Politische Berichte Nr.04/2022 (PDF)06
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Die Regierung Putin eskaliert

01 SöldnerMarsch auf Moskau
02 Private „Sicherheits- und Militärunternehmen“
03 Dok: Sicherheitsrat diskutiert Schwarzmeer-Getreide-Abkommen, Dokument von 21. Juli
04 Herr Geng Shuang (China) (spricht auf Chinesisch), ungekürzt, Red.
05 Herr Manrique (Ecuador), (spricht auf Spanisch) Auszug

Aus der Diskussion der Redaktion, Martin Fochler, München

Nach der Eroberung von Bachmut konnte der Aggressor nicht weiter vorrücken. Ferner zeichnete sich ab, dass die Russische Föderation Operationen wie die Erstürmung Bachmuts nicht wiederholen kann. Die RF hatte aber Zeit und Mittel, ihre Stellungen auszubauen. Zur Befreiung besetzter Gebiete kam es bislang nicht.

Die Russische Föderation hatte in dieser Situation die Wahl: Anknüpfend an das Getreideabkommen sowie die Vereinbarungen mit der UNO wegen der Reaktorsicherheit im AKW Saporischschja konnte sie einen Waffenstillstand ins Gespräch bringen, stattdessen griff sie zum Mittel der Eskalation.

Die Stationierung von Atomwaffen in Weißrussland, laut Regierung Putin seit Anfang Juli im Gang, bindet das Land fest an die RF. Die Entlassung der Reste der Militärfirma Wagner in einen Kontrakt mit Lukaschenka zieht aus einer verfahrenen Situation sogar Nutzen. Die Ukraine hat an ihrer langen nordwestlichen Grenze zusätzliche Sorgen, die Vision der Wiedereingliederung Weißrusslands wird bestärkt.

Das Getreideabkommen wird mit Blick auf die Welternährungslage diskutiert. Es war aber auch mit einer Art Verzicht von Angriffen auf die Hafenstädte der Ukraine verknüpft. Völlige Ruhe herrschte nicht, nun aber startete die RF eine Serie von Großangriffen auf kulturelle, zivile und wirtschaftliche Einrichtungen an der Schwarzmeerküste. Die ukrainische Abwehr hat – Stand jetzt – große Schwierigkeiten, von See her gestartete Angriffe abzufangen. Es scheint vorstellbar, Getreideexporte der Ukraine über Land umzuleiten, das ist aber teuer. Auch entstehen Einflüsse auf die Erzeugerpreise in der EU, siehe die Proteste der EU-Nachbarländer, namentlich Polens.

Militärisch und wirtschaftlich belastet die Eskalation die Ukraine stark, ohne dass der Aggressor dafür sonderlich Aufwand treiben müsste. Putin rühmte sich der Gewinne für die RF durch weltweit gestiegene Getreidepreise und kündigte parallel kostenlose Lieferungen an bedürftige Länder an. Anscheinend geht die RF davon aus, dass sie den Süden der Ukraine von See aus unter Feuer nehmen, von Land aus gestartete Drohnen und Lenkwaffen aber abfangen kann und Luftangriffe nicht befürchten muss.

Die Eskalation verschlechtert die strategische Position der RF trotzdem. Das Land bleibt trotz seiner Träume von Autarkie mit Wirtschaft und Gesellschaft der globalen Welt verflochten. Die Kündigung des Getreideabkommens war auch ein Versuch, die Sanktionen, die das Land im internationalen Zahlungsverkehr stark behindern, zum Thema zu machen. Das hat nicht gezogen. In der globalen Diskussion ist die Frage der Welternährung das Thema geworden.

In den Medien wird die Kritik der Getreideblockade durch die VR China hervorgehoben. Wir dokumentieren daher die Stellungnahme von Herr Geng Shuang. Die Spekulationen, dass diese Stellungnahme die Zusammenarbeit der Russischen Föderation mit der VR China belasten würde, trägt diese Stellungnahme nicht. Wahr ist aber, dass sie den Versuch der RF, die Weltöffentlichkeit gegen die verhängten Sanktionen aufzubringen, nur recht matt unterstützt.

Zwei Aspekte, die in der bundesdeutschen Debatte keine herausragende Rolle spielen, finden sich in dem Beitrag von Herrn Manrique (Ecuador), der sagt, dass „Angriffe auf zivile Schiffe im Schwarzen Meer nicht hinnehmbar“ seien. Damit spricht er an: Große Staaten können kleinere durch Seeblockade von der globalen Welt abschneiden; ferner, die fruchtbaren Flächen des Globus sollten auch als Gemeingut verstanden werden.

Die Politik der Russischen Föderation lädiert Zug um Zug immer weiter Grundsätze und Interessen, die in demokratischen Prozessen von der Weltgesellschaft fixiert wurden. Verlässliche Beziehungen lassen sich so nicht aufbauen. Man kann wohl sagen, dass solche Strategien die Position der RF in unvermeidlich kommenden Verhandlungen schwächen werden. Die Rebellion der Wagner-Verbände sollte man nicht überbewerten, es sind Söldner, die für sich persönlich Gewinn und Verlust abrechnen. Als sicheres Anzeichen der Erschöpfung der Kampftruppen an dieser Front kann der Vorfall trotzdem gelten.

01

SöldnerMarsch auf Moskau

Ende Mai übergaben die Wagner Truppen die Ruinen der von ihnen erstürmten Stadt Bachmut dem regulären Militär. Vier Wochen später rebellierten die Verbände und zogen unter Waffen zwei Tage lang in Richtung Moskau. Dann bot der Präsident Weißrusslands an, die Militärfirma zu engagieren, einzeln konnten sich die Söldner auch der Armee der RF anschließen. An Vorzeichen hatte es nicht gefehlt. Wutreden des Chefs der Militärfirma Prigoschin steigerten sich zuerst gegen das Oberkommando des Frontabschnitts, dann gegen das Kriegsministerium und am Ende sogar gegen den obersten Kriegsherrn selbst. Die Wagner-Truppe fühlte sich verraten und verheizt.

Was war geschehen? Während Führungsstäbe großer Militärverbände geschult werden, erreichbare Erfolge und zu erwartende Verluste vorab gegeneinander abzuwägen, hatte die Militärfirma die Risiken der von ihr übernommenen Operation nicht überblickt. Weitere Einsätze dieser Art vor Augen können die Wagner-Leute nichts anderes als verzweifelt gewesen sein. Würden reguläre Verbände auf derartige Aussichten anders reagieren?

Das reguläre Militär, die Polizei, die Geheimdienste ließen die Wagner-Leute ins Leere laufen.

So waren sie sowohl die lästigen Freischärler wie auch die militärisch gesehen irren Operationsplanung vom Typ Bachmut los.

Abb. (PDF): Route der Wagner-Verbände

02

Private „Sicherheits- und Militärunternehmen“

Militärunternehmen wie die in jüngster Zeit viel genannte Wagner-Truppe sind keine Erfindung der Russischen Föderation, es gibt sie weltweit und in großer Zahl.1 Als Überbleibsel des Söldnerwesens früherer Zeiten können sie auch nicht verstanden werden. Sie finden in den Nationalstaaten der Jetzt-Zeit ihren Platz als Dienstleister, man spricht von der Sicherheitsbranche, ihre Aufgaben reichen von der Sicherung etwa eines Festzeltes über bewaffneten Personenschutz bis zu komplexen Organisationen, Sammelbegriff „Werkschutz“. Wachdienste werden auch von staatlichen Behörden und Militärverbänden angeheuert und gehen als Hilfskräfte mit in Kampfeinsätze.2 Skandal machen 2004 Berichte, dass amerikanische Mitarbeiter von Militär- und Geheimdiensten sowie von privaten Militärunternehmen Gefangene im Abu-Ghuraib-Gefängnis nahe Bagdad gefoltert hatten.3 Es entstehen Organisationen, die sich in Kriegen, namentlich in Bürgerkriegen einsetzen lassen.4 Militärorganisationen sind – wenigstens dem Anspruch nach – mit dem politischen System verschränkt, das ihr Tun rechtfertigen muss. Militärfirmen hingegen sind mit dem Auftraggeber nur lose, d.h. durch kündbare Verträge gekoppelt. Dies gilt – der Form nach – auch für ihre innere Organisation; so kennen aber viele brutalste Methoden, innerverbandlichen Gehorsam zu erzwingen. Militärfirmen gewinnen ihr Personal aus dem großen Reservoir von Menschen, die nach dem Militärdienst nicht ins zivile Leben zurückfinden. In einem Punkt allerdings sind sie mit der Söldner-Mentalität der Vormoderne verbunden: Ein mächtiger Antrieb ist die Hoffnung auf Beute. Die Verwicklung von Militärfirmen in kriminelle Geschäfte ist Legende, einschlägige Quellen siehe unten.1

Sicherheitsgewerbe und Wachdienste lassen sich in rechtlich geordnete politische Systeme irgendwie einbetten, ihre Kompetenzen werden beschnitten. Militärfirmen aber nicht, da sie bezahlt werden müssen, sind sie faktisch eine Privatarmee großer Kapitalinteressen, die insbesondere in kleineren Staaten in Entwicklungskrisen zur Stabilisierung von Marionetten eingesetzt werden können. Angesichts dessen schuf die UNO 2005 eine „Arbeitsgruppe betreffend Einsatz von Söldnern als Mittel zur Verletzung der Menschenrechte und zur Verhinderung des Selbstbestimmungsrechts der Völker“, sie „hat die Aufgabe aufkommende Probleme, Erscheinungsformen und Entwicklungen in Bezug auf Söldner und deren Auswirkungen auf die Menschenrechte zu untersuchen und zu ermitteln“.5

Diese Initiativen kann sich auf „Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte“6 (Art. 47) stützen, in dem 1977 unter anderem definiert wurde, wer Söldner ist, die vor allem auf die Motivation der einzelnen Söldner abhebt – „Streben nach persönlichem Gewinn“ abhebt und feststellt, dass ein Söldner „keinen Anspruch auf den Status eines Kombattanten oder eines Kriegsgefangenen“ hat.

Diese durchaus harte Bestimmung, greift aber nur eine Seite des Problems an. Verzweifelte oder verblende Menschen, die lassen sich trotzdem finden. Es reicht nicht, den einzelnen Söldner zu kriminalisieren, strafbar sollte auch die Auftragserteilung an Militärfirmen werden.

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_privater_Sicherheits-_und_Milit%C3%A4runternehmen 2 https://de.wikipedia.org/wiki/Academi 3 https://de.wikipedia.org/wiki/Abu-Ghuraib-Folterskandal 4 https://de.wikipedia.org/wiki/DynCorp 5 https://de.wikipedia.org/wiki/UN-Arbeitsgruppe_betreffend_Einsatz_von_S%C3%B6ldnern 6 https://fedlex.data.admin.ch/filestore/fedlex.data.admin.ch/eli/cc/1982/1362_1362_1362/20180712/de/pdf-a/fedlex-data-admin-ch-eli-cc-1982-1362_1362_1362-20180712-de-pdf-a.pdf

03

Dok: Sicherheitsrat diskutiert Schwarzmeer-Getreide-Abkommen, Dokument von 21. Juli

04

Herr Geng Shuang (China) (spricht auf Chinesisch), ungekürzt, Red.

Ich danke Untergeneralsekretär DiCarlo und Untergeneralsekretär Griffiths für ihre Informationen. Ich habe auch den Ausführungen von Herrn Khazin aufmerksam zugehört.

Die Schwarzmeer-Getreide-Initiative und die Vereinbarung über die russischen Lebensmittel- und Düngemittelausfuhren sind für die Sicherung der weltweiten Lebensmittelversorgung und die Stabilisierung des globalen Lebensmittelmarktes sehr wichtig. Beide sollten in ausgewogener, umfassender und wirksamer Weise umgesetzt werden, und die berechtigten Anliegen der beteiligten Parteien sollten berücksichtigt werden. In den letzten Tagen hat die Russische Föderation wiederholt erklärt, dass sie bereit ist, eine Wiederaufnahme ihrer Teilnahme an der Initiative in Erwägung zu ziehen, wenn substanzielle Fortschritte bei der Beseitigung von Hindernissen für ihre Getreide und Düngemittelausfuhren erzielt werden. Auch Generalsekretär Guterres hat erklärt, dass er sich weiterhin dafür einsetzen wird, dass Getreide und Düngemittel aus der Ukraine und Russland den Weltmarkt erreichen.

China hofft, dass die betroffenen Parteien im Interesse der Aufrechterhaltung der internationalen Ernährungssicherheit und der Linderung der Ernährungskrise insbesondere in den Entwicklungsländern handeln werden, indem sie mit den zuständigen Organisationen der Vereinten Nationen zusammenarbeiten, um den Dialog und die Konsultationen zu verstärken, einander auf halbem Wege entgegenzukommen und sich um eine ausgewogene Lösung für die berechtigten Anliegen aller Parteien zu bemühen, damit Russland und die Ukraine ihre Getreide- und Düngemittelausfuhren so bald wie möglich wieder aufnehmen können. Die Lage in der Ukraine eskaliert seit geraumer Zeit immer weiter und zeigt eine zunehmende Tendenz mit zahlreichen Angriffen auf wichtige zivile Infrastrukturen. China ruft die Parteien dazu auf, Ruhe walten zu lassen, Zurückhaltung zu üben, sich strikt an das humanitäre Völkerrecht und die Grundsätze der Notwendigkeit, der Unterscheidung und der Verhältnismäßigkeit zu halten, von Angriffen auf Zivilisten und zivile Infrastrukturen abzusehen und alle Anstrengungen zu unternehmen, um eine Ausweitung des Konflikts zu verhindern und so eine größere humanitäre Krise abzuwenden.

Der wahre Weg zur Lösung der humanitären Situation in der Ukraine liegt in einer politischen Lösung der ukrainischen Frage. China ruft die Konfliktparteien erneut auf, die Friedensgespräche so bald wie möglich wieder aufzunehmen, und appelliert an die internationale Gemeinschaft, die dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. In der Ukraine-Frage hat sich China stets dafür eingesetzt, dass die Souveränität und territoriale Integrität aller Länder gewahrt bleibt. Die Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen sollten respektiert und die berechtigten Sicherheitsbedenken aller Parteien ernst genommen werden. Jede Anstrengung, die zu einer friedlichen Lösung der Krise beitragen könnte, sollte unterstützt werden. China wird sich weiterhin für Frieden und Dialog einsetzen und unermüdlich mit der internationalen Gemeinschaft zusammenarbeiten, um eine politische Lösung der Ukraine-Frage zu fördern.

05

Herr Manrique (Ecuador), (spricht auf Spanisch) Auszug

... Obwohl Getreideexporte an sich keine Nahrungsmittelhilfe darstellen, spielen sie weiterhin eine wichtige Rolle bei der Linderung der Ernährungsunsicherheit und damit bei der globalen humanitären Lage. Die Umsetzung der Schwarzmeer-Getreide-Initiative hat Millionen von Menschen vor dem Hunger bewahrt (...)

Wie könnte die Resolution 2417 (2018) schlechter umgesetzt werden, in der der Rat vor fünf Jahren alle Parteien aufforderte, das ordnungsgemäße Funktionieren der Nahrungsmittelsysteme und -märkte in bewaffneten Konflikten sicherzustellen? Und wie könnte man die Entscheidung, die Getreideinitiative auszusetzen, schlechter begleiten als durch die Bombardierung der ukrainischen Hafenstädte und der Infrastruktur für die Getreideverladung, insbesondere in Odessa? Ganz zu schweigen davon, dass jegliche Bedrohung oder jeder Angriff auf zivile Schiffe im Schwarzen Meer nicht hinnehmbar wäre.

Ecuador betont, wie wichtig es ist, die Systeme der Lebensmittel- und Wasserversorgung zu respektieren, und erinnert an das bestehende Verbot, für das Überleben der Zivilbevölkerung unentbehrliche Objekte, einschließlich landwirtschaftlicher und agrarischer Güter, anzugreifen, zu zerstören, zu entfernen oder unbrauchbar zu machen. ...

Das offizielle Sicherheitsrat-Dokument von 21. Juli ist bei https://documents.un.org/prod/ods.nsf/home.xsp unter dem Aktenzeichen S/PV.9382 zu finden („N2321463.pdf“). Eine von uns angefertigte DeepL-Rohübersetzung steht auf unserer Webseite https://linkekritik.de/index.php?id=synopsen, Englisch: N2321463.pdf, Deutsch: N2321463-a3-de.pdf.