Politische Berichte Nr.2/2023 (PDF)21
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Israel: Demokratie in Gefahr

Christiane Schneider, Hamburg, 29.3.2023

Gut drei Monate nach der Bildung einer rechten, teils extrem rechten Regierung ist Israel in einer tiefen Krise. Seit Ende Januar demonstrierten Zehn-, ja Hunderttausende Israelis Woche für Woche. In der Likud-Partei von Netanjahu wuchs die Unruhe. Der Verteidigungsminister (Likud) forderte, mit den Gegnern in den Dialog zu treten, und wurde prompt von Netanjahu entlassen, der kurz darauf, am 27. März, die Justizreform um vier Wochen verschob. Während erstmals seit Krisenbeginn die Gewerkschaft zum Generalstreik aufrief, der Flughafen gesperrt wurde, Hunderttausende im ganzen Land demonstrierten, mobilisierten extrem rechte Regierungsmitglieder ihre Anhänger, darunter als äußerst gewalttätig bekannte Hooligans aus Jerusalem und anderen Städten, zu Gegendemonstrationen. Viele tausend Rechte versammelten sich in der Nähe der Knesset, aufgepeitscht von diversen Ministern. Hunderte Hooligans zogen mit Sturmhauben und Knüppeln durch Jerusalem, verprügelten israelische Araber und Journalisten. Tags darauf kündigte der Minister für nationale Sicherheit Ben-Gvir die Bildung einer „Nationalgarde“ an, die seinem Ministerium unterstellt werde.

Die geplante Aufhebung der Gewaltenteilung ist nur ein Anfang

Ausgelöst wurde die Krise durch das Vorhaben einer Justizreform, die die neu gewählte Regierung im Januar auf den Weg brachte und deren Ziel die Entmachtung des Obersten Gerichts und de facto die Aufhebung der Gewaltenteilung ist. Demnach soll die einfache Parlamentsmehrheit Urteile des Gerichts aufheben können. Auch bei der Wahl der Richter will sich die Regierung die Mehrheit sichern. Bisher entschied ein neunköpfiges Gremium aus je zwei Ministern, Abgeordneten und Mitgliedern der Anwaltskammer und drei Richtern mit einer Mehrheit von mindestens sieben Stimmen, der Einigungsdruck war groß.

Die Maßnahmen sind deshalb so gravierend, weil mehrfache Versuche, „die entgegengesetzten Staatsverständnisse in der israelischen Gesellschaft auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen“1 und in eine Verfassung zu gießen, seit 1949 gescheitert sind. Stattdessen wurden nach und nach 14 sog. Grundgesetze verabschiedet, darunter 1992 zwei Grundrechte betreffend die menschliche Würde und Freiheit und die freie Berufswahl. Dabei wurde klargestellt, dass diese Rechte nicht willkürlich, sondern „nur im Einklang mit den Werten des Staates beschränkt werden können, und nur, wenn die Einschränkung zweckmäßig ist“.2 Auf dieser Grundlage hat das Oberste Gericht seither 22 Gesetze und Bestimmungen aufgehoben, darunter Regeln zur Inhaftierung von Asylbewerbern oder zur Enteignung von palästinensischem Land in Privateigentum für den Bau jüdischer Siedlungen im Westjordanland. Ansonsten habe sich das Gericht bezüglich der besetzten Gebiete sehr zurückhaltend verhalten, schreiben Lieblich und Shinar.3 Es hat weder die Rechtmäßigkeit des (als völkerrechtswidrig geltenden) Siedlungsbaus im Westjordanland überprüft noch den Abriss der Häuser militanter Palästinenser (eine Verletzung des Kriegsvölkerrechts). Doch hat es die Menschenwürde so ausgelegt, dass sie die Meinungsfreiheit und das Gleichheitsrecht einschließt. Deshalb sehen viele Israelis nicht nur die Gewaltenteilung, sondern direkt ihre Grundrechte bedroht. Ende Januar kritisierten in einem Offenen Brief 185 Mitglieder aus allen juristischen Fakultäten den „Regimewechsel“: Die Verabschiedung der „Maßnahmen bedeute(n), dass es in Israel keine unabhängige Justiz, keine Gewaltenteilung und keine Rechtsstaatlichkeit geben wird“. Frances Raday, eine israelische Juristin, Menschenrechtsaktivistin und Prozessvertreterin in vielen Verfahren vom dem Obersten Gericht, sprach gar von einem „Putsch, eine(r) feindliche(n) Übernahme des Staates Israel“.4 Das Oberste Gericht sei zum Symbol geworden, aber nicht das einzige Ziel. Unter anderem betreibt die Regierung auch die Privatisierung öffentlich geförderter Medien und die Kürzung der Kulturausgaben und nicht zuletzt die Annexion der besetzten Gebiete. So forciert sie die Ersetzung der Militärverwaltung durch zivile Verwaltung. Auch hat sie ein Gesetz von 2005 aufgehoben, mit dem vier jüdische Siedlungen im Westjordanland geschlossen wurden, sie legalisiert illegale Siedlungen und fördert den Bau weiterer Siedlungen mit 10 000 Einheiten.

Die Regierung beruft sich mit ihrem majoritären Demokratieverständnis auf den Willen der Mehrheit, die sie gewählt hat. Das sind vor allem die Ultra-Orthodoxen, die ihre Privilegien verteidigen, u.a. die Befreiung vom Militärdienst, die das Oberste Gericht infrage gestellt hat, und die 600 000 Siedler mit ihrem Ziel eines Groß-Israel. Netanjahu, der vor allem seine Verurteilung wegen Korruption verhindern will, schuf per Gesetz die Voraussetzung dafür. Er und seine Likud-Partei verlieren derzeit allerdings rasant an Zustimmung: 55% ihrer Wählerinnen und Wähler sind Umfragen zufolge unzufrieden.

Wer trägt den Widerstand?

Der Widerstand gegen die Regierung geht weit über die (seit langem geschwächte) israelische Linke hinaus; er wird von einem zentrale Sektoren der Gesellschaft und des Staatsapparats repräsentierenden Bündnis getragen. Die Präsidenten aller israelischen Universitäten warnten, „dass die vorgeschlagene Reform des Rechtssystems zu tödlichen Schäden für die Wissenschaft führen könnte“, es drohe die Gefahr, „von der internationalen Forschung und der Bildungsgemeinschaft ausgeschlossen (zu) werden“.5 Auch Banken und Unternehmen fürchten die drohende internationale Isolierung Israels. Erste Firmen haben mit der Verlegung ins Ausland begonnen. Insbesondere der bedeutsame High-Tech-Sektor mit einem Anteil inländischer Start-Ups von 40% ist in Aufruhr. Junge Kreative wandern ab. Ohnehin ist der Zorn der arbeitenden Bevölkerung und auch der Unternehmen gewaltig, denn sie finanzieren rund ein Drittel der Bevölkerung: die Ultra-Orthodoxen, die in der Regel nicht arbeiten.6

Vor allem der Widerstand aus der Armee alarmiert die Regierung. Tausende Reservisten aus vielen Einheiten, Militärgeheimdienstler, Militärärzte, Cyberspezialisten, verweigern das Reservetraining und beteiligen sich an den Demonstrationen. Besonders stark ist der Widerstand in der Luftwaffe. U.a. forderte alle ihre ehemaligen Kommandeure Netanjahu auf, „alle Gesetze zur Überholung des Rechtsstaats einzustellen“, es drohe „Gefahr für die nationale Sicherheit“.7

Präsident Herzog warnte vor einem Bürgerkrieg, auch Netanjahu beschwor die Gefahr. Es gilt aber als unwahrscheinlich, dass der bloße Aufschub der Justizreform die Krise beendet.

Die Frage des Friedens und der Zukunft des Zusammenlebens mit den Palästinensern spielt bisher nur eine marginale Rolle. Auch beteiligen sich israelische Palästinenser kaum an den Protesten.

1 Lidia Averbukh https://verfassungsblog.de/israels-staatsumbau/ 2/3 Eliav Lieblich, Adam Shinar, Das Ende der israelischen Demokratie? https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/maerz/das-ende-der-israelischen-demokratie 4 In der Existenz bedroht, 3.3.2023, https://verfassungsblog.de/in-der-existenz-bedroht/ 5 Die englische Version ihres Offenen Briefes und des Briefs der Juristen findet sich unter https://www.bs-anne-frank.de/mediathek/blog/offener-brief 6 Siehe Richard Schneider, https://www.spiegel.de/ausland/israel-auch-die-wirtschaft-protestiert-gegen-den-autoritaeren-staatsumbau-a-88145001-4c61-45f5-80aa-f80ae6eeb0f0 7 Siehe Jüdische Allgemeine, 10.3.; Echo der Zeit, 9.3.; ORF, 7.3.