Politische Berichte Nr.3/2023 (PDF)08
EU-Politik

Langzeitpflege – ein europäisches Thema

01 Dok: Die Linke: Für gute Arbeit in der Pflege überall in der EU
02 Buurtzorg Nederland – ein kooperatives Pflegemodell

Ulrike Detjen, Köln

Die Reform der Pflegeversicherung ist in Deutschland gerade beschlossen, sie befasst sich im Wesentlichen mit der Finanzierung. Die Diskussion darum und um die Situation in der Pflege wird auch in anderen Staaten der europäischen Union geführt. Der Mangel an gut ausgebildeten Pflegekräften ist flächendeckend, höhere Tarifabschlüsse führen teilweise dazu, dass Pflegepersonal die Arbeitszeit reduziert. Nicht alleine die Löhne und die Personalausstattung, sondern vor allem auch die Arbeitsbedingungen müssen sich ändern. Im Bereich der Pflegeanbieter im Krankenhaus und im Altenpflegebereich formiert sich in der Bundesrepublik eine Front für das Verbot von Leiharbeit in der Pflege, weil in der jetzigen Arbeitsmarktsituation Pflegekräfte in der Leiharbeit mehr Zeitsouveränität haben und bessere Löhne erzielen können. Die Anliegen der Pflegebedürftigen spielen in der Debatte kaum eine Rolle.

Die Europäische Kommission hat im September 2022 eine Europäische Pflegestrategie(1) vorgestellt. Sie umfasst zwei Empfehlungen: zum einen für den Zugang zu erschwinglicher und hochwertiger Langzeitpflege in der Europäischen Union und zum anderen einen Vorschlag zur Überarbeitung der Barcelona-Ziele für die frühkindliche Bildung und Betreuung. Beweggründe für diese beiden Empfehlungen sind die demographischen Veränderungen und die damit einhergehenden Entwicklungen auf dem europäischen Arbeitsmarkt. Für den Bereich der Pflege teilt die Kommission mit: „Investitionen in die Pflege sind wichtig, um Talente für den Pflegesektor, der häufig durch schwierige Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne gekennzeichnet ist, zu gewinnen und zu halten.“ Die Pflegestrategie knüpft an die Europäische Säule sozialer Rechte an und konkretisiert einzelne Punkte der Säule.(2)

Etwa 90 Prozent der Lohnabhängigen in der Pflege sind weiblich – sie verdienen schlecht und die Arbeitsbedingungen sind so, dass viele die Arbeit nur in Teilzeit leisten können. Die Folge ist dann auch eine niedrige Rente, die nur durch Aufstockung zum Leben reicht. Zum anderen wird ein großer Teil der Pflege- und Betreuungsleistungen informell im familiären Rahmen erbracht. Die Kommission schätzt, dass europaweit rund 7,7 Millionen Frauen deshalb nicht erwerbstätig sind – angesichts des Rückgangs der erwerbsfähigen Bevölkerung in den EU-Staaten ein großes Potential.

Zudem hat sich während der Corona-Pandemie gezeigt, dass insbesondere im Bereich der Altenpflege große Schwierigkeiten bestanden, die häusliche Versorgung und den Schutz des Pflegepersonals und der zu Pflegenden vor Infektion sicherzustellen. Die stationären Pflegeeinrichtungen hatten alle mit großen Infektionsausbrüchen und hohen Todeszahlen zu kämpfen und mussten teilweise menschenunwürdige Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergreifen.

Die Kommission hat gemeinsam mit Anbietern von Langzeitpflegeleistungen, Sozialpartnern und Anbietern von allgemeiner und beruflicher Bildung eine Qualifikationsoffensive für den Langzeitpflegesektor ins Leben gerufen.

Der Rat der Europäischen Union hat infolge der Richtlinie der Kommission im November 2022 eine Empfehlung „über den Zugang zu bezahlbarer und hochwertiger Langzeitpflege“(3) beschlossen. Diese Empfehlung umfasst zwölf Punkte, unter anderem die Vereinbarung, einen nationalstaatlichen Koordinierungsmechanismus für die Langzeitpflege einzurichten, der die Umsetzung der Empfehlung unterstützt und kontrolliert. Außerdem sollen die Mitgliedstaaten innerhalb von 18 Monaten gegenüber der Kommission berichten, welche Maßnahmen zur Umsetzung der Empfehlung ergriffen worden sind. In dieser Frage sollte die Bundestagsfraktion tätig werden – gibt es in absehbarer Zeit eine bundesweite Koordination? Erscheint der Bericht über die Maßnahmen in einem Jahr?

Der Rat empfiehlt den Mitgliedsstaaten, hochwertige Beschäftigung und faire Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege zu unterstützen, insbesondere Maßnahmen zu ergreifen, um für „Langzeitpflege leistende Hausangestellte, im Haushalt lebende Pflegekräfte und Wanderpflegekräfte“ reguläre Arbeitsbedingungen zu sichern sowie deren Professionalisierung sicherzustellen.

Die Richtlinien des Rates und der Kommission bieten Raum für eine fortschrittliche Politik, zumindest was die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Pflegebereich angeht, einklagbar sind die Empfehlungen jedoch nicht. Das Wahlprogramm der Linken für die letzte Europawahl stellt Forderungen auf, die sich mit ähnlichen Fragen wie die Regierungen der europäischen Staaten befassen, sind aber verbindlicher und strikter gefasst sind und verlangen die Einführung von Pflegeräten. Ob das das richtige Mittel ist? Für die Vorbereitung der nächsten Europawahl wäre ein darüber hinausweisender Gesichtspunkt, die Selbstorganisation der Pflegekräfte so zu stärken, dass sie ihre Fähigkeiten und Kompetenzen unter guten Arbeitsbedingungen und zu guten Löhnen einsetzen können (siehe auch den Artikel zu Buurtzorg).

Zum anderen müssen die Einflussmöglichkeiten der Pflegebedürftigen gestärkt werden, ohne dass neue bürokratische Strukturen aufgebaut werden müssen. Das kann am besten im nahen Umfeld des Wohnquartiers geschehen. Eine aufsuchende Beratung und regelmäßige unabhängige Überprüfung wäre notwendig, damit Pflegebedürftige ihre Bedürfnisse artikulieren können und der Schutz vor Vernachlässigung und Gewalt gesichert werden kann.

1 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_5169

2 https://www.esf.de/portal/SharedDocs/Publikationen/europaeische_saeule_sozialer_rechte.html#:~:text=Die%20Europäische%20Säule%20sozialer%20Rechte,jeweils%20zuständigen%20Ebenen%20geeinigt%20haben.

3 https://www.parlament.gv.at/dokument/XXVII/EU/121825/imfname_11196999.pdf

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Dok: Die Linke: Für gute Arbeit in der Pflege überall in der EU

Europaweit sind Pflegekräfte knapp. Trotzdem sind die Löhne zu niedrig, besonders Pflegekräfte ohne Berufsausbildung verdienen oft einen Hungerlohn. Pflegekräfte, die in Privathaushalten arbeiten, sind oft ohne Pause und Privatsphäre zu Dumpinglöhnen beschäftigt. Auch in Deutschland steigt die Zahl dieser prekären Arbeitsverhältnisse. So entsteht eine Kette aus prekärer Pflege-Arbeit. Davon profitieren internationale Gesundheitskonzerne wie Fresenius Helios, der in Deutschland und Spanien dutzende private Kliniken betreibt.

Statt des Profits wollen wir, dass alle Menschen selbstbestimmt entscheiden können, wie sie gepflegt werden wollen. Wir wollen, dass sie gleichberechtigt Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen erhalten. Dazu gehört auch die persönliche Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und zur Verhinderung von Isolation notwendig ist …

Die Linke will, dass europaweit alle Pflegekräfte unter guten Bedingungen arbeiten können. Das schaffen wir durch:

Aus dem Wahlprogramm der Linken zur Europawahl 2019

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Buurtzorg Nederland – ein kooperatives Pflegemodell

Schlechte Arbeitsbedingungen, schwierige Arbeitszeiten verbunden mit schlechter Bezahlung kennzeichnen die Situation in der häuslichen Altenpflege in der Bundesrepublik. In den Niederlanden ist eine Pflegeorganisation entstanden, die sowohl die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung der Pflegenden verbessert als auch eine hohe Zufriedenheit der gepflegten Personen erreicht.

„Buurtzorg“ heißt Betreuung in der Nachbarschaft und ist ein Pflegeunternehmen, das sich seit 2006 in den Niederlanden etabliert hat. Inzwischen arbeiten ca. tausend Teams mit zehn bis zwölf pflegenden Mitarbeitenden in den ganzen Niederlanden, mit über 11500 Beschäftigten ist es eines der größten Pflegeunternehmen im Land. Der Ansatz ist ein ganzheitliches Pflegemodell, das von Pflegerinnen in der Altenpflege entwickelt wurde. Die unternehmerische Basis ist eine Stiftung, Buurtzorg arbeitet nicht profitorientiert und insgesamt mit flachen Hierarchien. Die Gesamtleitung des Unternehmens kostet ca. acht Prozent der Jahreseinnahmen, bei anderen Pflegeunternehmen liegen die Overhead-Kosten bei bis zu 25 Prozent.(1)

Die zwölfköpfigen Teams arbeiten selbstverwaltet in einem Quartier mit ca. 10 000 Personen. Einem Team gehören Pflegerinnen und Pfleger sowie Pflegehilfskräfte an, die Hierarchie im Team ist flach. Durch die räumliche Begrenzung auf ein Quartier entfallen lange Wegezeiten. Das Team organisiert seine Arbeit selbst und entwickelt ein Netzwerk mit den örtlichen Ärzten, Therapeuten und anderen Fachleuten, aber auch mit dem informellen Netzwerk der zu Pflegenden – Familie, Freunde, Nachbarn, Vereine. Ausgangspunkt der Pflegearbeit sind die Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten. Gemeinsam mit ihnen entwickelt das Team den Pflegeplan und geht dabei von folgenden Grundsätzen aus: a) Menschen wollen so lange wie möglich die Kontrolle über ihr eigenes Leben behalten; b) Menschen streben danach, ihre eigene Lebensqualität zu erhalten oder zu verbessern; c) Menschen suchen soziale Interaktion; d) Menschen suchen „warme“ Beziehungen zu anderen.(2)

Anders als in vielen Pflegeeinrichtungen und auch Abrechnungssystemen üblich erfasst das Team den Gesamtbedarf der zu Pflegenden und unterteilt nicht z.B. in Körperpflege, Stützstrümpfe anziehen, Medikamentengabe und Haushaltsführung. Die Organisation hat sich gerade in der Kritik an der immer weiter ausufernden tayloristischen Arbeitsteilung im Pflegebereich entwickelt, die in der bundesdeutschen Pflege eine Pflegedienstleitung, pflegende Fachkräfte und minderqualifizierte Haushaltshilfen verlangt – ähnliches entwickelte sich auch in den Niederlanden. Dieses System führt zu einer hohen Unzufriedenheit bei den Pflegenden – es bleibt keine Zeit für persönliche Ansprache, die Pflege ist stark formalisiert und kann sich nicht flexibel unterschiedlichen Bedürfnissen anpassen, der bürokratische Dokumentationsaufwand und die Kosten sind hoch.

Anders bei Buurtzorg. Eine Fallstudie von KPMG aus dem Jahr 2012 ergab: „Im Wesentlichen befähigt das Programm Krankenschwestern (statt Pflegehelferinnen oder Reinigungskräften), die gesamte Pflege zu leisten, die die Patienten benötigen. Dies hat zwar zu höheren Kosten pro Stunde geführt, aber auch zu weniger Stunden insgesamt. Durch die Änderung des Pflegemodells konnte Buurtzorg die Zahl der Pflegestunden um 50 Prozent senken, die Qualität der Pflege verbessern und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter steigern.“(3)

Laut Thijs de Blok, Coach und ein Geschäftsführer der Organisation, fließen mehr als 60 Prozent der Arbeitszeit der Pflegekräfte in den direkten Kontakt mit den Pflegebedürftigen. Die Abrechnung und die Verwaltung übernimmt die Zentrale. Werden mehr Pflegekräfte benötigt, weil die Nachfrage steigt, wird ein neues Team gebildet, das in der Anfangsphase von einem Coach begleitet wird. Das Gesamtsystem führt dazu, dass die Fluktuation der Arbeitskräfte etwas über zwei Prozent liegt.(4) In Deutschland liegt sie bei mindestens sechs Prozent.

Eine andere Arbeitsorganisation, mehr Selbstverantwortung und Selbstorganisation können also in der Pflege gute Ergebnisse für das Pflegepersonal und die Pflegebedürftigen erreichen.

1 Kai Leichsenring, „Buurtzorg Nederland“ – Ein innovatives Modell der Lang zeitpflege revolutioniert die Hauskrankenpflege, erschienen 2015 in ProCare

2 https://www.buurtzorg.com/about-us/buurtzorgmodel

3 https://www.buurtzorg.com/about-us/

4 Reise des LVR-Sozialausschuss in die Niederlande, Vorlage 15/1604

Abb. (PDF): Das Buurtzorg-Zwiebelmodell geht von der Kundenperspektive aus und arbeitet von innen nach außen, um Lösungen zu erarbeiten, die Unabhängigkeit und verbesserte Lebensqualität bringen.