Politische Berichte Nr.04/2022 (PDF)12b
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„Bürger zweiter Klasse“

Bruno Rocker, Berlin

Im Zuge der Aufarbeitung der Wahlerfolge der AfD in ostdeutschen Kommunen erschien am Samstag, den 8 Juli in der FAZ ein Kommentar von Stefan Locke unter dem Titel: „Bürger zweiter Klasse?“ Darin heißt es u.a.: Bosch etwa zahlt Mitarbeitern 3000 Euro Inflationsausgleich – aber nur im Westen, die 500 Dresdner Beschäftigten gehen leer aus.“ Warum ist so eine Ungleichbehandlung möglich? Wo liegen die Gründe? Dazu einige Anmerkungen.

Der Tarifvertrag der IG Metall für den Tarifbezirk Berlin-Ost, Brandenburg und Sachsen vom Herbst 2022 sieht wie in allen anderen Tarifbezirken auch neben den Tariferhöhungen auch einen Inflationsausgleich in Höhe von 3000 Euro (netto) vor. Das Problem bei Bosch ist die fehlende Tarifbindung. Bosch in Dresden ist, wie viele ostdeutsche Standorte insbesondere in der IT-Branche, nicht tarifgebunden. Die IG Metall hat in Ostdeutschland tatsächlich nur in der Automobilindustrie und bei den entsprechenden Zuliefern die Tarifbindung durchsetzen können. Die Mitgliederzahlen ansonsten sind zu schwach. Die Vorstände renommierter Unternehmen halten zwar gerne „Sonntagsreden“ über den Aufbau „Ost“, nehmen aber Extraprofite aufgrund fehlender Tarifbindung gerne mit. Das betrifft u. a. die Chip-Industrie in Dresden. Es gibt allerdings auch noch andere Gründe für Ungleichheit:

Ostdeutsche Arbeitnehmer sind in ihrer Haltung seit „Treuhand-Zeiten“ nach wie vor skeptisch gegenüber den „westdeutschen“ Gewerkschaften eingestellt, selbst in der Automobilindustrie. So bewegen sich die Mitgliederzahlen bei Tesla in Brandenburg nahe Berlin wohl eher im dreistelligen Bereich, während die Beschäftigtenzahlen im fünfstelligen Bereich liegen. Die Faustformel der Tarif-Experten der IG Metall lautet: Du brauchst 50 Prozent Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb und die Belegschaft wird handlungsfähig. Dann entfällt das kollektive Betteln.

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Tarifbindung erneut rückläufig

Laut Presseinformation des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg haben im vergangenen Jahr nur noch 43 Prozent der westdeutschen und 33 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben mit Branchentarifvertrag gearbeitet. Bundesweit lag der Durchschnitt bei 41 Prozent, das sind fast 20 Prozent weniger als im Jahre 2000. Hinzu kommen zwar noch etwa 10 Prozent aus Betrieben mit Firmentarifvertrag. Das ändert den Trend jedoch nicht, der in der öffentlichen Diskussion sowohl auf den Strukturwandel in der Wirtschaft als auch auf aktive „Tarifflucht“ der Arbeitgeber zurückgeführt wird. Auch die betriebliche Mitbestimmung durch Betriebs- und Personalräte ist in Ost- wie in Westdeutschland seit Jahren tendenziell rückläufig. Gut 40 Prozent aller Beschäftigten arbeiteten in Betrieben, die weder tarifgebunden sind, noch über eine gesetzlich verankerte betriebliche Mitbestimmung verfügen.

Der Instituts-Forscher Christian Hohendanner weist in der gleichen Presseinformation des Instituts darauf hin, dass Betriebe mit Betriebsrat sich im Durchschnitt durch eine höhere Produktivität und weniger Personalfluktuation auszeichnen. Sie böten zudem höhere Löhne sowie mehr Arbeitszeitflexibilität.