Politische Berichte Nr.6/2022 (PDF)26
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Der folgende Beitrag wurde für die Dezemberausgabe Der Zeitschrift „Standpunkte“ des Münchner Forums – Diskussionsforum für Entwicklungsfragen e.V. verfasst, die eine Reihe von Beiträgen zur Fragestellung drunter und/oder drüber – Straßentunnels in München enthält. Die Zeitschrift ist auf der Webseite des Forums zu finden. https://muenchner-forum.de/veroeffentlichungen/

Münchner Straßen-Tunnel – ein Verfahren kommt an seine Grenze

Martin Fochler, München

Bei der Erörterung der anstehenden, oder besser, schwebenden Planung weiterer Tunnel für den Kraftfahrzeugverkehr im Rahmen einer außerordentlichen Programmausschuss-Sitzung des Münchner Forums Ende Juli dieses Jahres kam die wachsende Skepsis zur Sprache, die in den Meinungen in der Stadtöffentlichkeit zu spüren ist. Bereits 1996 fanden Straßen-Tunnels zur Lösung von Münchner Verkehrsproblemen nur noch eine knappe Mehrheit (1).

Wer die Verkehrssituation Münchens zu Beginn der 1960er Jahre erlebt hat, weiß von dem Lärm, der schlechten Luft, den langen Wegezeiten, dem Stau und Gedränge und der Gefahr für Leib und Leben – Probleme, die uns geblieben sind? Durchaus; dennoch: Für das Jahr 2021 müssen wir im Stadtgebiet nurmehr 15 Verkehrstote beklagen, immer noch zu viele; doch damals waren es jedes Jahr zwischen 200 und 250 Verkehrstote. Diese Situation war unerträglich. Die Idee, das Problem durch den Umbau Münchens zur „autogerechten Stadt“ anzugehen, scheiterte an Kritik der Fachwelt und politischer Aktivität der Bürgerschaft.

Am Ende entstand eine Kombination von U-Bahn und Fußgängerzone, von Verkehrsverlagerung in den Untergrund und Gestaltung von Freiflächen oben sowie eine Kombination eines vorzugsweise kreuzungsfrei, teils in Tunnelbauten verlegten Systems von Schnellstraßen für den Kfz-Verkehr in die Stadt, aus der Stadt und um die Stadt herum. Das S-Bahn-System vervollständigte das Verkehrsnetz. Das Einpendeln zu den Arbeitsplätzen wurde leichter und der Zugang zum breiten Angebot des Einzelhandels auch. Der Ausbau des Flughafens unterstrich die Rolle des Metropolenkerns als Schnittstelle zur „weiten Welt“.

Die Kosten der Mobilität und die Beeinträchtigungen des städtischen Alltags waren enorm, der Plan gleichwohl faszinierend. Der 1962 geprägte und bis 2005 im offiziellen Stadtmarketing verwendete Werbespruch „Weltstadt mit Herz“ beschreibt die Aufbruchstimmung: „Bedeutungsgewinn“ gekoppelt mit „Identitätserhalt“.

Der Ausbau zur U-Bahn-Stadt, (für München) etwas Neues, machte es möglich, das gewachsene Netzwerk der Straßen, Gassen, Wege, der Plätze und Parks weitgehend zu erhalten und doch den Massenverkehr der Moderne abzuwickeln. Die Wegeführung der europäischen Städte, historisch entstanden für den Verkehr im Fußgängertempo, strukturiert den Sozial- und Kulturraum nach menschlichem Maß, sie gibt dem Blick eine Richtung und erlaubt Zeit für ein Innehalten; die Stadt kann erlebt werden.

Die U-Bahn selbst kann – weitgehend – ohne Rücksicht auf die oberirdische Straßenführung gebaut werden. Die Bahnhöfe funktionieren nach oben hin als Verteilungszentren hin zu den Orten mit Zentralfunktion – Behörden, Betriebe, Ausbildungsstätten, Konsumangeboten, dichter Wohnbebauung oder auch Veranstaltungen mit großem Publikumsandrang.

Am Anfang und Ende einer U-Bahn-Fahrt steht ein Fußweg. Alte Entfernungsmaße wie „eine halbe Stunde Wegs“ erhalten neuen Sinn. Weil die Fahrt nicht lange dauert und solange die Taktzeiten kurz sind, wird der eher reizlose bis belastende Aufenthalt im Untergrund – schwere Arbeit für die Menschen, die das System am Laufen halten – für die Passagiere akzeptabel. Und an der Oberfläche zeigt sich die Stadt. Es ist (fast) immer eine kleine Freude des Alltags: aus der U-Bahn heraus an die Oberfläche.

So beeindruckend die spezifische Leistung des U-Bahn-Netzwerkes auch ist, es hat seine Grenzen. Der Aufwand lohnt sich nur, wo die Siedlungsdichte hoch ist. Schon die Querverbindungen zwischen den Streckenästen müssen überwiegend oberirdisch geführt werden, und für den Transport schwerer und sperriger Güter eignet sich das auf Personentransport ausgerichtete System nicht. Die Kombination von U-Bahn, S-Bahn, Regionalbahnen konnte ohne Ausbau der Kfz-Verkehrswege nicht bestehen, und das galt auch für den innerstädtischen Versorgungsverkehr, keineswegs nur fürs Gewerbe – Stichwort „Großeinkauf“.

Wo Schnellstraßen in die Stadt oder auch um sie herumgeführt werden, ist eine kreuzungsfreie Verkehrsführung das Mittel der Wahl. Es werden raumgreifende Verteilerbauwerke nötig. Wer sich an einer der großen Schluchten aufhält, die den Kfz-Verkehr im Siedlungsraum der Stadt kanalisieren, versteht den dringenden Wunsch der Anwohner, diese Lasten ebenfalls unter die Erde zu bringen. Aber anders als z.B. bei U-Bahnhöfen ist der Flächenverbrauch für die Zu- und Abführungen enorm. (3)

In den 1960er Jahren hatte sich die Landeshauptstadt als Wirtschaftsstandort gefestigt, als Wissenschafts- und Forschungsstandort entwickelt, für das ganze Land förderliche Institutionen des Kultur- und Bildungswesens wuchsen, und nicht zuletzt war die Landeshauptstadt nun als Schnittstelle der Region zur globalen Welt gefordert.

Die Ballung produktiver Kräfte aller Art auf engem Raum schuf Führungsvorteile und begünstigte die Entstehung neuer Kombinationen, es folgte eine Spezialisierung von Firmen; Gewerben, Dienstleister, Behörden, Ausbildungsstätten und natürlich auch der Berufe sowie des Warenangebots. Für viele Menschen war der Standort München schon aus Gründen der Berufsausübung alternativlos. Der gesteigerten Mobilität von Menschen und Sachen genügte das Verkehrssystem nicht mehr.

Eine neue Struktur war erforderlich, es wurde ein Prozess nachholender Anpassung der Infrastruktur gestartet, der seither mit beachtlichem Gewinn für Lebensqualität und Produktivität weitergeplant und gebaut werden konnte.

Inzwischen gibt es Anzeichen, dass der Produktivitätsgewinn durch Ballung von Funktionen im Zentrum von Metropolregionen abnimmt. Schnelle Datenverbindungen ermöglichen heute eine andere Lokalisierung von Produktionen und Dienstleistungen im Raum. Der Zwang zur Niederlassung im Zentrum des Ballungsraumes wird schwächer für die Einzelnen wie auch für die Institutionen. Das Konzept der immer dichteren Agglomeration von Menschen, Bauten und Funktionen wandelt sich vom Lösungsansatz zum Problemgenerator.

Die „Stadtentwicklungskonzeption ‚Perspektive München‘ – Bericht zur Fortschreibung 2021“ (4) geht von einer Fortdauer des Ballungsprozesses aus, der als „Wachstumspfad“ bezeichnet wird (S. 17). Wenige Seiten später (S. 25/26) werden „3.2 Nationale und internationale Zielsysteme“ erwähnt, unter anderem die von den zuständigen Ministerien der EU-Staaten getragene „Neue Leipzig-Charta. Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl“ (30. November 2020).

Bei der Lektüre dieses Dokuments drängt sich der Eindruck auf, dass sich neben dem Trend zur Ballung im Zentrum, der die Entwicklung jahrzehntelang bestimmt hat, europaweit die Idee der Organisation des Sozialraums als Netzwerk von Siedlungen in den Vordergrund schiebt.

So wird z.B. ein „Mehrebenen-Ansatz“ propagiert (Seite 24):

„Jede politische Verwaltungsebene – kommunal, regional, in der Metropolregion, national, europäisch und global – ist in bestimmter Weise für die Zukunft unserer Städte verantwortlich. Die Grundlage dafür bilden das Subsidiaritäts- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Komplexe Herausforderungen sollten alle Ebenen der Stadtentwicklungs- und Raumordnungspolitik gemeinsam angehen.“

Man kann sagen, dass in den Planungen der Landeshauptstadt wie in der öffentlichen Meinung der Stadt beide Trends erkennbar sind und im Konflikt liegen. Es ist eine Entscheidungssituation entstanden, in der Maßnahmen, die in der Stadt stattfinden und von den Bürgerinnen und Bürgern getragen werden müssen, nur noch angemessen diskutiert werden können, wenn die Einbettung in globale, europäische, nationale, regionale Bezugssysteme mitbedacht wird.

Bürgerbegehren zum Schutz verbliebener Grünflächen, gegen die Ausrichtung der Stadtentwicklung am veraltenden Konzept der Hochhausstadt, der zähe Kampf um Verkehrsfläche für Mobilität zu Fuß erscheinen in diesem Zusammenhang nicht mehr als Blockade, sie passen zu den neuen Maßstäben gut und bringen sie zur Geltung. Überraschende Initiativen der Bundes- und Landespolitik – genannt sei das bundesweit geltende Ticket für Regionalverkehr – werden verständlich als Versuch, die großen und kleinen Siedlungskerne als Knoten eines Netzwerkes zu organisieren. Auf jeden Fall würde es sich lohnen, die entsprechenden politischen Dokumente zu diskutieren. Es handelt sich ja nicht um irgendwelche Gedankenspiele, sondern um politische Maßgaben, die am Ende durchgreifen.

Abschließende Bemerkung: Die Anbindung an das Schnellstraßensystem war für die Stadtentwicklung unerlässlich. Der Ausbau hat – siehe die Anzahl der Verkehrstoten als Indikator – das Leben mit dem Kfz-Verkehr im Ganzen leichter gemacht, allerdings blieb es an einer Reihe von Punkten und Straßen bei kaum erträglichen Wohnsituationen; Fläche wurde verbraucht und historische Grünanlagen durchschnitten. Verlegung unter die Erde hilft, solche Wunden zu heilen. Die erheblichen Kosten können gerechtfertigt werden, solange es sich nicht nur um eine Verschiebung der Belastung auf andere Akteure handelt und der Flächengewinn auf dem Tunneldeckeln nicht durch Flächenverbrauch bei Zu- und Abfahrten aufgefressen wird. Dazu käme es jedoch, wenn – wie bei den zurzeit diskutierten Hochhausplanungen – die unter solchen Baumassen geplanten Tiefgaragen an das Netz der Schnellstraßen angebunden werden sollen.

Zum Weiterlesen: 1 Siehe Liste der Tunnel in München – Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Tunnel_ in_M%C3%BCnchen#Hintergrund ET sowie Verkehr – Bürger entscheiden für drei Tunnel am Mittleren Ring – München – SZ.de (sueddeutsche.de) SZ vom 24.06.1996 https://www.sueddeutsche.de/muenchen/ver- kehr-buerger-entscheiden-fuer-drei-tunnel-am-mittleren- ring-1.751390 ET 2 Weltstadt mit Herz – Historisches Lexikon Bayerns (historisches-lexikon-bayerns.de), https://www.histori- sches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Weltstadt_mit_Herz ET 3 Bildschirmkopie aus: https://geoportal.bayern.de/ bayernatlas, Brudermühlstraße – Wikipedia, https:// de.wikipedia.org/wiki/Bruderm%C3%BChlstra%C3%9Fe ET 4 Fortschreibung Perspektive München, München, Mai 2022, https://stadt.muenchen.de/dam/jcnb129023c-5202- 4788-9f5e-a38b47b83776/2021_Fortschreibung_PerspektiveMuenchen.pdf ET (5) https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/sonderveroeffentlichungen/2021/neue-leipzig-charta- pocket-dl.pdf?blob=publicationFile&v=3 ET

Abb. (PDF): Karte links: Beispiel für raumgreifende Verkehrsführung: Kreuzung Mittlerer Ring / Plinganserstraße mit Zuführung zum Brudermühltunnel; im Vergleich rechts: U-Bahnstation Brudermühlstraße

Abb. (PDF): Foto rechts: Westportal des Brudermühltunnels und Oberflächenfahrbahnen.

Im Hintergrund das Heizkraftwerk Süd

Abb. (PDF): Anzeige „Standpunkte“, online-Magazin kostenfrei bestellen: https://muenchner-forum.de/veroeffentlichungen/#magazin