Politische Berichte Nr.04/2022 (PDF)19
Gewerkschaften/Soziale Bewegung

Tarifbericht des WSI und Inflationsentwicklung

Bruno Rocker, Berlin. Dem neuen Europäischen Tarifbericht 2022/2023 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) zufolge haben die Beschäftigten in der EU 2022 höhere Reallohnsenkungen hinnehmen müssen als zunächst angenommen. Danach sind im vergangenen Jahr in der Spitze in Griechenland und Tschechien die Reallöhne um über acht, in Estland sogar um mehr als neun Prozent eingebrochen. In der Bundesrepublik entsprach der Rückgang mit 4,1 Prozent in etwa dem EU-Durchschnitt.

Die hohen Inflationsraten, getrieben durch höhere Importpreise für fossile Energien, gefolgt von den steigenden Nahrungsmittelpreisen und schließlich außerordentlich steigenden Unternehmensgewinnen, sind dafür verantwortlich. Ganz offensichtlich haben dem Bericht nach etliche Unternehmen mit Verweis auf gestiegene Kosten ihre Preise überproportional angehoben und dadurch zusätzlich Inflationsdynamiken ausgelöst. Die Unternehmensgewinne steigen also wie bereits 2021 ungewöhnlich stark und tragen damit zusätzlich zur Inflation bei. Die Gesamtentwicklung zeigt entsprechend einen zurückgehenden Anteil der Löhne am Volkseinkommen. Die Lohnquote sinkt. Von dem oftmals behaupteten Impuls der Tarifpolitik auf die Inflationsentwicklung (Lohn-Preis-Spirale) kann also keinesfalls die Rede sein. Im Gegenteil: Die Tariflohnsteigerungen in 2022 lagen in allen vom WSI betrachteten Ländern unterhalb der Inflationsrate. Vorstandsmitglieder großer Industriegewerkschaften räumen ein, dass die fatalen Wirkungen der hohen Inflation auf den Lebensstandard der Beschäftigten nicht allein durch Tarifpolitik aufzuhalten seien. Auch für 2023 rechnet die EU-Kommission mit einer Fortsetzung dieser Entwicklung, also weitere Reallohnverluste. Für die Bundesrepublik wird mit einem Minus von um die 1,3 Prozent gerechnet. Der Tarifbericht des WSI weist auch auf die Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung hin, die ebenfalls zeigen, dass die Lohnentwicklung keinesfalls als Ursache des Preisauftriebs in Frage kommt. Stattdessen tragen die Gewinnsteigerungen den Zahlen nach erheblich zur Binneninflation bei. Dem WSI-Bericht zufolge sind inzwischen die realen Tarifsteigerungen in allen untersuchten Ländern der EU seit 2015 durch die jüngsten Reallohnverluste vollständig aufgezehrt. Es hat eine Umverteilung zulasten der Löhne und zugunsten der Kapitaleinkommen stattgefunden.

Die Inflation trifft nicht alle gleichermaßen

Die zwar tendenziell leicht zurückgehende Inflationsrate in der Bundesrepublik lag zuletzt im Juni dieses Jahres immer noch bei 6,4 Prozent. Die Energie ist zwar derzeit nicht mehr in erster Linie ein Treiber, dennoch steigt der Preis insgesamt gegenüber 2022 weiterhin. Beim Erdgas z.B. ist oftmals trotz sinkender Weltmarkpreise in den Haushalten keine Entspannung spürbar, weil die Versorger gesunkene Großhandelspreise, zumindest gegenüber den Bestandskunden, nur sehr verzögert weitergeben.

Wichtigster Treiber der Inflation auf Jahressicht sind inzwischen jedoch die Nahrungsmittel mit einem Preisanstieg von nahezu 14 Prozent. Laut Berichten u.a. in der FAZ stellte das Statistische Bundesamt dabei extreme Beispiele fest: Quark (plus 42 %), Tomatenketchup (plus 40 %), Pizza (plus 25 %), Orangensaft (plus 25 %) aber auch Milch (plus 17 %) oder Brot (plus 14 %), alles gegenüber dem Vorjahr.

Bekanntermaßen wirkt die Inflation besonders fatal auf die Lebenshaltung der einkommensschwachen Haushalte, weil diese einen relativ hohen Anteil ihres knappen Budgets für Nahrungsmittel und Energie ausgeben müssen. In anderen Ländern gibt es durchaus Gegenmaßnahmen zur Verbesserung der Lage in den einkommensschwachen Haushalten. In Spanien z.B. wird seit Januar dieses Jahres auf die wichtigsten Grundnahrungsmittel keine Mehrwertsteuer mehr erhoben. Eine Debatte darüber hat sich auch in der Bundesrepublik entwickelt. Der bayerische Ministerpräsident hat prompt für seinen Wahlkampf für die CSU die Forderung nach Befreiung der Grundnahrungsmittel von der Mehrwertsteuer ebenso aufgenommen wie die Forderung nach Fortsetzung der Mehrwertsteuersenkung in der Gastronomie über 2023 hinaus. Im Oktober dieses Jahres finden in Bayern Landtagswahlen statt.

Thilo Janssen, Malte Lübker: Europäischer Tarifbericht des WSI 2022/2023 auch Abb., FAZ, 12./15.7. 2023

Abb. (PDF): Entwicklung in ausgewählten EU-Staaten