Politische Berichte Nr.1/2023 (PDF)09
EU-Politik

Der Elysée-Vertrag ist 60 geworden: Ein richtungsweisendes Dokument bis heute

Eileen Keller, Deutsch-Französisches Institut

Am 22. Januar 1963 unterzeichneten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer in Paris den sogenannten deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Er etablierte Routinen für die gemeinsame Zusammenarbeit und sah vor allem die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Bereiche Jugend und Kultur als priorisierte Bereiche der Zusammenarbeit vor. Auch die Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW / OFAJ), das junge Menschen über ein vielfältiges Angebot an Programmen mit dem Nachbarland und jungen Menschen von dort in Berührung bringt, geht hierauf zurück. Mit dem Vertrag wurde das deutsch-französische Sonderverhältnis innerhalb des europäischen Konzerts zementiert, mit teils positiven, teils ambivalenten Auswirkungen auf den europäischen Einigungsprozess.

18 Jahre nach Kriegsende ein solches Vertragswerk zu unterzeichnen – zwischen zwei Völkern, die sich über Jahrhunderte Erzfeinde waren – spricht zweifelsohne für die Größe der handelnden Personen. Trotz des bemerkenswerten Umgangs, den de Gaulle und Adenauer miteinander pflegten, ist der Vertrag nicht der Beginn der seitdem viel beschworenen deutsch-französischen Freundschaft, sondern vielmehr Ausdruck der bis dahin geleisteten Annäherungs- und Aussöhnungsarbeit, die vor allem auf kommunaler Ebene und ausgehend von engagierten Einzelpersonen geschah. Auch das Deutsch-Französische Institut mit Sitz in Ludwigsburg wurde bereits 1948 gegründet und war in diese Annäherungsarbeit unmittelbar involviert.

Diese schrittweise Annäherung führte 1962 zu den geschichtsträchtigen gegenseitigen Besuchen der beiden Staatsmänner. Vor allem Charles de Gaulles Rede an die deutsche Jugend, auf Deutsch vor 20 000 jubelnden Menschen im Ehrenhof des Ludwigsburger Schloss gehalten, zeugte davon, dass es auf beiden Seiten die Bereitschaft für eine weitergehende Annäherung und Normalisierung der beidseitigen Beziehungen gab.

Zur Ehrlichkeit im Umgang mit dem Vertragswerk, das bis heute seine Wirkung entfaltet, gehört auch, dass es sich aus der damaligen Sicht gar nicht so sehr als anvisierte Wunschvorstellung darstellte. De Gaulles Versuch, mit den sogenannten Fouchet-Plänen eine politische Union nach seinen Vorstellungen auf europäischer Ebene zu realisieren, misslang, und man entschied sich stattdessen für die bilaterale Ebene. Auch waren deutsche und französische Perspektiven auf den Vertrag keineswegs in allen Aspekten kongruent. Davon zeugt auch die Präambel, die man dem Vertrag auf deutscher Seite anlässlich der Ratifizierung im Bundestag voranstellte und die die Bedeutung des transatlantischen Verhältnisses hervorhob.

Dass der Vertrag bis heute nicht an Bedeutung verloren hat – obwohl sich der Kontext politisch wie gesellschaftlich so stark verändert hat – liegt vor allem darin, dass er den Grundstein für die routinierte bilaterale politisch-administrative Zusammenarbeit gelegt hat. Im Kern geht es dabei weniger um konkrete Projekte als vielmehr um die Regelmäßigkeit von Treffen, die vertraglich festgelegt wurden. So bestimmt der Elysée-Vertrag beispielsweise, dass sich die Außenminister ebenso wie die Verteidigungs- und Armeeminister alle drei Monate treffen, auf Beamtenebene ist der Rhythmus zum Teil sogar monatlich.

Auch wenn sich die Formen der Zusammenkunft im Zeitverlauf verändert haben, so ist die Regelmäßigkeit erhalten geblieben. Man trifft sich und lernt sich persönlich und die Arbeitsroutinen sowie die Zwänge des anderen kennen, was die Zusammenarbeit – bilateral wie im europäischen Kontext – erleichtert. De facto hat der Vertrag eine bindende Wirkung, weil man die Treffen mit öffentlicher Sichtbarkeit nicht einfach aussetzen kann, ohne dass davon ein politisches Signal ausgeht – wie etwa vergangenen Herbst, als der anberaumte deutsch-französische Ministerrat kurzfristig verschoben wurde. Verträge können politisches Handeln und den Willen zur Zusammenarbeit nicht ersetzen, aber sie können einen Rahmen vorgeben, und dies ist mit dem Elysée-Vertrag gelungen.

Immer wieder gab es politisch Vorstöße, den Vertrag durch ein Dokument neueren Datums zu ergänzen oder zu ersetzen. Zuletzt geschah dies durch Emmanuel Macron, der den Vorschlag in seiner Europa-Rede an der Sorbonne im September 2017 unterbreitete. Mit dem Aachener Vertrag, der 2019 unterzeichnet wurde, gibt es nun einen weiteren Vertrag über die „deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration“ mit dem Anspruch, die bilateralen Beziehungen „auf eine neue Stufe zu heben“.(1)

Inhaltlich sieht der deutlich umfangreichere Text des Aachener Vertrags vor allem die Vertiefung der Zusammenarbeit in einer ganzen Reihe von Politikfeldern vor, von Verteidigung über Wirtschaft bis hin zur Raumfahrt. Ergänzt werden diese Entwicklungsperspektiven für eine vertiefte Zusammenarbeit durch neu geschaffene Institutionen, darunter ein Zukunftswerk als Dialogforum für gesellschaftliche Transformationen, ein deutsch-französischen Bürgerfonds und ein neuer Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Der Zeithorizont für die Verwirklichung all dieser Anliegen ist offen, aber es zeigt sich schon jetzt, dass die vertraglichen Dispositionen nur da Wirkung entfalten, wo es auch politisch den Willen zur Umsetzung gibt. Charles De Gaulle wird nachgesagt, dass er den Elysée-Vertrag mit einem Rosengarten verglichen haben soll, der nur so lange blüht, wie er gepflegt wird.(2) Das gilt bis heute – und das Handwerk des Gärtners will gelernt sein!

1 So der Vertragstext, https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2178596/7b304525053dde3440395ecef44548d3/190118-download-aachenervertrag-data.pdf

2 Nachzulesen bei Hélène Miard-Delacroix: Stationen und Etappen der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. In: Stefan Seidendorf (Hrsg.) 2012: Deutsch-Französische Beziehungen als Modellbaukasten? Zur Übertragbarkeit von Aussöhnung und strukturierter Zusammenarbeit. Baden-Baden: Nomos, S. 61.

Aus Charles de Gaulles Rede an die Jugend am 9. September 1962 in Ludwigsburg

„Sie alle beglückwünsche ich! Ich beglückwünsche Sie zunächst, jung zu sein. Man braucht ja nur die Flamme in Ihren Augen zu beobachten, die Kraft Ihrer Kundgebungen zu hören, bei einem jeden von Ihnen die persönliche Leidenschaftlichkeit und in Ihrer Gruppe den gemeinsamen Aufschwung mitzuerleben, um überzeugt zu sein, dass diese Begeisterung Sie zu den Meistern des Lebens und der Zukunft auserkoren hat. Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt Kinder eines großen Volkes. Jawohl! Eines großen Volkes, das manchmal im Laufe seiner Geschichte große Fehler begangen hat.“

https://www.dfi.de/pdf-Dateien/deGaulle/Rede_de_Gaulle.pdf