Politische Berichte Nr.04/2022 (PDF)10
Aktionen-Initiativen

Europäische Aktionen/Initiativen: Thema Asylpolitik Redaktion: Thorsten Jannoff-d

01 Refugee Support Aegean (RSA): Einigung EU-Rat ist ernste Bedrohung für das Recht auf Asyl
02 UNHCR und IOM drängen auf entschlossenes Handeln nach der jüngsten Tragödie im Mittelmeer
03 amnesty: Für legale Zugangswege nach Europa
04 sea-watch.org: Offener Brief von über 180 Menschenrechtsorganisationen und Initiativen

01

Refugee Support Aegean (RSA): Einigung EU-Rat ist ernste Bedrohung für das Recht auf Asyl

Die von den EU-Mitgliedstaaten am vergangenen Donnerstag, den 8. Juni, erzielte Einigung ebnet den Weg für sofortige Verhandlungen („Trilog“) mit dem Europäischen Parlament, dessen Positionen zu den Vorschlägen im März 2023 angenommen wurden. Ziel ist es, die seit 2016 anhängige Reform des europäischen Rechtsrahmens für Asyl abzuschließen. Das Mandat des Rates verschärft die Ungleichheiten zwischen den EU-Ländern beim Flüchtlingsschutz durch obligatorische Grenzverfahren, ein strengeres Zuständigkeitskriterium für das „Ersteinreiseland“ und äußerst komplexe Verfahren, die im Wesentlichen den Status quo als Solidaritätsformen festschreiben. Außerdem wird der Zugang zu internationalen Schutzverfahren durch eine Reihe von Bestimmungen, die das Grundrecht auf Asyl verletzen, in unzulässiger Weise eingeschränkt.

Das APR-Mandat schränkt die Möglichkeit ein, einen Asylantrag zu „stellen“, da es von den Flüchtlingen verlangt, dass sie ihre Absicht, Schutz zu erhalten, persönlich vor den benannten nationalen Behörden äußern. Personen, die einen Registrierungstermin vereinbart haben, werden daher bis zum Tag ihres persönlichen Erscheinens nicht als „Asylbewerber“ betrachtet, wie die griechische Regierung in direktem Widerspruch zur Rechtsprechung der nationalen Gerichte und des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) behauptet. Anträge, die mehr als sieben Arbeitstage nach einer früheren Rückkehrentscheidung gestellt werden, werden als unzulässig abgewiesen, wenn in der Zwischenzeit keine neuen Gründe aufgetreten sind. Dies hat besonders schwerwiegende Folgen für Asylbewerber in Griechenland, wo neu ankommende Personen systematisch von den Polizeibehörden abgeschoben oder zurückgeschickt werden, bevor ihr Asylantrag registriert wird.

Darüber hinaus hat der Rat eine breitere Definition des Begriffs „sicherer Drittstaat“ als Grund für die Ablehnung von Asylanträgen ohne inhaltliche Prüfung gebilligt, die von Griechenland unterstützt wird. Das vorgeschlagene Konzept birgt die unmittelbare Gefahr einer weiteren Ausweitung der willkürlichen Praxis, die Griechenland in den letzten sieben Jahren nach dem „giftigen“ EU-Türkei-Abkommen verfolgt hat. Der Rat erlaubt die Einstufung von Staaten als „sichere Drittstaaten“, die ihre eigenen Bürger verfolgen und Flüchtlingen keinen Rechtsstatus und keine vollen Rechte gewähren. Er hebt die Verpflichtung der Staaten auf, methodische Regeln für die Verwendung des Konzepts festzulegen, was im Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH steht, und geht davon aus, dass die Sicherheit von Drittstaaten durch ihre bloße Zusicherung, dass Migranten im Rahmen von Abkommen mit der EU „im Einklang mit den einschlägigen internationalen Standards“ behandelt werden, erfüllt ist.

Der Beginn der „Triloggespräche“ zwischen den EU-Mitgesetzgebern zeigt, dass es dringend notwendig ist, sich der vom Rat vorgeschlagenen Demontage des gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu widersetzen und faire und wirksame Asylverfahren zu gewährleisten, die den Bedürftigen einen echten Zugang zum Schutz garantieren.

Refugee Support Aegean (RSA) ist eine eingetragene gemeinnützige Organisation, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Griechenland einsetzt; https://rsaegean.org/en/a-dire-threat-to-the-right-to-asylum-eu-council/

02

UNHCR und IOM drängen auf entschlossenes Handeln nach der jüngsten Tragödie im Mittelmeer

Das UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, und die Internationale Organisation für Migration (IOM) drängen nach der jüngsten Tragödie im Mittelmeer, der schlimmsten seit mehreren Jahren, auf dringende und entschlossene Maßnahmen, um weitere Todesfälle auf See zu verhindern. Das Schiff befand sich Berichten zufolge seit dem Morgen des 13. Juni in Seenot. Die griechische Küstenwache kündigte am Morgen des 14. Juni eine groß angelegte Such- und Rettungsaktion nach dem Schiffsunglück an.

Die Pflicht zur unverzüglichen Rettung von Personen in Seenot ist eine Grundregel des internationalen Seerechts. Sowohl Schiffskapitäne als auch Staaten sind verpflichtet, Personen in Seenot Hilfe zu leisten, unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Status oder ihren Umständen, auch auf seeuntüchtigen Schiffen, und unabhängig von den Absichten der Personen an Bord.

Alle Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Suche und Rettung ergriffen werden, müssen mit der Verpflichtung, den Verlust von Menschenleben auf See zu verhindern, vereinbar sein.

UNHCR und IOM begrüßen die in Griechenland angeordneten Ermittlungen zu den Umständen, die letztlich zum Kentern des Schiffes und zum Verlust so vieler Menschenleben geführt haben.

Sowohl der UNHCR als auch die IOM waren in enger Abstimmung mit den Behörden in Kalamata, Südgriechenland, vor Ort, um den Überlebenden Unterstützung und Hilfe zukommen zu lassen, u.a. in Form von Hilfsgütern, Hygieneartikeln, Dolmetschern und Beratung für die traumatisierten Überlebenden nach der Tortur.

UNHCR und IOM weisen erneut darauf hin, dass die Suche und Rettung auf See ein rechtliches und humanitäres Gebot ist.

„Die EU muss Sicherheit und Solidarität in den Mittelpunkt ihres Handelns im Mittelmeer stellen. Angesichts der zunehmenden Flüchtlings- und Migrantenbewegungen im Mittelmeer sind kollektive Anstrengungen, einschließlich einer stärkeren Koordinierung zwischen allen Mittelmeerstaaten, Solidarität und gemeinsame Verantwortung, wie sie im EU-Pakt zu Migration und Asyl zum Ausdruck kommen, unerlässlich, um Leben zu retten. Dazu gehört auch die Einrichtung eines vereinbarten regionalen Ausschiffungs- und Umverteilungsmechanismus für Menschen, die auf dem Seeweg ankommen, wofür wir uns weiterhin einsetzen“, sagte Gillian Triggs, stellvertretende UNHCR-Hochkommissarin für Schutz.

„Es ist klar, dass der derzeitige Ansatz für das Mittelmeer nicht funktionieren kann. Jahr für Jahr bleibt es die gefährlichste Migrationsroute der Welt mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Die Staaten müssen sich zusammentun und die Defizite bei der proaktiven Suche und Rettung, der schnellen Ausschiffung und den sicheren regulären Wegen beheben. Diese kollektiven Bemühungen müssen die Menschenrechte der Migranten und die Rettung von Menschenleben in den Mittelpunkt aller Maßnahmen stellen“, sagte Federico Soda, Direktor der IOM-Notfallabteilung.

https://www.acnur.org/es-es/noticias/comunicados-de-prensa/acnur-y-oim-instan-una-accion-decisiva-tras-la-ultima-tragedia-en-el

Abb. (PDF): Logo UNHCR mit ACNUR

03

amnesty: Für legale Zugangswege nach Europa

Bei einem Schiffbruch vor der Küste Griechenlands starben am frühen Mittwochmorgen mindestens 79 Menschen. 567 Personen werden noch vermisst, darunter offenbar 100 Kinder. Es muss dringend eine unabhängige Untersuchung eingeleitet werden, um die Umstände des Vorfalls zu klären. Adriana Tidona, Expertin für Migration bei Amnesty International, kommentierte den Schiffbruch folgendermaßen:

„Hier handelt es sich um einen Schiffbruch unvorstellbaren Ausmaßes. Diese Toten waren vermeidbar. Wir fordern dringend eine gründliche, unabhängige und unparteiische Untersuchung der Ursachen des Vorfalls, sowie das Bereitstellen von Hilfe und Unterstützung für die Überlebenden. Viele Fragen sind offen. Warum wurde der Such- und Rettungseinsatz nicht früher eingeleitet? Wieso ist das Boot gekentert? Transparenz, Wahrheit und Gerechtigkeit müssen sichergestellt werden – für die Überlebenden und ihre Familien sowie für diejenigen, die ums Leben gekommen sind. Während die Welt darauf wartet, dass die Überlebenden die Möglichkeit erhalten, ihre Version des Vorfalls darzulegen, ist Amnesty International besorgt über die mangelnde Klarheit der Angaben griechischer Behörden.

Es muss dringend eine Untersuchung eingeleitet werden, um die Umstände des Vorfalls zu klären.

www.amnesty.de/informieren/aktuell/griechenland-schiffsunglueck-legale-zugangswege-nach-europa-notwendig

04

sea-watch.org: Offener Brief von über 180 Menschenrechtsorganisationen und Initiativen

https://sea-watch.org/bis-zu-600-menschen-ertrinken-vor-pylos-griechenland-nur-wenige-tage-nachdem-sich-eu-innenministerinnen-auf-eine-weitere-aushoehlung-des-asylrechts-einigen/

Heute, am Weltgeflüchtetentag, fordern wir gemeinsam eine vollständige und unabhängige Untersuchung der Ereignisse, klare Konsequenzen für die Verantwortlichen, ein Ende der systematischen Pushback-Praktiken an den europäischen Grenzen und Gerechtigkeit für die Opfer. Bis heute bleiben unzählige Fragen unbeantwortet. Nach Aussagen der Überlebenden schleppte die griechische Küstenwache das Boot ab und brachte es

zum Kentern. Warum wurde dieses gefährliche Manöver überhaupt versucht? Hat die griechische Küstenwache das Boot in Richtung Italien geschleppt, um die Menschen in die italienische oder maltesische Verantwortung abzuschieben? Warum haben weder die griechische Küstenwache noch die italienischen oder maltesischen Behörden früher eingegriffen, obwohl sie mindestens 12 Stunden zuvor alarmiert worden waren?

(…) Aus diesem Grund fordern wir ein sofortiges Ende der (systemischen) Grenzgewalt. Wir fordern:

1. dass sowohl die griechische als auch europäische Regierungen und Institutionen sicherstellen, dass lückenlose, gründliche und unabhängige Untersuchungen zu den Ereignissen durchgeführt werden.

2. dass die griechische Regierung die Überlebenden des Schiffbruchs von Pylos unverzüglich aus den (halb-)geschlossenen Einrichtungen entlässt und ihnen stattdessen eine menschenwürdige Unterbringung und jede Art von Unterstützung gewährt, die sie benötigen – z.B. unabhängige Rechtsberatung, psychologische Unterstützung und die Möglichkeit, mit Familie und Freund:innen zu kommunizieren. Außerdem stehen wir für die Freilassung der 9 verhafteten Männer ein. Wir verurteilen die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht, die für illegalisierte Einreisen und Todesfälle auf See verantwortlich gemacht werden. Diese Anschuldigungen dienen dazu, die verantwortlichen staatlichen Akteur:innen zu entlasten.

3. alle europäischen Außengrenzstaaten auf, das Verzögern von Rettungen nicht als Waffe einzusetzen. Darüber hinaus fordern wir unabhängige Untersuchungen und konsequente Maßnahmen der Europäischen Kommission gegen die systematische Pushback-Praxis und unterlassene Hilfeleistung auf See und an Land durch europäische Mitgliedsstaaten – wie sie in den letzten Jahren von Organisationen und Aktivist:innen umfassend aufgezeigt wurde.

4. die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten auf, sichere und legale Fluchtrouten nach Europa zu schaffen, da dies die einzige Lösung ist, um weitere Tote auf See zu verhindern. Die GEAS-Reform, die das Recht auf Asyl in der Europäischen Union weiter aushöhlt, darf nicht Gesetz werden.

Außerdem fordern wir die Schaffung eines längst überfälligen staatlichen europäischen Seenotrettungsprogramms.

Was heißt hier sicher?

PRO ASYL kritisiert den Beschluss der Innenminister*innenkonferenz vom 15. Juni 2023, die Liste der sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ um sieben weitere Länder zu erweitern, scharf.

„Zur Entlastung der Kommunen zählt ebenso die Liste der sicheren Herkunftsstaaten, die erweitert und künftig fortwährend überprüft werden muss. Die Innenministerkonferenz hat sich daher dafür ausgesprochen, dass Georgien, Armenien, Moldau, Indien und die Maghreb-Staaten seitens des Bundesinnenministeriums als sichere Herkunftsländer eingestuft werden.“ Die aktuellen Beschlüsse gehen sogar noch weiter: Hier soll nun, laut der Pressemitteilung des Berliner Innensenats, das Bundesinnenministerium die Einstufung der neuen „sicheren Herkunftsländer“ vornehmen. Hierfür gibt es keine rechtliche Grundlage und so kann dies nur als Verbreitung politischer Stimmungsmache verstanden werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil von 1996 festgelegt, dass der Gesetzgeber bei der Einstufung eines Landes zum „sicheren Herkunftsstaat“ die Rechtslage, die Rechtsanwendung und die allgemeinen politischen Verhältnisse in diesem Staat untersuchen muss. Die Einstufung als „sichere Herkunftsstaaten“ erfordert, dass in jenem Staat eine gewisse Stabilität und hinreichende Kontinuität der Verhältnisse bereits eingetreten ist und deshalb weder Verfolgungshandlungen noch unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Bestrafung stattfinden. Der Gesetzgeber ist zudem verpflichtet, eine gründliche antizipierte Tatsachen- und Beweiswürdigung der verfügbaren Quellen vorzunehmen, wenn er einen Staat als sicher listen wolle. Das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ ist allerdings bereits im Kern unvereinbar mit dem individuellen Recht auf Asyl. Denn in einem Asylverfahren müssen die Antragsstellenden die eigene individuelle politische Verfolgung darlegen, sollten aber nicht darüber hinaus eine gesetzlich festgeschriebene Vermutung über das Herkunftsland widerlegen müssen. Pro Asyl fordert Bundestag und Bundesrat auf, keine weiteren Herkunftsstaaten als vermeintlich „sicher“ einzustufen und damit tatsächlich gefährdeten Menschen in diesen Staaten das Recht auf Schutz zu verweigern. Insbesondere sollten die gesetzgebenden Organe nicht hinnehmen, dass – wie in der Berliner Pressemitteilung zur Innenminister*innenkonferenz dargestellt – das Bundesinnenministerium über eine solche schwerwiegende Einstufung entscheidet, anstelle wie im Grundgesetz in Art. 16a vorgesehen der Bundestag und Bundesrat.