Politische Berichte Nr.04/2022 (PDF)22
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Neue Studie: Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie in den östlichen Bundesländern

Rosemarie Steffens, Langen Vor dem Hintergrund der Landratswahl in Sonneberg, bei der ein AfD-Kandidat erstmals Landrat wurde, warnte der Verfassungsschutz-Präsident von Thüringen, Kramer, davor, AfD-Wähler als Rechtsextreme zu bezeichnen: „Ich wäre sehr vorsichtig damit, das Gros der AfD-Wählerinnen und -Wähler pauschal in irgendeine extremistische Ecke zu schieben.“ Viele Wähler würden sich aus Wut, Frust und Protest für die AfD entscheiden.1 – Die am 27.06.23 an der Universität Leipzig erschienene Studie des Else Frankel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung in Sachsen legt einen anderen Schluss nahe: rechtsextreme Einstellungen sind in den östlichen Bundesländern weit verbreitet, unter AfD-Anhängern finden sich die meisten Menschen mit rechtsextremen Einstellungen.

Wie kam es zu der Studie?

Aufgrund der Wahlerfolge der NPD und DVU vor allem in Ostdeutschland in den 1990 Jahren wurden von W. Heitmeyer 2002 bis 2012 die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und – unabhängig davon – ab 2002 bis heute die Verbreitung der rechtsextremen Einstellung und autoritäre Dynamiken in der Bundesrepublik untersucht (Leipziger Autoritarismus Studien, auch als „Mitte“-Studien bekannt). Anfangs waren antidemokratische Einstellungen nicht generell stärker in Ost- als in Westdeutschland ausgeprägt, aber es gab zwischen Ost und West von Beginn an unterschiedliche Abwertungsbereitschaften und später deutliche politisch-kulturelle Unterschiede. Während im Westen die Zustimmung zu extrem rechten Aussagen stetig abnahm, nahmen sie im Osten zu. (Anstieg des Antisemitismus bis 2012, zehn Jahre zuvor war er viel seltener in Ost- als in Westdeutschland). Angesichts der Verbreitung extrem-rechter Einstellung und autoritärer Reaktion in Ostdeutschland sollen nun die spezifischen Ursachen in diesen Bundesländern erforscht werden.

Neue Forschungsansätze für Erklärungen

Um Ansatzpunkte für Erklärungen von extrem rechten Weltbildern zu erhalten, wurden auch die (Un-)Zufriedenheit mit der Demokratie und die Anerkennungserfahrung als Bürger, die politische Deprivation sowie die subjektive Einschätzung der nationalen und der eigenen wirtschaftlichen Lage erfragt. Neue Forschungsansätze sind in dieser Studie zu Aussagen über die Gruppenidentifikation und die Einschätzung der DDR durch Zusammenarbeit mit dem Forschungsverbünden „DDR-Vergangenheit und psychische Gesundheit“ (Mainz) und „Seelenarbeit im Sozialismus“ (Jena) möglich geworden.

In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und dem Gebiet des ehemaligen Ost-Berlins wurden für die Studie bei 3546 Menschen 18 Punkte abgefragt, die für ein rechtsextremes Weltbild stehen. Fünf Antwortmöglichkeiten von „stimme voll und ganz zu“ bis „lehne völlig ab“ waren möglich.

Gefragt wurde nach der Befürwortung einer Diktatur, autoritärer Aggression, autoritärer Unterwürfigkeit, Konventionalismus und Verschwörungsmentalität, Antisemitismus, NS-Verharmlosung und Sozialdarwinismus (zusammengefasst als Neo-NS-Ideologie) sowie „Ausländerfeindlichkeit“ und Chauvinismus, mehrere Formen von Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit.

Hohe Zahl von extrem rechten Einstellungen

Das Ergebnis: die Zustimmung zu extrem rechten Aussagen ist hoch. Die Forderung nach einer starken Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert, finden 26,3 % der Befragten voll und ganz richtig, 24,9 % latent Befürwortende können noch hinzugezählt werden. 20 % stimmen der NS-Verharmlosung (der Nationalsozialismus habe auch seine guten Seiten …) zu. Ein Drittel unterstützt die sozialdarwinistische Idee des Vorrechts des Stärkeren. 10 % teilen antisemitische Aussagen (die latente Zustimmung ist deutlich größer). Sehr hoch sind der Wunsch nach einem starken Nationalgefühl (60%) und die Zustimmung zu „ausländerfeindlichen“ Aussagen (über 50%). 7 % der Befragten haben ein geschlossen rechtsextremes Weltbild2, „ein sehr hoher Prozentsatz, mit dem eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Demokratie verbunden ist“, heißt es in der Studie. Nicht alle davon gehen wählen – sodass die AfD und andere rechte Parteien noch ein Reservoir haben und ihre Erfolge steigern könnten.

Mit einem höheren Bildungsgrad geht eine geringere Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen einher, es gibt kaum Unterschiede zwischen Männern und Frauen, Ethnozentrismus ist bei Älteren (ab 60) stärker, Neo-NS-Ideologie eher bei der mittleren Altersgruppe verbreitet.

Die politische Einstellung ist seit dreißig Jahren trotz leichter Schwankungen relativ stabil, stellen die Autoren fest. Der Wert liegt etwas unter vergleichbaren Studien für die Jahre 2002 bis 2010 (8,0 Prozent) und die Jahre 2012 bis 2020 (9,7 Prozent). Die Bundesländer mit den höchsten rechtsextremen Werten sind Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Die bevölkerungsrepräsentative Erhebung ließ erstmals Vergleiche zwischen den östlichen Bundesländern zu.

Unzufriedenheit mit der Umsetzung der Demokratie im Alltag

Trotz hoher rechter Umfragewerte ist die Unterstützung für die Idee der Demokratie und die verfassungsmäßige Ordnung hoch. Aber es herrscht große Unzufriedenheit mit der Demokratie im Alltag. 77,4 Prozent der Befragten sagen: „Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut.“ Und 64,6 Prozent stimmen der Aussage zu: „Ich halte es für sinnlos, mich politisch zu engagieren.“

Eigene Erfahrungen mit der DDR und dem Vereinigungsprozess – bislang eine Forschungslücke

Neben der Erhebung der Erfahrungen mit der DDR fehle auch eine vertiefende Analyse der „besonderen Herausforderungen, die sich für die politische Kultur aus dem Transformationsprozess in Ostdeutschland“ ergeben. Brähler und Decker wiesen bei der Präsentation der Studie am 28.6.23 darauf hin, dass dieser Demokratie-Verdruss nicht aus dem Nichts komme.3

Bei der Vereinigung sei eben keine neue Verfassung erarbeitet worden, aus dem Osten praktisch nichts übernommen worden. Menschen im Osten hätten tatsächlich weniger demokratische Teilhabe, zum Beispiel im Betrieb. Mangels Tarifbindung fehle oft die Erfahrung, eigene Interessen auch durchsetzen zu können. „Das strahlt nach außen ab“. Diesem Thema widmet die Studie ein eigenes Kapitel „Zur Rolle von Gruppen-Identität, DDR-Erleben und Erfahrung gegenwärtiger Staatlichkeit für die rechtsextreme Einstellung“. Hier fließen erste Auswertungen der Fragebögen zum Erleben der DDR und der Wendeerfahrung ein. Mehr als zwei Drittel sind froh, dass sie die DDR noch erlebt haben, rückblickend ist die Zufriedenheit mit dem Leben in der DDR hoch. Ein Viertel der Ostdeutschen erlebt sich als Verlierer der Wende, weniger als die Hälfte als Gewinner. Die Befragten fühlen sich weniger als Bundesdeutsche, eher noch als Europäer und auf jeden Fall als „Ostdeutsche“.

Was noch ungeklärt und Gegenstand weiterer Veröffentlichung sein soll, ist die Frage, welchen Stellenwert eine ostdeutsche oder DDR-Identität beim Zustandekommen der politischen Einstellung hat.

Die wirtschaftliche Lage Deutschlands wird schlecht bewertet – die eigene eher gut

Vor dem Hintergrund, sich als Verlierer zu sehen, bewertet ein knappes Drittel aller Befragten die wirtschaftliche Lage Deutschlands ebenfalls als schlecht.

Allerdings fällt die Beschreibung der eigenen finanziellen Lage überraschenderweise eher gut aus: Obwohl über 60 % der Befragten angaben, dass sie weniger als 2000 Euro, 12 % mit weniger als 1000 Euro auskommen müssen, wird die eigene wirtschaftliche Situation von ca. 80 % der Befragten als gut oder teils/teils bewertet.

Gründe, sich als Verlierer zu fühlen

Die eigene finanzielle Lage ist also nicht allein ausschlaggebend dafür, sich als Verlierer zu fühlen. Sozialpolitik allein wäre hierzu nicht das passende Rezept. Der Fragebogen über die Anerkennung im eigenen Lebensumfeld und in der Arbeitswelt und über die Wahrnehmung der eigenen Rechte im Verhältnis zu staatlichen Institutionen gibt darüber weiteren Aufschluss. Es fällt auf, dass in den Bundesländern mit den höchsten Zustimmungswerten zu antidemokratischen Ressentiments in der Tendenz auch die Erfahrung verweigerter Anerkennung häufiger genannt wird. Z.B. auf die Fragen: im Umgang mit Behörden und Ämtern fühle ich mich oft ausgeliefert. Manchmal fühle ich mich als Mensch zweiter Klasse.

Die (scheinbare) Sicherheit einer autoritären Staatlichkeit ist von vielen erwünscht

Einen hohen Stellenwert beim Zustandekommen extrem rechter Einstellungen besitzt nach den Auswertungsergebnissen das „individuelle“ Bedürfnis nach Autorität (selbst wiederum Folge gesellschaftlicher Bedingungen). Einen großen Einfluss hat demnach die Einschätzung der nationalen wirtschaftlichen Lage, die Identifikation mit der „starken deutschen Wirtschaft“. Die Studie verweist darauf, dass auch bei der Vereinigung der beiden Staaten an diesen autoritären Stellenwert der starken Ökonomie (als „Heils“versprechung, rst) angeknüpft worden sei. Der Wunsch nach einer wirtschaftlich starken Nation – politisch und wirtschaftlich – ist groß. Die erwünschte Identifikation mit dieser Macht stelle inhaltlich die Verbindung zu den zentralen Dimensionen Chauvinismus und Ethnozentrismus her.

Eine wichtige Rolle spielen dabei Verschwörungsideologien, also das Gefühl, dass dunkle Mächte unerkannt regieren und Politikerinnen und Politiker nur Marionetten seien. Die Antwort darauf sei in dieser überfordernden Krisensituation und dem dauernden Wandel der Wunsch nach einer einfacheren Zeit und jemandem, der alles regelt.

Das Thüringen-Forschungsprojekt des Verfassungsblogs4

Im Herbst 2024 wird in Sachsen, Brandenburg und Thüringen ein neuer Landtag gewählt. Der „Verfassungsblog gGmbH“, ein gemeinnütziges, wissenschaftliches Forum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen im Verfassungsrecht, kündigt das „Thüringen-Projekt“ an. „Besonders in Thüringen wirft die Situation angesichts der fragilen Parteienlandschaft und der Vorgänge bei der letzten Regierungsbildung besonders dringende und bislang weitgehend unerforschte rechts- und politikwissenschaftliche Fragen auf“, auf die in den Monaten bis zur Landtagswahl Antworten gefunden werden sollen. Was passiert, wenn autoritär-populistische Parteien auf Landesebene staatliche Mittel in die Hand bekommen? Wie könnten sie ihre Macht über Gesetzgebung, Justiz, Sicherheitsapparat, Verwaltung, Kulturförderung, Schulen, Universitäten, Medien und Rundfunk u.v.m. dazu verwenden, um sich gegen politische und juristische Rechenschaftsforderungen zu immunisieren und die Möglichkeit ihres Abgewähltwerdens unwahrscheinlicher zu machen? Welche Interferenzen würden sich auf Bundesebene in Hinblick auf Bundesrat, Bund-Länder-Konferenzen, Auftragsverwaltung ergeben, welche Verwundbarkeiten und Schwachstellen in Staatsaufbau und Verfassungsrecht zeigen sich im Licht einer solchen Szenarioanalyse? Wie wehrhaft ist unsere Demokratie? – Die Öffentlichkeit und die Funktionsträger*innen vor Ort sollen über Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten aufgeklärt und ein entsprechendes Problembewusstsein geschaffen werden. „Damit wollen wir der Gefahr einer naiven und überrumpelten Öffentlichkeit vorbeugen, die nicht oder zu spät zur Gegenwehr in der Lage wäre, und so die Resilienz der demokratischen föderalen Verfassungsordnung insgesamt zu stärken. Im Anschluss an das Projekt lässt sich ermitteln, inwieweit die aufgedeckten Schwachstellen durch Gesetzgebung behoben und so die Resilienz der Verfassungsordnung noch weiter gesteigert werden können.“ – Unter betterplace.org/p122637 wird für dieses Projekt zu Spenden aufgerufen.

1 (MDR, 20.6.23); 2 Als „geschlossen“ wird ein Weltbild bezeichnet, wenn die Antwort lautet: Stimme voll und ganz zu oder stimme überwiegend zu. 3 Kölnische Rundschau 28.6.23; 4 https://verfassungsblog.de, verantwortlich: Maximilian Steinbeis

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Studie „Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie in den östlichen Bundesländern des Else Frankel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung in Sachsen, Universität Leipzig – „Policy-Paper 2023-2“ herausgegeben von Oliver Decker, Johannes Kiess und Oliver Brähler. Wir danken für die Abdruckerlaubnis der Schaubilder. https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/Sonstiges/Policy_Paper_2023-2.pdf (44 Seiten A4, viele Grafiken und Tabellen).

Abb. (PDF): studie s.6: manifeste und latente zustimmung zu den aussagen der dimensionen „befürwortung einer rechtsautoritären diktatur“ (neo-ns-ideologie; in %),

Abb. (PDF): Studie S. 20: ANTEIL DER MENSCHEN MIT MANIFEST-RECHTSEXTREMEN EINSTELLUNGEN 3E DIMENSION UNTER DEM PARTEIWÄHLERN (IN*)