Politische Berichte Nr.6/2022 (PDF)30
Kalenderblatt

Kalenderblatt: Januar 1920 Deutschland – Die „Freie Volkshochschule Hannover-Linden“ wird eröffnet

01 Hinweis auf DTN und Hannoversches Schulprojekt
02 Ada und Theodor Lessing
03 Bildungsurlaubsgesetze
04 Hinweis auf Kalenderblätter zum Thema.

Eva Detscher, Karlsruhe, Rolf Gehring, Brüssel

Volkshochschulen – die meisten entstanden unmittelbar im Anschluss an den Ersten Weltkrieg im Jahr 1919 – sind aus der heutigen Angebotslandschaft im Sinne von „Bildung für alle und alle Altersgruppen“ nicht mehr wegzudenken. Die Gründungsgeschichte der VHS Hannover ist repräsentativ und einzigartig zugleich: – was 2004 die Klasse BO9a der Berufsbildenden Schule 13 in Hannover dazu brachte, über Theodor und Ada Lessing, die Gründer der VHS Hannover, zu recherchieren. Das biografische Porträt mit dem Titel „Gehasst, gejagt, ermordet“ war ein Projekt für den „Literaturatlas Niedersachen“ [1]

Die gewaltigen Veränderungen der Gesellschaft Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts und ihr Zustand 1918-1919 haben auch im Umkrempeln bisheriger Vorstellungen, was „Bildung“ überhaupt sei, ihren Ausdruck gefunden. Orientiert z.B. an der von Nicolai F.S. Grundtvig geprägten dänischen nicht-staatlichen Volkshochschule (gegründet 1844 in Rødding; siehe Politische Berichte 5/2017) haben die vielen Stränge der Kultur- und Schulkritik, der Reformpädagogik, der Jugendbewegung und der Arbeiterbildung mit Art. 148 der Weimarer Reichsverfassung die rechtliche Grundlage für die Erwachsenenbildung erhalten. Deutschlandweit kam es 1919 zu einem Gründungsboom der Volkhochschulen. In Linden, was damals ein Vorort von Hannover war, engagierten sich Ada und Theodor Lessing in der Initiative zur Gründung einer Bildungseinrichtung für Erwachsene. Theodor Lessing war Mitglied in der „Volksbildungskommission“, die vom „Reichsamt für Demobilmachung“ für Arbeitsbeschaffung und Volksbildungsmaßnahmen gebildet worden waren. Im Zusammenspiel mit Erwerbslosenkursen für Jugendliche, Arbeitssuchende aus dem kaufmännischen Bereich und für arbeitslose Frauen, in denen allgemeinbildende und berufliche Grundkenntnisse vermittelt wurden, wurde im Januar 1920 die „Freie Volkshochschule Hannover-Linden“ eröffnet. Ada Lessing wurde Geschäftsführerin, Theodor Lessing deren Leiter. „Sie wollten einen Beitrag zur Gestaltung einer neuen, besseren Gesellschaft leisten. Unterstützt durch entsprechende landesweite Gesetzgebung (die Weimarer Verfassung) und kommunale Förderung war die Idee, den einfachen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich parallel zur täglichen Arbeit weiterzubilden: eine Arbeiteruniversität – eine Volkshochschule.“ [2]

1919 bis 1933 und Folgejahre unter NSDAP-Herrschaft

„Die Erwachsenenbildungseinrichtungen waren auf dauerhafte öffentliche Förderung angewiesen; allein durch Teilnehmergebühren und Sponsoren, z.B. aus der Wirtschaft, war ihre Existenz nicht zu sichern. Von den in großer Zahl in den ersten Jahren der Weimarer Republik gegründeten Volkshochschulen und Volksbildungsvereinen überlebten viele die Inflationszeit nicht, und dieses Schicksal ereilte auch Einrichtungen in größeren Gemeinden und Städten.“ [3] Nicht so in Hannover: „, Wissen ist Macht! Wissen macht frei! Bildung ist Schönheit!‘ – das ist das Motto, unter das Ada und Theodor Lessing ihre Volkshochschul-Arbeit stellen.“ [4] Technische Fähigkeiten, fachliche und allgemeine Kenntnisse sowie Allgemeinbildung mit dem Ziel des allseitig gebildeten, des ganzen Menschen – auf dieser Basis wollten die Lessings mit dem „Verein für Volksbibliotheken“ und den „volkstümlichen Hochschulkursen“ das Spektrum erweitern, was aber nicht dauerhaft gelungen ist. Andere Kooperationen gelangen, wie z.B. mit der „Freien Volksbühne Hannover“. Ende der 20er Jahre ging die Teilnehmerzahl aufgrund verschiedener Faktoren zurück – u.a. mussten die Nähkurse, die technische Abteilung und 1931 die Handelsabteilung abgegeben werden. Dazu kamen die ständigen Anfeindungen: „Die an der Universität gegen Theodor Lessing inszenierte nationalistische Kampagne berührte auch die Volkshochschule Hannover. Der Herabwürdigung der Arbeit Ada Lessings durch die Studenten als „Kassiererin“ begegnete der Vorsitzende des Verwaltungsausschusses der Volkshochschule, Grote, mit einer Stellungnahme, in der er sich gegen derartige Angriffe gegen die Volkshochschule und ihre Geschäftsführerin verwahrte. „1933 musste Theodor Lessing fliehen, Ada wurde die Geschäftsführung entzogen, nachdem in den Kommunalwahlen am 14.3.1933 die NSDAP als stärkste Fraktion gewählt wurde. Im Zuge der Gleichschaltung – Ausrichtung aller Vereine und Institutionen auf die Ziele der NSDAP – verließen zahlreiche Dozenten die VHS Hannover.

27.1.1947 – Wiedereröffnung

Unter neuem Träger „Bund für Erwachsenenbildung“ wurde die VHS Hannover wieder eröffnet, Ada Lessing wurde diskriminiert: ehrvergessen wurde ihr die Leitung vorenthalten, Erwähnung fand sie (mit fünf Zeilen) erst im Jahr 1954 nach ihrem Tod. „Im Jahr 1966 ging die Volkshochschule, bis dahin ein Verein, in kommunale Trägerschaft über. Der Vorschlag, sie nach dem Gründerpaar Ada und Theodor Lessing zu benennen, brauchte weitere 40 Jahre, bis er 2006 realisiert wurde.“ [2]

Zitat: Die Verfassung des Deutschen Reichs („Weimarer Reichsverfassung“) vom 11.8.1919 (Reichsgesetzblatt 1919, S. 1383)

Art. 148. In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben.

Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden.

Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen. Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung.

Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden.

[1] „Deutsch-Tschechische Nachrichten“ Nr. 57 vom 15. März 2004 (siehe auch Kasten) [2] https://www.vhs-hannover.de/ueber-uns/150-jahre-theodor-lessing [3] Wolfgang Schulenberg-Institut für Bildungsforschung und Erwachsenenbildung, Archiv für Erwachsenenbildung in Niedersachsen, Quellen zur Geschichte der Erwachsenenbildung, Findbuch zu den Beständen in staatlichen, kommunalen, kirchlichen, Universitäts- und Gewerkschaftsarchiven zur niedersächsischen Erwachsenenbildung seit 1918, Bearbeitet von Willi B. Gierke, Heino Kebschull und Werner Krüer [4] Corinna Heins: Ada Lessing: Bildung ist Schönheit! Vortrag mit zahlreichen Quellenhinweisen, https://www.vhs-hannover.de/fileadmin/user_upload/pdf/Gesellschaft_Politik/vortrag-historikerin-corinna-heins.pdf; © Corinna Heins, Historikerin und Literaturwissenschaftlerin M. A., Hannover 2019.

01

Hinweis auf DTN und Hannoversches Schulprojekt

[1] 2003 veröffentlichten die Deutsch-Tschechischen Nachrichten (DTN, Nr. 54-57) in deutscher Übersetzung Emil Hruskas Arbeit über den deutschen Philosophieprofessor Theodor Lessing, der 1933 vor den Verfolgungen der Nazis aus Hannover in die Tschechoslowakei floh und am 30. August 1933 in Marienbad/Mariánské Lázne im Auftrag des SA-Führers Röhm ermordet wurde sowie Beiträge über Theodor Lessings Tätigkeit auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung in Hannover und über die Rolle, die seine Frau Ada von 1919 bis 1933 als erste Geschäftsführerin der Volkshochschule von Hannover spielte. Die DTN entnahmen diese Texte dem biografischen Porträt, „Gehasst. gejagt, ermordet“, das die Klasse RO9a der Berufsbildenden Schule 13 in Hannover im Rahmen eines Projektes für den „Literaturatlas Niedersachsen“ unter Anleitung von Mechthild Lucks* erarbeitet hatte.

* Die in den DTN 2003 ausgewiesene Internetfundstelle funktioniert leider nicht mehr. erschienen von 1998 bis 2011. Eine „Digitalisierte Suchilfe“ zu dieser Publikationsreihe steht unter https://www.linkekritik.de/fileadmin/quellen/dtn-suchhilfe-bd-1-4-web.pdf zur Verfügung. Anfragen nach (digital) archivierten Einzelausgaben der DTN können an Martin Fochler, fochlermuenchen@gmail.com (ehem. DTN-Redaktion) gerichtet werden.

Abb. (PDF): Berufsbildende Schule - Projektgrupppe

02

Ada und Theodor Lessing

Ada (*16. Februar 1883) Sie ist Bildungsreformerin, Pionierin der Erwachsenenbildung, Pazifistin, Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin. Berufsausbildung hat sie keine, sieht in der praktischen pädagogischen Arbeit ihre Berufung. Von 1919 bis 1933: Geschäftsführerin der Volkshochschule Hannover. Zwischen 1933 und 1946 ist sie im europäischen Exil. 1947 übernimmt sie die Leitung des Lehrerfortbildungsheims Schloss Schwöbber bei Hameln., eine Einrichtung, die ursprünglich zur „Teacher Reeducation“, also zur Umerziehung vormals nationalsozialistisch geprägter Lehrkräfte. Ada stirbt am 10.11.1953 an Lungenkrebs.

Theodor (*8. Februar 1872) Studium der Medizin, Literatur, Philosophie und Psychologie. Schriftsteller und Journalist, u.a. im Prager Tagblatt. Sozialdemokrat, der sich für Gleichberechtigung der Frau, menschenwürdige Arbeitsbedingungen, heute würde man sagen, Umweltschutz und für zum Alltagsleben gehörende Lernorte einsetzte. Als Jude und Liberaler war er Hassobjekt der Nazi-Meute – hinzukommt, dass er als Gerichtsreporter beim Prozess gegen den Hannoveraner Serienmörder Haarmann die wenig rühmliche Rolle einer korrupten Polizei ins Visier genommen hat. 1933 floh er in die Tschechoslowakei und wurde dort im August 1933 von einer Gruppe Nazi-Kopfgeldjäger ermordet.

Abb.: Theodor Lessing mit Ehefrau Ada und Tochter Ruth (ca. 1922), Quelle: © Stadtarchiv Hannover, NL Lessing, https://www.hannover.de/Media/01-DATA-Neu/Bilder/Landeshauptstadt-Hannover/Kultur-Freizeit/Stadtgeschichte/Städtische-Erinnerungskultur/Meldungen/2016/Theodor-Lessing-mit-Ehefrau-Ada-und-Tochter-Ruth-ca.-1922

Abb. (PDF): Ada und Theodor Lessing

03

Bildungsurlaubsgesetze

Umstrittener als die Rahmung von Erwachsenenbildung durch die Weiterbildungsgesetze waren in der Bundesrepublik der Erlass von Bildungsurlaubsgesetzen.

Symptomatisch ist, dass das niedersächsische Bildungsurlaubsgesetz Anfang 1974 novelliert wurde, bevor es überhaupt in Kraft getreten war. Die erste Fassung sah nämlich eine Arbeitgeberabgabe vor, durch die Bildungsurlaubsseminare finanziert werden sollten. Der vorgesehene „Bildungsfonds“ wurde aber nach der Dazwischenkunft von Landtagswahlen von der neuen Landesregierung gestrichen.

Ab 1974 wurden diese in einer Reihe von Bundesländern verabschiedet. Heute gibt es sie in allen Bundesländern, außer in Bayern und Sachsen. Anspruchsberechtigt sind Arbeitnehmerinne und Arbeitnehmer, teils auch Beschäftigte in Heimarbeit und arbeitnehmerähnliche Personen. Bremen dehnte den Anspruch auch auf Arbeitslose, Hausfrauen und Rentner aus. Die Beschäftigten haben einen Anspruch auf fünf Tage Bildungsurlaub, der teils auch über mehrere Jahre zusammengefasst werden kann. Der Arbeitgeber ist für die Zeit der Weiterbildungsmaßnahme zur Weiterzahlung des Arbeitsentgeltes verpflichtet. Ablehnen kann der Arbeitgeber Anträge nur, wenn er zwingende betriebliche Belange geltend machen kann. Einige Gesetzte regeln, dass er, wenn die Hälfte der Beschäftigten in einem Kalenderjahr Bildungsurlaub genommen hat, keine weiteren Anträge gewähren muss. Tatsächlich haben kaum mehr als zwei oder drei Prozent der Arbeitnehmer die Ansprüche aus den Bildungsurlaubsgesetzen geltend gemacht.

Auch wenn diese Zahl recht gering ist und auch wenn Ungelernte, ausländische Arbeitnehmer, Frauen oder Beschäftigte aus Kleinbetrieben unterrepräsentiert blieben, hat sich eine breite Palette von Angeboten der beruflichen und politischen Weiterbildung herausgebildet. Die Verabschiedung der Gesetze fiel zusammen mit einer sich schwungvoll entwickelnden Ausdifferenzierung von sozialen Milieus und Interessen. Neben klassische Bildungsträger wie die Kirchen oder Gewerkschaften traten vielfältige Anbieter auf den Plan. In Niedersachsen entstanden neben den Volkshochschulen auch eine Reihe Heimvolkshochschulen, in denen an Konzepten eines gemeinsamen Lernens und Lebens angeknüpft wurde. Mehrwochenkurse wurden durchgeführt.

Die Bildungsträger arbeiten mit ehrenamtlichen Referenten mit ähnlichen sozialen Erfahrungen und Lebensumständen wie die Zielgruppen der Angebote. Sie werden ausgebildet und an der Arbeit von Veranstaltungsplänen, den Curricular und Seminarkonzepten beteiligt.

Quellen: Horst Siebert: Erwachsenenbildung seit 1945; Schriften zur beruflichen Bildung; Hrsg. Bildungswerk niedersächsischer Volkshochulen e.V.; Hannover Rudi Rohlmann: Weiterbildungsgesetze der Länder. In: Rudolf Tippelt, Handbuch der Erwachsenenbildung/Weiterbildung (1993), Opladen

04

Hinweis auf Kalenderblätter zum Thema.

Die Rubrik: „Kalenderblätter – Wegemarken des sozialen Fortschritts“ in den Politischen Berichten – seit Juni 2016 am Start, bisher insgesamt 57 Projekte – hat sich mehrmals mit Fragen emanzipatorischer Entwicklungen, wie der Zugang zur Teilhabe an Bildungsangeboten erweitert bzw. Räume und Orte für solche Angebote geschaffen werden konnten, befasst:

• 29. September 1978 – Spanien: Die spanische Verfassung verankert das Recht auf Bildung, PB 3/2017 • 28. März 1882 – Frankreich: Loi Ferry: Das Gesetz über allgemeine Schulpflicht und Laizität, PB 4/2017 • 15. Juni 1958 – Dänemark: 1958: Die Reform der dänischen Volksschule – auf dem Weg zu einem einheitlichen Schulsystem, PB 5/2017 • 19. April 1973 – Italien: Die „Hundertfünfzig Stunden“ – eine einzigartige italienische Besonderheit, PB 5/2018 • 3. Mai 1900 – Deutschland: München startet „fachliche obligatorische Fortbildungsschule“, PB 1/2019 • 6. Oktober 1820 – Schweiz: Lesegesellschaften – Bildung und Weiterbildung für breite Volksschichten, PB 5/2020

Internetquelle sämtlicher Ausgaben: PB Downloadliste, https://www.linkekritik.de/index.php?id=4560