Politische Berichte Nr.04/2022 (PDF)09
EU-Politik

Niemanden zurücklassen – Kohäsionspolitik 2021 bis 2027 und ff.

Nora Schüttpelz, Brüssel*

Ein zentrales Verfassungsziel der EU ist die Verbesserung und zugleich Angleichung der Lebensverhältnisse in der ganzen Union. Klingt nicht nach der „neoliberalen EU“? Ist aber so: Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union sind fünf Artikel dem „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt“ in den Mitgliedstaaten und Regionen der EU gewidmet (Artikel 174 bis 178), dem Ziel der so genannten Kohäsionspolitik. Auch wenn „Aufwärtskonvergenz“ nach Bürokratendeutsch klingt, dieses Ziel ist die Grundlage der Umverteilungspolitik der EU, die finanziell durch die EU-Strukturfonds untersetzt wird – immerhin mit 378 Milliarden Euro für die sieben Jahre 2021 bis 2027, d.h. etwa ein Drittel des gesamten EU-Haushalts. Ein Großteil davon wird von den Regionen in Abstimmung mit den Kommunen, Sozialpartnern, Wirtschaftsakteuren und Zivilgesellschaft verwaltet, und so soll es auch sein. Denn das sind die Orte, an denen Politik am konkretesten, am deutlichsten sichtbar und am direktesten für jeden gestaltbar und demokratisch kontrollierbar ist. Zugleich machen sich Krisen und Schuldenbremsen hier am deutlichsten bemerkbar, wenn leere Kassen öffentliche Investitionen wegbrechen lassen.

Öffentliche Investitionen sind Ausgaben des Staates bzw. der Regionen und Kommunen in Verkehrsinfrastruktur, ÖPNV, (sozialen) Wohnungsbau, Hochschulen, Schulen und Forschung, Umstieg auf klimafreundliche Technologien, digitale Netze, Gesundheitswesen, Altenpflege, Stromnetze, Sporteinrichtungen, Kultur, Stadt- und Dorfentwicklung oder touristische Infrastruktur. In der vergangenen Förderperiode 2014 bis 2020 machten Unterstützungszahlungen der EU fast 14 % der gesamten öffentlichen Investitionen in der EU aus. In den 15 Mitgliedstaaten, die weniger als 90 % der durchschnittlichen Wirtschaftskraft erwirtschaften konnten, steuerten die EU-Strukturfonds sogar über die Hälfte (52 %) der öffentlichen Investitionsmittel bei. Deutschland gehört nicht zu diesen 15, aber besonders Ostdeutschland würde heute ohne EU-Förderung längst nicht dastehen, wo es heute ist, da Umverteilung auch hierzulande nicht Politikziel Nummer 1 ist.

Dieser Aspekt bei den EU-Ausgaben ist durchaus beeindruckend. Doch der EU-Haushalt ist eben nur etwa ein Prozent des BIP der EU und die Kohäsionspolitik davon wiederum ein Drittel. Es müssen also Prioritäten gesetzt werden. Die Gesetzgebung dazu, welche Ziele und Maßnahmen in einem Siebenjahreszeitraum gefördert werden sollen, ist jeweils ein jahrelanger politischer Aushandlungsprozeß im Europäischen Parlament und zwischen den EU-Institutionen Parlament, Rat und Kommission.

Auch ohne Corona, ohne ChatGPT, ohne Krieg gegen die Ukraine und Energie- und Rohstoffkrise war bereits in den Jahren der Verhandlungen über die 2021 begonnene Förderperiode klar: Der grüne und digitale Wandel sind Kernthemen, die wir angehen müssen. Aber es war 2017/18 nicht von Anfang an entschieden, ob weiterhin ein so hoher Anteil des EU-Haushalts in die Kohäsionspolitik gehen sollte – der deutsche EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger schlug 2017 zunächst ein Szenario mit über 30 % Kürzung bei der Regionalförderpolitik als Option vor. Auch war umstritten, ob die weniger entwickelten Regionen in den reicheren Staaten (wie der Osten Deutschlands) weiter davon profitieren sollten, ob neben erneuerbaren Energien nicht doch weiter massiv in den Ausbau von Gasinfrastruktur investiert werden sollte, wie stark Umwelt- und Klimaschutz gewichtet sein würden, ob und wie stark Kommunen bei der Aufnahme von Geflüchteten unterstützt werden sollten, ob Großunternehmen oder vor allem KMU von den Fördermitteln profitieren sollten und vieles mehr. Dabei prallten konservativ-neoliberale Positionen mit Fokus auf globale Konkurrenzfähigkeit, Marktorientierung und Abschottung gegen linke und liberale Politikansätze von sozial und ökologisch nachhaltiger, inklusiver und auch gegenüber Nicht-EU-Staaten kooperativer Entwicklung. Am Ende stand ein Kompromiss.

Ein wichtiger Erfolg war, dass eine Formulierung deutlich abgeschwächt wurde, die es, verkürzt gesagt, zuließ, Verstöße gegen die EU-Schuldenbremse mit der Aussetzung von Strukturfondszahlungen zu sanktionieren. Zu den positiven Aspekten des Gesamtpakets zählt die Stärkung der sozialen Dimension, zum Beispiel in Bezug auf sozialen Wohnungsbau, auf die Integration von Migrant*innen und Geflüchteten sowie die Stärkung nachhaltiger Stadtentwicklung. Im Einklang mit dem europäischen Grünen Deal sollen 30 % der der Mittel aus dem größten Fördertopf, dem EFRE, für grüne Ziele bereitgestellt werden, Investitionen größtenteils sozial und ökologisch zukunftssicher gestaltet werden. Lob erhielt das Parlament auch für eine starke Orientierung auf Kreislaufwirtschaft und die Absage an veraltete Müllverbrennungstechniken. Der neugeschaffene Just Transition Fonds für besonders vom dringend notwendigen Kohleausstieg betroffene Regionen ist in erster Linie ein Instrument, um die sozialen Auswirkungen des Übergangs zu einem grünen Europa auszubalancieren. Er soll zur Schaffung von guten, grünen Arbeitsplätzen beitragen, Start-ups, Universitäten und öffentlichen Forschungseinrichtungen wie auch Kleinstunternehmen unterstützen und auch das kulturelle Industrieerbe bewahren helfen.

Wie diese Regelungen sich nun in den 379 Programmen der verschiedenen Regionen in der EU nachlesen, zeigt eine erste Zusammenfassung in Zahlen und Diagrammen im „Arbeitsdokument der Kommission: Kohäsion 2021–2027: Eine immer stärkere Union schmieden“ vom Mai 2023.

https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_23_2462

Neben vielen positiven Ausblicken ist zu sehen, dass durchaus weiter ein starkes Augenmerk auf marktrelevanten Kriterien wie Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsmarktzahlen liegt, aber eben auch darauf, „niemanden zurückzulassen“. Dieses „niemanden zurücklassen“ sollten wir alle noch viel ernster nehmen. Klimawandel findet statt. Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelt ist Realität. Frauen- und Minderheitenrechte dürfen nicht in Frage gestellt werden. Migrationsbewegungen haben immer zu Europa gehört – seine eigene kriegerische Geschichte ist dafür ganz wesentlich verantwortlich. Veränderungen und Krisen finden heute verstärkt gleichzeitig und in rascher Folge statt. Manchem und mancher ist das zu schnell, zu viel. Aus meiner Sicht ist das keine Entschuldigung, zum „old white man“, zum Realitätsverweigerer (auch in weiblicher Form) oder/und Unterstützer rechtsnationalistischer Rattenfänger zu werden. Es ist erst recht kein Grund für Linke, selber vor der Realität und notwendigen Veränderungen davonzulaufen. Aber es ist unsere Aufgabe, den Grundgedanken der Kohäsionspolitik als Solidaritätspolitik zu verteidigen und weiterzuentwickeln. „Niemanden zurücklassen“ sollte sich viel stärker durch alle Politikbereiche hindurchziehen und Teil umfassender Entwicklungsstrategien sein. Als Linke wollen wir sozial-ökologische Transformation unseres Wirtschaftens und gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Union als oberste Priorität von EU-Investitionspolitik sehen.

* Nora Schüttpelz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro Martina Michels im Europäischen Parlament. Weiterer Artikel zum Thema: https://www.dielinke-europa.eu/de/article/13573.niemanden-zur%C3%BCcklassen-koh%C3%A4sionspolitik-2021-2027-und-wie-geht-es-weiter.html