Politische Berichte Nr.1/2023 (PDF)18b
Gewerkschaften/Soziale Bewegung

Tarifentwicklungen EU-Staaten Zusammenstellung Rolf Gehring, Brüssel

01 Stärkung der Tarifverhandlungen in Irland.
02 Reform des rumänischen Tarifvertragssystems.
03 Frankreich: Abfindungsregeln verstoßen gegen die Europäische Sozialcharta

01

Stärkung der Tarifverhandlungen in Irland. Auch mit Blick auf die europäische Mindestlohnrichtlinie hat die Dubliner Regierung eine hochrangige Arbeitsgruppe eingerichtet, die Vorschläge zur Stärkung tarifpolitischer Strukturen im Land vorlegen soll. Aktuell gelten tarifvertragliche Regel für ca. 34% der Beschäftigten, die europäische Richtlinie legt einen anzustrebenden Wert von 80% fest. Irland hat bisher keine ausdrückliche Tarifgesetzgebung, Arbeitgeber entscheiden, ob sie eine Gewerkschaft und damit Tarifverhandlungen anerkennen oder nicht. Nun sollen Branchenausschüsse die Tarifbindung durch allgemeinverbindliche Tarifverträge fördern. Diese gibt es bisher lediglich für die Gebäudereinigung und in der Sicherheitsbranche. Weiterhin soll es künftig möglich sein, dass das Arbeitsgericht Tarifverträge festlegen kann, sollten die Arbeitgeber sich weigern, in den Branchenausschüssen mitzuarbeiten.

02

Reform des rumänischen Tarifvertragssystems. 2011 wurden in Rumänien starke Einschränkungen der Tariffreiheit per Gesetz verordnet, die von gewerkschaftlicher als auch von Arbeitgeberseite kritisiert wurden. Die Bestimmungen schafften Tarifverhandlungen auf Branchenebene ab; in der Folge nahm die Tarifbindung drastisch ab. Waren 2010 noch 98% aller Beschäftigten tarifgebunden, sank der Anteil bis 2019 auf 15%. In der Privatwirtschaft sind 85% der Tarifvereinbarungen von Belegschafts-vertretern abgeschlossen. Gewerkschaften können lediglich Lohnverhandlungen führen, wenn ihr mehr als 50% der Belegschaft angehören. Im Dezember 2018 war es im Bausektor erstmals seit 2011 wieder gelungen, einen Branchentarifvertrag abzuschließen. Auch die ILO wertete das Gesetz als Verstoß gegen die internationalen Kernarbeitsnormen. Ende 2022 stimmte das rumänische Parlament nun mit starker Mehrheit einem Gesetzesvorschlag zu, der das Gesetz von 2011 außer Kraft setzt. Branchentarifverhandlungen sind künftig obligatorisch und nationale Tarifverträge wieder möglich sind. Auch politische Streiks in Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik werden wieder möglich, Gewerkschaften dürfen wieder politische Aktivitäten entfalten.

03

Frankreich: Abfindungsregeln verstoßen gegen die Europäische Sozialcharta Seit 2017 werden seitens der Arbeitsgerichte und auf gesetzlicher Basis Abfindungstabellen angewandt, die Abfindungshöhen stark eingrenzen. Bei zehnjähriger Betriebszugehörigkeit sehen die Tabellen höchstens zehn Monatsgehälter als Abfindung vor, bei 30 und mehr Jahren Betriebszugehörigkeit höchstens 20 Monatsgehälter. Bereits 2020 hatte der Ausschuss die vergleichbaren italienischen Vorschriften für Abfindungen ebenfalls verurteilt. Im September letzten Jahres hat der Europäische Ausschuss für soziale Rechte des Europarates eine Entscheidung hierzu getroffen Der Ausschuss sieht einen Verstoß gegen den Artikel 24 der Europäischen Sozialcharta, der sowohl den Schutz vor Kündigung als auch eine angemessene Entschädigung vorsieht bzw. behandelt. Er stützt damit die Auffassungen der französischen Gewerkschaften, die die Klage mit Unterstützung des EGB angestrengt haben und widerspricht den Urteilen der höchsten französischen Gerichte. Seine Urteile sind zwar nicht bindend, setzen aber mindestens Bezugspunkte für die Diskussion und dürften ebenfalls die Rechtsfortbildung in diesem Bereich beeinflussen.