Politische Berichte Nr.04/2022 (PDF)18a
Gewerkschaften/Soziale Bewegung

Spanien: 5. Abkommen für Beschäftigung und Kollektivverhandlungen (5. Aenc)

Claus Seitz, San Sebastián. Anfang Mai vereinbarten die Gewerkschaften CCOO und UGT mit den Arbeitgeberverbänden CEOE und CEPYM das 5. Abkommen für Beschäftigung und Kollektivverhandlungen (5. AENC), das eine Erhöhung der Entgelte 2023 um 4 % und 2024 und 2025 um jeweils 3 % vorsieht. Daneben sind weitere Erhöhungen um 1 % pro Jahr vorgesehen, falls die Inflation die vereinbarten Margen überschreiten sollte. Da die Inflation im Juni 2023 aber auf 1,9 % gesunken ist, zeichnet sich eher eine dringend erforderliche Aufholbewegung bei den Reallöhnen ab.

Beim AENC handelt es sich nicht um einen Kollektivtarifvertrag, sondern um „verpflichtende Empfehlungen der Tarifvertragsparteien an alle Firmen und Belegschaften des Landes für die Tarifverhandlungen in den kommenden drei Jahren“.

Laut Comisiones Obreras (CCOO) sind mehr als 4 000 Tarifverträge für über elf Millionen Beschäftigte betroffen, von denen dieses Jahr noch mehr als 1.300 zur Verhandlung anstehen.

Unai Sordo (Generalsekretär der CCOO): „Der AENC ist ein Hebel. Tausende von Tarifkommissionsmitglieder sind aufgerufen, ihn anzuwenden und zum Erfolg zu führen.“ Die UGT erwartet, „dass der Pakt als Impuls für die Kollektivverhandlungen dient und auch zu den Firmen und Sektoren durchdringen wird, wo die gewerkschaftliche Kraft schwächer ist.“

2022 hatte die Inflation von 8,4 % zu Kaufkraftverlusten von über 5 % geführt. Obwohl die Gewerkschaften eine Kampagne „Lohn oder Konflikt“ führten, konnten sie sich mit ihrer Forderung nach Aufnahme einer rückwirkenden Revisionsklausel zur Absicherung der Entgelte gegen die hohe Inflation im neuen AENC nicht durchsetzen. Nur in gut organisierten Sektoren konnten für 2,7 Millionen Beschäftigte zusätzliche Erhöhungen um 5 % durchgesetzt werden.

Um Entgelterhöhungen auch für die schwächsten Sektoren zu erreichen, wurde der 5. AENC schließlich ohne rückwirkende Inflationsklausel abgeschlossen. Die Gewerkschaften kündigten aber an, bei jeder einzelnen Verhandlung den Inflationsausgleich 2022 zum Thema zu machen. Bis dato konnten so im laufenden Jahr für 1,27 Millionen Beschäftigte ein rückwirkender Ausgleich für 2022 erzielt werden.

Neben Entgelten beinhaltet der 5. AENC Vereinbarungen zu vielen weiteren Themen wie Gesundheits- und Unfallprävention, Behinderung, Arbeitszeit (Gleitzeit, Urlaubsplanung, Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf), Homeoffice, Recht auf digitale Nichterreichbarkeit und Intimität (Videoüberwachung, Geolokalisierung), Pläne zur Gleichstellung von Frauen und Männern, Diversität (LGTBI), technologischer Wandel, Klimawandel. Daneben Empfehlungen zur Umsetzung von Normen und Gesetzen in den Betrieben, wie z.B. der Arbeitsreform (Regelung zu Zeitarbeitsverträgen, zu Kurzarbeit), der Rentenreform (flexibler Übergang in die Rente, Teilverrentung).

Am 21. Juni führten die CCOO unter dem Motto „Wir haben den AENC. Jetzt bist Du an der Reihe“ eine Konferenz mit über 1 000 Mitgliedern von Tarifkommissionen aus allen Branchen und Regionen durch. Hier wurden u.a. erfolgreiche betriebliche Beispiele für die Umsetzung des AENV in Tarifverträgen vorgestellt.

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Streiks, Tarifverträge 2023

Das bisherige Highlight war der erfolgreiche Kampf der Gewerkschaften in den großen Modeketten mit um die 80 % weiblicher Beschäftigung, bei Inditex – Zara, Massimo Dutti, Stradivarius – (36 000 Beschäftigte), bei Primark (9 000) und H&M (4 000). Zuerst musste Inditex nach Mobilisierungen und Streiks der Belegschaften erstmals einen Tarifvertrag mit landesweiter Gültigkeit abschließen. Die Jahresentgelte der Verkäuferinnen wurden je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit auf 18- bis 22 000 Euro (nach vier Jahren) und der Verantwortlichen und Kassiererinnen auf 24500 Euro erhöht. Hinzu kommen Kommissionen und Prämien. 2023 und 2024 wird im Februar jeweils ein Inflationszuschlag von 1 000 Euro gezahlt. Daneben gibt es jährlich 450 Euro für Beschäftigte mit Kind, 200 Euro für Schulmaterial und 500 Euro für Kinder, die an der Hochschule studieren, sowie einen monatlichen Kinderkrippenzuschlag in Höhe von 170 Euro je Kind. Alles eingerechnet sollen dadurch die Entgelte je nach Region um 20 bis 40 Prozent, maximal 6 000 Euro steigen. Bei Primark gibt es 18 % mehr in drei Jahren. Bei H&M legten die Beschäftigten während des Schlussverkaufs 110 von 125 Geschäfte an zwei Tagen völlig lahm. Neben Entgelterhöhungen und einem einmaligen Inflationsausgleich von 500 Euro konnten hier vor allem Neueinstellungen gegen die unerträgliche Arbeitsbelastung vereinbart werden. Auch für die 260 000 Beschäftigten der großen Kauf- und Möbelhäuser sowie Technomärkte (Corte Ingles, Carrefour, Ikea, Leroy Merlin, MediaMarkt, Fnac, Eroski, Apple …) wurde ein „historischer“ Tarifvertrag erreicht. Neben 17 % Entgeltsteigerungen für 2023 bis 2026, wurden Erhöhungen des Urlaubsgelds, des Homeoffice-Entgelts, die Reduzierung der verpflichtend zu arbeitenden Samstage und Sonntage und eine Begrenzung der befristeten Beschäftigung auf 10 % vereinbart.

02

Mindestlohn und Tarifverträge: Seit 2019 hat die Linksregierung den Mindestlohn um 46,75 % von 735,90 Euro auf 1.080 Euro monatlich (bei 14 Monatszahlungen 15.120 Euro jährlich) angehoben. Für Tagelöhner sind das 51,15 Euro/Arbeitstag. Wegen der großen Bedeutung des Tourismus und der Landwirtschaft sowie des hohen Anteils kleinerer und mittlerer Firmen liegt das Niveau vieler Tarifverträge gerade mal auf dem Niveau des Mindestlohns. Als 2020 der Mindestlohn auf 1 000 Euro erhöht wurde, mussten über 40 große Tarifverträge für 2,5 Millionen Beschäftigte ihre Basislöhne auf den Mindestlohn anheben, einige davon um über 30 %. Von der Anhebung des Mindestlohns 2023 profitieren 2,272 Millionen Personen. 57% davon sind Frauen, 31,7 % Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahre. Für 46,9 % der in der Landwirtschaft Beschäftigten müssen die Löhne erhöht werden.

03

„Kaskadenförmige Kollektivverhandlungen“: Als „kaskadenförmig“ charakterisiert F. Luján (UGT) das System der spanischen Tarifverhandlungen. „Unser Konzept ist: Zuerst der Mindestlohn für das ganze Land, danach der AENC, danach ein Branchen-Tarifvertrag auf staatlicher Ebene, danach einer auf Provinz-Ebene und schließlich einer auf Firmen-Ebene. Je ortsnäher, umso besser ist es für den Arbeiter.“ Maria Cruz Vicente von den CCOO glaubt, dass „allgemein die Provinz-Tarifverträge besser sind als die staatlichen. Die Provinz-Verträge passen sich besser an die Gegebenheiten vor Ort an.“ Unai Sordo, Generalsekretär der CCOO: „Unser Modell der Kollektivverhandlungen ist stark verwurzelt auf dezentraler Ebene. Das stärkt die Beteiligung der betroffenen Personen. So können wir gute Tarifverträge erreichen, die die Lebensqualität der Menschen verbessern.“