaut vom Sophia University Institute verfasst wurde, analysiert, wie Christentum und Marxismus als in der Vergangenheit erbitterte Gegner heute in der Lage wären, daran mitzuarbeiten, gemeinsam den „grausamen Kapitalismus“ zu überwinden — und wie sie dabei überraschende Affinitäten finden.

Die Idee zu diesem Dialog zwischen Marxisten und Christen entstand bei einem Treffen im Jahr 2014 zwischen Papst Franziskus und zwei Vertretern der Partei der Europäischen Linken: Alexis Tsipras, damals Chef der linken Opposition zur konservativen griechischen Regierung, und Walter Baier, Koordinator von Transform!.

Marxistisch-christliche Dialoge hatten bereits seit den 1960er Jahren in Lateinamerika stattgefunden. Dort übernahmen viele Christen bestimmte wichtige marxistische Konzepte, während die Linke — oder zumindest der größte Teil von ihr — die Christen nicht nur herzlich in ihren Reihen willkommen hieß, sondern auch den Atheismus als doktrinäre Grundlage für linke Politik aufgab.

In Europa ist der historische und politische Kontext natürlich ein ganz anderer. In der Vergangenheit gab es verschiedene Formen des Dialogs, aber eine neue Situation ist entstanden einmal durch das Verschwinden des „real existierenden Sozialismus“, der oft im Konflikt mit der katholischen Kirche stand, und dann durch die Wahl von José Maria Bergoglio zum Papst Franziskus im Jahr 2013.

Das Ziel dieses Dialogs ist es natürlich nicht, Christen zum Marxismus zu „bekehren“ oder selbst, als Marxisten, treue Katholiken zu werden. In diesen Diskussionen geht es nicht um Glauben oder Atheismus, Materialismus oder Idealismus, Theologie oder Wissenschaft, Spiritualität oder Klassenkampf. Es ist ein freier Austausch, bei dem jede Seite versucht, von der anderen zu lernen, und beide versuchen, gemeinsame Werte, gemeinsame Interessen und gemeinsame Ziele, ja, vielleicht sogar eine gemeinsame politische Ethik zu entdecken; ohne Unterschiede, Widersprüche und Gegensätze zu verstecken.

In dem Dokument werden die Projekte als Arbeitsfelder definiert: „eine Ökonomie des Lebens; eine Gemeinschaft der Fürsorge; eine Politik der solidarischen Transformation; eine Welt, in der es Platz für viele Welten gibt; die Würde jedes Einzelnen in einer reichen Welt der Commons; und für ein Miteinander des Friedens“. Die Frage, wie die Projekte zum Zeitpunkt der Debatte in die Praxis umgesetzt werden, ist daher unausweichlich. Walter Baier von Transform!Europe, einer der Initiatoren und Koordinatoren, antwortete: „Wir bewegen uns auf drei Ebenen, … erstens den Dialog als kulturelle Initiative, um ein Think Tank zu werden; zweitens die Menschen in die Arbeit für die Solidarität einzubeziehen, wie in den Initiativen für Immigranten und Flüchtlinge; drittens das politische Engagement anzuregen, vor allem für die Friedensbildung.“

Die Laudatio auf das präsentierte Papier hielt Frau Marisa Matias, portugiesische Europaabgeordnete des „Bloco de Esquerda“ und Vizepräsidentin der Partei der Europäischen Linken im Europäischen Parlament.

„Um heute zu leben, brauchen wir Visionen, Geist und Allianzen. Es ist an der Zeit, zu hoffen und Hoffnung ‚im Plural‘ zu geben. Dieser Dialog lädt uns dazu ein“, sagte der Theologe Piero Coda in seiner Eröffnungsrede über „Gemeinsame Wege zu einer globalen, gerechten und brüderlichen Gesellschaft“ nachzudenken. Ein Plural, der uns dazu auffordert und einlädt, die Bündnisse nicht nur in der katholischen, sondern in der gesamten christlichen Welt zu erweitern und in einer ökumenischen Dimension nicht nur das Christentum, sondern auch andere Religionen und nicht nur die Linke, sondern alle politischen Kräfte, die sich für das Gemeinwohl und den Schutz der Umwelt einsetzen, einzubeziehen. Dazu ist es zunächst notwendig, auf den Anspruch zu verzichten — wie es in dem Dokument heißt — „ein Monopol auf die Wahrheit zu haben“.

Quelle: https://dialop.eu/news/presentation-at-the-european-parliament-8th-nov-2022-press-release. https://dialop.eu/wp-content/uploads/2022/10/DIALOP_PositionPaper_U_20220930.pdf

Abb. (PDF): Das Koordinierungsteam von DIALOP (Cornelia Hildebrandt, Franz Kronreif, Luisa Sello, Walter Baier), unterstützt von Luciana Castellina, Roberto Morea (Transform!Italia) und Mitgliedern des MPPU (Movimento politico per l‘unità), organisierte das Treffen in Brüssel, bei dem das von Marxisten und Christen gemeinsam erarbeitete Dokument für eine transversale Sozialethik jenseits unterschiedlicher Überzeugungen vorgestellt wurde.