Politische Berichte Nr.1/2023 (PDF)06
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Spanien vor Wahlen auf allen politischen Ebenen

01 Kastilien-Leon: Die erste Regionalregierung mit Vox
02 Das Ende des katalanischen „procés“

Claus Seitz, San Sebastián

Spätestens am 10. Dezember werden Neuwahlen zum spanischen Parlament stattfinden, bereits am 28. Mai wird in 12 der 17 autonomen Regionen und in allen 8100 spanischen Gemeinden gewählt.

Als vor wenigen Wochen die Führung der Volkspartei (PP) auf einer Pressekonferenz hinter einem Transparent „PP – Die Moderaten“ Platz nahm, haben sich wohl viele ungläubig die Augen gerieben: Moderat? Nach drei Jahren Politik der totalen Konfrontation, der politischen Destruktion, der Blockade staatlicher Institutionen und beleidigender Diskurse im Wettkampf mit der rechtsradikalen Vox!

Vor drei Jahren gelang die parlamentarische Konstitution der linken Minderheitskoalition zwischen der sozialistischen Arbeiterpartei PSOE und dem links-grünen Bündnis Unidos Podemos unter Führung von Pedro Sanchez mit 167 Ja- zu 165 Nein-Stimmen nur ganz knapp, weil sich 18 Abgeordnete katalanischer und baskischer Pro-Unabhängigkeitsparteien der Stimme enthielten. Es war die Geburtsstunde des rechten Mantras von der illegitimen Regierung, den Verrätern, die mit katalanischen Putschisten und baskischen ETA-Mördern kooperieren. Die Rechte setzte darauf, einen Keil in das sozialistische Lager treiben und die „instabile“ Regierung rasch stürzen zu können. Sie spricht seither statt vom „Sozialismus“ nur noch vom „Sanchismus“.

Die Rechnung ist nicht aufgegangen. Die Links-Regierung hat sich behauptet. Begleitet von intensiven internen Auseinandersetzungen und schwierigen Abstimmungsprozessen mit anderen Parteien hat sie für ihre Gesetze doch immer die notwendigen, manchmal sehr knappen Mehrheiten gefunden. Fast 200 Gesetze, darunter auch welche mit handwerklichen Fehlern, wurden bisher abgearbeitet. Der Haushalt 2023 wurde im Dezember mit knapp 190 Ja-Stimmen beschlossen.

Gegenüber dem katalanischen Nationalismus setzt die Regierung auf Entspannung. Am 22.6.21 begnadigte sie nach drei Jahren und acht Monate Haft neun inhaftierte Verantwortliche für das Unabhängigkeitsreferendum vom Oktober 2017. Im Dezember 2022 beschloss das Parlament eine von der Linkskoalition vorgeschlagene Reform, die das Delikt des Aufruhrs aus dem Strafgesetzbuch eliminiert und eine mildere Form der Veruntreuung öffentlicher Gelder ohne persönliche Bereicherung einführt. Die Reform zielt auf eine niedrigere Bestrafung für die Anführer des procés und für viele höhere Funktionäre des Regierungsapparats, sowie eine Verkürzung des Zeitraums des Verlusts der Amtsfähigkeit und Wählbarkeit.

Bewertung der PP: „Totalangriff der Regierung Sanchez auf die Justiz, das Strafgesetz, die Richter, die Pressefreiheit und die Verfassung.“ „Es gibt kein Land, das sich der Selbstzerstörungs-Spirale und dem Chaos, in das uns Sanchez versetzt hat, widerstehen könnte.“ Von der „Unterwanderung der Regierung“ und einem „geheimen Plan zur Spaltung des Landes“ war die Rede.

In Wirklichkeit hat sich nicht Spanien, sondern der katalanische Separatismus gespalten!

Lange Zeit hat sich die PP für Steuersenkungen stark gemacht. Nach dem Scheitern des Steuersenkungsprogramms der britischen Ex-Regierungschefin Liz Truss ist es darum still geworden.

Die PP war davon überzeugt, dass die spanische Wirtschaft unter der Regierung Sanchez in eine tiefe Wirtschaftskrise eintreten würde und verbreitete düstere Prognosen. Es ist anders gekommen. Die spanische Wirtschaft ist 2022 mit 5,5 % stärker als erwartet gewachsen, das Jahr hat mit einer Zunahme der Beschäftigung um 471 000 und der niedrigsten Arbeitslosenziffer seit 2007 geschlossen. Die Inflation liegt mit 5,6 % unter dem europäischen Durchschnitt. Der Anteil befristeter Arbeitsverträge in der privaten Wirtschaft ist von über 29 % auf 15,5 % gesunken, bei den unter 30-Jährigen von 53 % auf 23 %.

Für 2023 wird zwar mit einem deutlich niedrigeren Wachstum gerechnet, insbesondere im ersten Quartal, aber alle Prognosen sehen Spanien trotzdem an der Spitze des Wachstums im Euroraum.

Die Linksregierung verweist darauf, dass sie mit Kurzarbeit Massenentlassungen verhindern konnte. Mit der Einführung eines garantierten Mindesteinkommens, mit der Anhebung des Mindestlohns um 47 % seit 2018 (reale Steigerung 27 %) für ca. 2,5 Millionen betroffene Arbeitnehmer, mit der Erhöhung der Renten 2023 um 8,5 % konnte der private Konsum gestärkt werden.

Auch wenn nach Meinungsumfragen die PP derzeit stärkste Partei ist und in Koalition mit Vox regieren könnte, zweifelt man in der PP, dass es ausreichen wird, ausschließlich auf die Karte des spanischen Nationalismus zu setzen.

Im April 2002 ersetzte sie Pablo Casado an der Parteispitze durch Alberto Núñez Feijóo, der vorher 13 Jahre mit absoluter Mehrheit in der Region Galicien regierte. Vor kurzem bestimmte sie Personen mit moderatem Profil für die Führung ihrer Wahlkampagne. Auftrag: Der PP den Anschein von Zentralität und Moderation verschaffen und unentschlossene und enttäuschte Wähler aus dem politischen Zentrum und bei den Sozialisten einfangen. Um knapp eine Million Stimmen soll es dabei gehen. Stellt sich die Frage, ob es im Falle des Gelingens nicht umgekehrt zu Wählerwanderungen im rechten Spektrum von PP zu Vox kommt und das Gewicht von Vox in einer möglichen Koalition gestärkt wird?

Andere Optionen scheinen nicht realistisch. Ciudadanos hat sich in einer Auseinandersetzung um Kurs und Führung der Partei nochmal gespalten und steht am Rande des Abgrunds. Zum vierten Mal seit der Transition würde damit eine Partei scheitern, die sich als liberal im Zentrum zwischen den Blöcken verortete.

Ob es zu einer Fortsetzung der Linkskoalition kommen kann, hängt stark davon ab, ob „Sumar“, das Projekt von Arbeitsministerin Yolanda Diaz zur Neustrukturierung des links-grünen Spektrums, Erfolg hat oder nicht.

Abb.(PDF): Werbung der Regierung für das neue existenzsichernde Mindesteinkommen

01

Kastilien-Leon: Die erste Regionalregierung mit Vox

Was auf die Volkspartei bei einer Koalition auf staatlicher Ebene zukommen könnte, lässt sich in Kastilien-Leon beobachten, wo die PP seit dem 19.4.22 zusammen mit Vox regiert.

Mit der Vizepräsidentschaft, drei Ministerien und dem Posten des Parlamentspräsidenten überließ die PP Vox beachtlichen institutionellen Einfluss. Im Regierungsprogramm selbst finden sich Vox-Positionen in wenigen verklausulierten Formulierungen wieder: „geregelte Immigration fördern“, „Gesetz zum Kampf gegen familiäre Gewalt“, „für das unveräußerliche Recht der Eltern über die Erziehung ihrer Kinder zu entscheiden“.

Vizepräsident Garcia-Gallardo und andere Vox-Minister tun sich im Parlament vor allem durch beleidigende Reden hervor: „Sanchez sei Führer einer kriminellen Bande“, „Igea, Ex-Vizepräsident der Regionalregierung, ein Blödmann und vermutlicher Verbrecher“, „Was fehlt, seien nicht Arbeiter, sondern die Lust zu arbeiten“. Mittlerweile hat es sich so eingespielt, dass Regierungschef Mañueco (PP) während der aufwiegelnden Reden seines Vizes den Plenarsaal verlässt, um den unmittelbaren Fragen der Presse danach ausweichen zu können.

Insbesondere die Gewerkschaften hat Vox ins Visier der Angriffe genommen. Ende 2022 kündigte Vox an, für Serla, den „Regionalservice für Arbeitsbeziehungen“ 2023 keine Mittel mehr zur Verfügung zu stellen. Serla ist das verantwortliche Organ für die Mediation in Arbeitskonflikten, für Lösungen im Vorfeld der Justiz. 2022 wurden 3.534 individuelle Konflikte und 341 kollektive Konflikte, die 260 000 Arbeiter und 19.142 Firmen betrafen, gelöst. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände wollen juristisch gegen die Regierung vorgehen und üben Druck auf Mañueco aus.

Am 11.1.23 verkündete Garcia-Gallardo in Begleitung von Regierungssprecher Carriedo (PP) vor der Presse, dass die Koalition Maßnahmen gegen Abtreibung beschlossen hätte. Künftig würden Ärzte verpflichtet, Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch planten, vor einer endgültigen Entscheidung Optionen anzubieten, den Herzschlag des Fötus anzuhören oder eine 4-D-Ultraschall des Fötus anzuschauen. Die Schwangeren könnten so in Realzeit die Charakteristiken des Fötus – Kopf, Hände, Füße, Finger – beobachten. „Angesichts der unheimlich hohen Zahl freiwilliger Schwangerschaftsabbrüche in der Region sei es wesentlich, dass mehr Kinder geboren würden“, so Garcia-Gallardo, nach dessen Meinung der Geburtenrückgang in Spanien vor allem der Übersexualisierung geschuldet sei.

Bei den Maßnahmen handelt es sich um die Kopie eines in Ungarn 2022 in Kraft gesetzten Gesetzes. In Ungarn sind Schwangere allerdings verpflichtet sind, den Herzschlag des Fötus anzuhören, während es in Kastilien-Leon eine freiwillige Entscheidung sein sollte.

Die Ankündigung Garcia-Garridos löste einen öffentlichen Sturm der Entrüstung aus. Nach anfänglichem Schweigen der PP-Führung und nach einer peinlichen Woche voller widersprüchlicher Dementis der regionalen PP, gegenseitiger Vorwürfe und Drohungen die Koalition zu beenden, musste die PP-Führung Mañueco nötigen, öffentlich zu erklären, dass in Kastilien-Leon keine Änderung des Verfahrens bei Schwangerschaftsabbrüchen geplant sei. Die spanische Regierung hatte angekündigt, juristisch dagegen vorzugehen, da es sich um eine staatliche Regelung handelt.

02

Das Ende des katalanischen „procés“

Dass sich Esquerra Republicana (ERC) für den Dialog mit der spanischen Regierung entschied, war für Junts per Catalunya unverträglich mit ihrer Fortsetzung des Kurses der einseitigen Unabhängigkeit. In einer von Junts einberufenen Mitgliederbefragung entschied sich am 7.10.22 eine Mehrheit von 56 % für den von Carles Puigdemont und Junts-Präsidentin Laura Borras empfohlenen Austritt aus der Regionalregierung.

Pressebewertungen dazu: „Ab heute wird auf die Partei der Ordnung, die die katalanische Selbstverwaltung formte, eine andere folgen, deren Hauptziel die Destabilisierung der Generalitat ist. Diesen Freitag ist Convergencia definitiv gestorben.“ „Diesen Freitag hat sich über dem Leichnam der Regierungspartei, 1974 von Jordi Pujol begründet, die katalanische trumpistische Alternative festlich gekleidet: die Partei, die verspricht, dass sie weiter davon träumt, dass die Dinge im Oktober 2017 hätten anders ausgehen können, die Partei, die es erlaubt, mit der schönsten Lüge weiter zu leben.“ „So wurde eine der zwei Seelen der Partei ermordet“.

15 Minister der Generalitat und ca. 500 gut bezahlte Regierungsmitarbeiter von Junts mussten ihre Posten verlassen.

Junts de Catalunya, im Zuge von Korruptionsskandalen aus der einst allmächtigen Convergencia Democratica hervorgegangen, hat im Rahmen des procés, der Taktik der Konfrontation und Herausforderung staatlicher Institutionen, alles Erreichte verloren.

Noch 2010 und 2012 war Convergencia mit 1,2 bzw. 1,1 Millionen Stimmen stärkste Partei. Bei den Wahlen vor eineinhalb Jahren mit Carles Puigdemont auf den Wahlplakaten fiel sie (als Junts) mit 0,57 Mio Stimmen auf Platz 3 hinter PSC und ERC zurück.

Der Parteisektor, der sich nicht als Erbe von Convergencia fühlt, setzt auf eine Wiedergeburt der Partei in der Opposition. Genährt von der Frustration der nicht akzeptierten Niederlage des procés und befreit von institutionellen Fesseln will man den Kurs der einseitigen Unabhängigkeit fortsetzen.

Schon vor Jahren wiesen Autoren daraufhin, dass im Rahmen des procés mit dem US-Trumpismus und europäischen Rechtspopulisten vergleichbare Tendenzen bestünden. Mittlerweile wird dies auch von Teilen der Unabhängigkeitsbewegung (CUP, Omnium, ERC) geteilt. In einem Teil der Basis macht sich ein immer radikalerer Diskurs breit, der Populismus mit Fake-News kombiniert und Angriffskampagnen gegen Personen, Parteien und Organisationen in den sozialen Netzen und auf der Straße befördert. Der Dialog von ERC mit der spanischen Regierung wird als Verrat und Autonomismus beschimpft.

Laura Borras war Präsidentin des katalanischen Parlaments, bis sie im Juli 2022 vom Parlamentspräsidium wegen einer Korruptionsanklage als Abgeordnete suspendiert wurde. Sie erklärte daraufhin: „Die mich tot sehen wollen, müssen mich umbringen und ihre Hände schmutzig machen. Ich bin gekommen, um die Unabhängigkeit zu machen, nicht um Suizid zu begehen für die Autonomie“. Nach dem von ihr betriebenen Bruch der Regierungskoalition ging sie so weit zu sagen „Wir stellen heute fest, dass die Regierung des Pere Aragones gescheitert ist und ihre demokratische Legitimität verloren hat.“

Am 31.1.23 einigten sich ERC und katalanische Sozialisten (PSC) auf den Haushalt 2023. Der Pakt ermöglicht es ERC vorerst mit 33 von 135 Parlamentssitzen in Minderheit weiter zu regieren. ERC musste dafür die Forderungen der Sozialisten nach großen Investitionsprojekten (Bau einer Autobahn zwischen Terrassa und Sabadell, Ausbau des Flughafens Prat, etc.) akzeptieren. Vorher war es bereits zwischen ERC und Comu Podem zu einer Einigung gekommen. PSC und Comuns erklärten, in Verantwortung für die Stabilität der katalanischen Regierung zu handeln.

Erstmals seit einem Jahrzehnt ist der separatistische Block im katalanischen Parlament aufgebrochen. Junts-Sprecher Josep Rius: „ERC hat die Seite des procés verlassen und umarmt definitiv die Politik der autonomen Selbstverwaltung.“