Politische Berichte Nr.3/2023 (PDF)18a
Gewerkschaften/Soziale Bewegung

Deutliche Erhöhung des Mindestlohns steht an

Tarifbindung in den Bundesländern stark gesunken

Der Vorschlag für die Erhöhung des Mindestlohns in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar 2024 muss bis Ende Juni von der Mindestlohnkommission vorgelegt werden. Sie besteht aus je drei stimmberechtigten Vertreterinnen und Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgebern und der aktuellen Vorsitzenden Christiane Schönefeld (unter anderem in NRW 15 Jahre lang geschäftsführende Vorsitzende der Regionalagentur der Bundesagentur für Arbeit) sowie zwei beratenden wissenschaftlichen Mitgliedern.

Zuletzt war der Mindestlohn zum 1. Oktober 2022 ausnahmsweise per Gesetz von 10,45 Euro auf aktuell 12 Euro pro Stunde erhöht worden. Bei der Einführung der Lohnuntergrenze 2015 betrug sie 8,50 Euro. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung betraf die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro 22 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse.

Michael Ohse, Goslar

Wohlfahrtsverbände wie der Sozialverband VdK fordern einen kräftigen Anstieg auf mindestens 14 Euro, „damit spätere Rentnerinnen und Rentner nicht auf staatliche Hilfen angewiesen sind“. Berechnungen würden belegen: „Wer 45 Jahre zu einem Stundenlohn von 14 Euro gearbeitet hat, erwirtschaftet eine Rente oberhalb des Existenzminimums.“ So die Vorsitzende des VDK, Verena Bentele.

Der Sozialverband Deutschland (SoVD) spricht sich für eine deutliche Anhebung auf 14,13 Euro aus, so die Vorsitzende Michaela Engelmeier. Seine Einschätzung übergab der SoVD an die Mindestlohnkommission, die diese in ihre Arbeit einfließen lassen soll.

Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil erwartet eine „deutliche Steigerung“ des Mindestlohns. „Denn wir haben nicht nur weiter eine hohe Inflation, sondern auch ordentliche Tariferhöhungen, die sich bei der anstehenden Erhöhung des Mindestlohns niederschlagen werden.“ (Bild am Sonntag, 9.4.2023).

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) nennt keine Zahl, aber räumt ein: „Ja, die Inflation frisst die letzte Mindestlohnerhöhung weitgehend auf“, wie DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell gegenüber dpa sagte. „Wir werden uns in der Mindestlohnkommission für einen kräftigen Ausgleich einsetzen.“ Vor allem Geringverdienende litten unter Preissteigerungen. Körzell verweist zudem auf die EU: Ihre neue Mindestlohnrichtlinie schreibe eine entschiedene Berücksichtigung der Kaufkraft vor.

Im Herbst 2022 war die Richtlinie für einen europäischen Rechtsrahmen zu Mindestlöhnen mit großer Mehrheit im europäischen Parlament und später auch im Rat verabschiedet worden. Kernelemente sind angemessene Mindestlöhne sowie mindestens 80 % Tarifbindung. Öffentliche Auftragsvergabe nur bei Tarifbindung und Aktionsprogramme zur Anhebung der Tarifbindung sind relevante Vorgaben.

Während die Bundesrepublik Deutschland bei der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns im europäischen Vergleich aufgeholt hat, ist die Tarifbindung in den letzten 20 Jahren stark gesunken.

Malte Lübker und Thorsten Schulten haben im April 2023 eine Analyse „Tarifbindung in den Bundesländern – Entwicklungslinien und Auswirkungen auf die Beschäftigten“ vorgelegt, die im Tarifarchiv des WSI (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung) veröffentlicht worden ist.

2021 war nur für 52 % der Beschäftigten das Arbeitsverhältnis durch einen Tarifvertrag geregelt, davon 43 % durch Branchentarifvertrag und 9% durch Firmentarifverträge. In den alten Bundesländern sind 54 % tarifvertraglich geregelt, in den neuen Bundesländern nur 45%.

Zitate aus der Analyse: „Die Entwicklung zeigt einen Rückgang der Tarifbindung sowohl in den alten als auch in den neuen Ländern. Im früheren Bundesgebiet galt 1998 für 76 % der Beschäftigten ein Tarifvertrag. Die Reichweite von Tarifverträgen ist damit im Westen zwischen 1998 und 2021 (54 %) um 22 Prozentpunkte gesunken. In Ostdeutschland galten 1998 für 63 % der Angestellten Branchen- oder Firmentarifverträge. Bis 2021 ist dieser Anteil um 18 Prozent gesunken.“

„Das Ausmaß differiert zwischen den Wirtschaftszweigen stark, wobei sich die Bedeutung für die einzelnen Branchen von Jahr zu Jahr wenig ändert. Seit Jahren liegt die Tarifbindung bei traditionell stark gewerkschaftlich vertretenen Wirtschaftsbereichen des öffentlichen Diensts mit 98 %, aber auch im Bereich Energie- und Wasserversorgung/Abfallwirtschaft/Bergbau (71 %) und bei den Finanz- und Versicherungsdienstleistungen (66 %) weit über dem Durchschnitt. Eine geringe Rolle spielt die Tarifbindung vor allem im Bereich der Information und Kommunikation mit 15 %. Der Anteil der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben steigt mit der Betriebsgröße – soweit aus den Analysen zur Tarifpolitik Nr. 96, April 2023, des WSI.

In Reaktion auf die europäische Mindestlohnrichtlinie will die Bundesregierung im Sommer 2023 ein Gesetz auf den Weg bringen, wonach Aufträge des Bundes künftig nur noch an Unternehmen vergeben werden dürfen, die sich an Tarifverträge halten. „Die Auftragnehmer des Bundes müssen ihren Mitarbeitern alle Regelungen des Branchentarifvertrages gewähren – von Lohnhöhe über Zulagen und Urlaub bis Weihnachtsgeld.“ (Hubertus Heil). Ziel sei es, dass das Gesetz zum 1. Januar 2024 in Kraft trete.

Dieser richtige Schritt, der durch (weitere) Tariftreue-Gesetze auf Länderebene ergänzt werden muss, wird allerdings allein keinen deutlichen Sprung bei der Tarifbindung in der Bundesrepublik bewirken. Die gewerkschaftliche Durchsetzungsmacht allein wird es nicht richten. Die Bundesregierung ist durch die europäische Mindestlohnrichtlinie verpflichtet, bis spätestens November 2024 einen Aktionsplan vorzulegen, um mindestens 80 % Tarifbindung zu erreichen. Dieser Aktionsplan sollte Allgemeinverbindlichkeitserklärungen der wichtigsten Flächentarifverträge enthalten, denn allein im großen Gesamtmetall-Arbeitsgeberverband sind 3864 Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie ohne Tarifbindung (OT) organisiert mit insgesamt 576985 Beschäftigten.