Politische Berichte Nr.04/2022 (PDF)24
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Bilder und Folgen von Traumatisierung sowie arbeitsbedingter schwerer Depression – Eine Gedankenskizze zu Kunst und arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen

Rudi Arendt, 1/2023, zuletzt geändert 6/2023

Der Künstler als Seismograf: Karl Hofers Selbstbildnis mit Dämonen

„Nur merklich aus dem Zentrum gerückt, hat sich der Maler in wenig selbstbewusster Haltung ins Bild gesetzt. Die Arme abwehrend vor dem Leib erhoben, steht Karl Hofer eingekreist von sich herandrängenden Fratzen und verzerrten Gesichtern. Unheimlich sind nicht nur die übergroßen Erscheinungen, die bizarren Physiognomien der Dämonen und ihre leeren, toten kalten, aber doch feuerglühenden Augenhöhlen, sondern vielmehr auch ihre Ortlosigkeit, ihre Unbestimmbarkeit im Raum. So drängen sie aus einem nicht weiter einsehbaren Hintergrund, staffeln sich über-, hinter- und nebeneinander, verwachsen mit- oder schwimmen ineinander. In der Mitte Hofer, als Maler nur durch seinen hellen Kittel charakterisiert; erscheint sich, die Finger der linken Hand gespreizt, gegen ein Ergriffenwerden zu wehren …“

So beginnt eine von vielen verschriftlichten Bildinterpretationen Karl Hofers im Jahre 1928 geschaffene Verarbeitung traumatisierender Erlebnisse des ersten Weltkrieges durch das „Selbstbildnis mit Dämonen“.1

Das Erlebnis des Weltkrieges – der Rückfall der auf ihren zivilisatorischen Fortschritt so stolzen „modernen“ Kultur in hemmungslose Barbarei – prägte, wie durchgängig die Kunst der zwanziger Jahre mit ihrer desillusionierten Sichtweise, auch seine Malerei.2 Hofer selber schreibt später einmal Anfang 1944 in einem Briefwechsel an Leopold Ziegler:

„Nun sind wir auf der schiefen Ebene und in sausender Fahrt fahren die dazu Auserwählten, zu denen ich gehöre, in die Welt der Schatten. Schon habe ich jeden Zusammenhang mit dieser Welt verloren, feindselig tritt sie mir in allen Äußerungen gegenüber. Die meisten Menschen haben schlimme Träume, aus denen sie zu erwachen froh sind. Ich hingegen lebe nur in meinen Erinnerungen und in meinen Träumen, die häufig und meist schön sind, in denen all das, was uns diese grausige Welt nun versagt, und der böse Traum beginnt, wenn ich erwache.“3

Im Faschismus wurde Hofer wegen seiner expressionistischen Malweise als „entarteter Künstler“ diffamiert.

Francisco Goya: Schlaf oder Traum?

„Eulen, Fledermäuse, eine schwarze Katze und ein Luchs – die Tiere der Nacht umringen einen Mann, der sein Haupt auf seine Unterarme gebettet hat. Keine andere der zahlreichen Grafiken Goyas hat eine solche Popularität erreicht wie dieses Blatt. Entsprechend vielfältig sind die Versuche seiner Interpretation.“

Nun könne man annehmen, der Künstler habe für Klarheit gesorgt, indem er den Titel in das Bild selbst mit hineingenommen hat: „El sueno de la razon produce monstruos“. Wer nun „sueno de la razon“ mit „Schlaf der Vernunft“ übersetze, könne zu der Auffassung gelangen, dass der schlafende Künstler aller rationalen Kontrolle verlustig gegangen sei und infolgedessen von den Monstern seiner Fantasien heimgesucht wird. In zeitgemäßer neurophysiologischer Formulierung könnte man sagen, dass die Herabstufung der rationalen, differenzierenden und planenden Leistungen der Großhirnrinde die affektgesättigten Inhalte des limbischen Systems voll zur Geltung kommen lasse.

„Aber trifft diese Deutung wirklich zu?“ Zweifel seien angebracht. Dem spanischen „sueno“ komme nämlich auch die Bedeutung „Traum“ zu. Als „Wachtraum“ gehöre er zu den mehr oder weniger bewusst eingesetzten Techniken kreativen Arbeitens. Indem die rationale Kontrolle durch eine „Regression im Dienste des Ich“, wie Ernst Kris es nannte, geschwächt werde, finde der Künstler Zugang zu den zunächst verborgenen, oft unbewussten Themen und gewinne so auch die Möglichkeit zu ungewöhnlichen, überraschenden neuen Verknüpfungen.

So gesehen enthielte die Radierung also keine Warnung vor einer Schwächung der Vernunft, sondern eine Anregung, mit deren Hilfe kreative Menschen wachträumend hinter kulturelle, gesellschaftliche wie auch individuelle Fassaden zu blicken imstande seien. Beide Sichtweisen könnten sich ergänzen: „Was durch den „Schlaf der Vernunft“ an Monstern entsteht – und nur zu gern versteckt und verdrängt wird –, lässt sich wachträumend wiedergewinnen und einer rationalen Kontrolle zuführen.“

(Zitate in diesem Abschnitt: Hartmut Kraft im Deutschen Ärzteblatt)4

Traumatisierungen und Depressions-erkrankungen in der Arbeitswelt – Anerkennung von Berufskrankheiten

Ob Karl Hofer bei seinem Selbstbildnis Anleihen bei Goyas Traumbild genommen hat, ist nicht belegt. Dennoch lassen sich mit der Interpretation durch Hartmut Kraft in der Verbindung mit den oben angeführten Selbstbildnissen rationale kreative Gedanken in Beziehung zu arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen setzen. Traumatisierungen gibt es ja in der Arbeitswelt. So können wir die o.g. Kunstschaffenden auch als Arbeitende (Mobbing als alltäglichem Kleinkrieg und Ausdruck von Arbeitsverdichtung) sowie im Krieg als an der Front in Uniform den gesundheitlichen Schädigungen durch das traumatische Erlebte ausgesetzte Individuen sehen.

Dr. Wolfgang Hien kommt in seinem Gutachten zu dem Suizid eines langjährigen beschäftigten Krankenpflegers bei Asklepios Hamburg Sankt Georg7 zu folgenden Erkenntnissen:

„Einmalige extreme Angst- und Schockzustände können schwere psychische Erkrankungen auslösen. Soldaten und Soldatinnen, die bei ihren kriegerischen Einsätzen in Lebensgefahr geraten, erleiden häufig posttraumatische Belastungsstörungen. Bus- und Bahnfahrer/innen erleben ebenfalls gravierende psychische Erschütterungen, wenn sie in einen tödlichen Unfall verwickelt werden. Aber auch chronische Belastungen wie Schichtdienst und dauerhafte psychosoziale Belastungen, denen Lehrer/innen, Erzieher/innen und Pflegekräfte ausgesetzt sind, können die seelische Gesundheit erheblich beeinträchtigen“.5

Zwar wiesen Sozialgerichte nach wie vor Klagen wegen arbeitsbedingter psychischer Störungen ab, doch deutete das Bundessozialgericht (BSG) an, sich grundsätzlicher mit diesem Thema befassen zu wollen. Es sei zu prüfen, ob einem Rettungssanitäter, der wiederholt grausigen Einsätzen ausgesetzt war und an einem PTBS (posttraumatischen Belastungsstörung) leidet, die Anerkennung als Berufskrankheit (BK) zu verweigern, noch rechtens ist (BSG 2021). Das BSG habe eine Sachverständigengruppe beauftragt, ein Gutachten zu erstellen, in dem nicht nur PTBS, sondern auch andere psychische Erkrankungen und insbesondere Depression daraufhin überprüft werden sollen, ob beim Beweis einer gegenüber anderer Faktoren überwiegenden arbeitsbedingten Verursachung oder Verschlimmerung eine BK-Anerkennung angezeigt ist.7

Und zur Frage der mit Depression oft verbundenen Selbsttötung:

„In der deutschsprachigen epidemiologischen Literatur ist der arbeitsbedingte Suizid ein seltenes Thema. In ihrem Review gehen Lukaschek et al. (2016) auf verschiedene Berufsgruppen und arbeitsbezogene Faktoren ein. Medizinische Berufe und Pflegepersonal weisen in mehreren internationalen Studien mit RR (relatives Risiko) = 1,3 bis 3,4 im Vergleich mit allen Berufsgruppen die höchsten Risikoraten auf. Als Faktoren benennen die Autoren und Autorinnen hohe Arbeitsbelastung, Erschöpfung aufgrund ständiger Überstunden, Schlafmangel und soziale Isolation, die wiederum durch überbordende Arbeitszeiten bedingt sein kann. In Japan, aber auch in Frankreich und den USA werde bereits seit den 1990er Jahren der arbeitsbedingte Suizid als gesellschaftliches Problem wahrgenommen und diskutiert. Mit dem Begriff ‚Karoshi‘ bekam der Tod durch Überlastung am Arbeitsplatz einen eigenständigen Namen. Arbeitende, deren Ressourcen vollkommen erschöpft sind, sterben entweder durch Herzinfarkt oder durch Selbsttötung, wobei der arbeitsbedingte Suizid auch mit dem Begriff ,Karojisatsu‘ bezeichnet wird.

In Japan ist der arbeits- und berufsbedingte Tod eine meldepflichtige und entschädigungsfähige Angelegenheit, d.h. Hinterbliebene erhalten eine entsprechende Sonderrente. Jährlich werden einige Hundert Fälle gemeldet und davon etwa die Hälfte entschädigt. Doch Schutzvereinigungen und Selbsthilfegruppen vermuten hinter den offiziellen Zahlen eine sehr hohe Dunkelziffer und sprechen von Zehntausenden Opfern.

In Deutschland gibt es zum Phänomen des arbeits- und berufsbedingten plötzlichen Todes weder Zahlen noch eine öffentliche Diskussion. ‚Der Arbeitspsychologe und Psychiater Christophe Dejours diskutiert die arbeitsbedingten Suizide als radikale Artikulation neuer Formen des Leidens am Arbeitsplatz: Im gegenwärtigen Kontext neuer Formen der Arbeitsorganisation, z.B. Zielvereinbarungen, Quality Management, Evaluierung von Leistung, steht als zentraler Überlastungsfaktor die Isolation von Kollegen im Vordergrund, weil mögliche Freiräume zur Kompensation von Rückständen verbraucht werden. Die Beschäftigten sind somit auf eine permanente Mobilisierung ihrer individuellen psychischen und intellektuellen Ressourcen angewiesen, die nach Dejours weit in die Sphären privater Beziehungen hineinreichen. Viele Beschäftigte haben daher auch erhebliche Schwierigkeiten, sich nach der Arbeit zu regenerieren. Wenn der Arbeitnehmer schließlich an die Grenzen der Belastbarkeit gerät, ist das Suizidrisiko besonders hoch’ “.8

Auf der rehabilitationspolitischen und sozialrechtlichen Ebene müsse, so Wolfgang Hien, ein breiter Diskurs über die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der Einbeziehung psychischer Erkrankungen in die Berufskrankheitenliste angestoßen werden. Die extremen Belastungen der Pflegekräfte gehörten aus arbeitswissenschaftlicher Sicht eindeutig zu den Krankheiten, die – wie es im SGB VII heißt „nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind“.

Daher sei es an der Zeit, so der Arbeitswissenschaftler, die BK „Durch langjährige extreme Belastungen oder traumatische Erfahrungen bei der Arbeit erzeugte oder verschlimmerte Depressionserkrankung“ in die Liste der Berufskrankheiten aufzunehmen. Im Fall von Herrn Arendt muss der Suizidtod als Folge einer arbeitsbedingten Depression verstanden werden, die – einen entsprechend erweiterten sozialrechtlichen Kontext vorausgesetzt – mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Kriterien einer Berufskrankheit bzw. einer „Wie-BK“ erfüllen würde.9

Die bildliche Darstellung, um damit der „Gefahr ins Auge zu blicken“, ist eine konstruktive und verständigungsorientierte Form der Kommunikation (Habermas) gegenüber der erfolgsorientierten kommunikativen Handlungsweise, die nur den persönlichen Erfolg zum Zweck erhebt.

Weg zur Anerkennung von Traumata und schwerer arbeitsbedingter Depression als Berufserkrankung – Erste Kontakte und Anfragen bei möglichen Interessierten, relevanten Berufsverbänden, politischen und wissenschaftlichen Akteuren, haben einen Forderungskatalog ergeben:

• Der Sacherständigenrat, der das Arbeitsministerium in Fragen der Erweiterung der Berufskrankheitenliste berät, muss durch Psychotherapeuten ergänzt werden (Forderung der BPtK)

• Der EU-Parlamentsbericht von 2021 beinhaltet eine Aufforderung zur Aufnahme psychosozial bedingter Erkrankungen in die BK-Liste, eine Diskussion auf nationaler Ebene muss erst noch angestoßen werden

• Weitere belastbare Gutachten zur genannten Problematik müssen erstellt und verstärkt in Auftrag gegeben werden

• Mobbing als Folge von Arbeitsverdichtung und Isolation, ist rechtzeitig von den betrieblichen Akteuren des Arbeitsschutzes zu erkennen und zu bekämpfen

• Die Messverfahren zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen sind auf ihre Tauglichkeit kritisch zu prüfen, Mitarbeiterbefragungen müssen in einem angstfreien Raum efolgen

• Für eine Petition zur Erweiterung der BK-Liste an den in Frage kommenden Bundestagsausschuss ist ein Hearing zu veranstalten

• Der Entwurf einer Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit des Bundesrates gehört erneut auf die Agenda

Abb. (PDF): Karl Hofers Selbstbildnis mit Dämonen

Abb. (PDF): Francisco Goya: Schlaf oder Traum?

Abb. (PDF): Wachtraum: Spurensuche am Bahnübergang Neuendeicher Weg6

Abb. (PDF): HRW, „Vom Krieg gezeichnet“11 Taha, 13 oder 14 Jahre: Am Nachmittag kamen wir von der Schule zurück und sahen die Flugzeuge. Wir schauten alle zu und dachten nicht im Traum daran, dass wir bombardiert werden könnten. Doch plötzlich begannen sie, Bomben abzuwerfen. Die erste Bombe landete in unserem Garten, dann vier auf einmal, ebenfalls im Garten. Die Bomben töteten sechs Menschen, darunter einen kleinen Jungen, einen Jungen, der von seiner Mutter getragen wurde, und ein Mädchen. An einer anderen Stelle im Garten befand sich eine Frau, die ihr Baby trug. Sie wurde getötet, das Baby überlebte aber. Jetzt sind die Nächte schwierig, weil ich Angst habe. Wir wurden obdachlos. Ich kann die schlimmen Bilder der brennenden Häuser nicht vergessen und wie wir nachts fliehen mussten, weil unser Dorf niedergebrannt wurde10

1 Aus: „Das kommende Unheil“, Susanne Köller in: das verfemte Meisterwerk, Akadmieverlag 2009, Bildzitat: www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Karl-Hofer/Selbstbildnis-mit-D%C3%A4monen/BE02D6A2F486459F89568E9FFA48C771/ © VG Bild-Kunst 2 journals.ub.uni‐heidelberg.de/index.php/ma/article/view/22672/16433 3 Leopold Ziegler – Karl Hofer Briefwechsel 1897–1954, Andreas Hünecke S. 138 4 Hartmut Kraft in PP 4, Ausgabe August 2005, Seite 384 www.aerzteblatt.de/archiv/48123/Schlaf-oder-Traum, Bildzitat (cc) de.wikipedia.org/wiki/Der_Schlaf_der_Vernunft_gebiert_Ungeheuer 5 Siehe auch PM der BPtK: www.bptk.de/psychische-belastungen-am-arbeitsplatz-gefaehrden-gesundheit/ 6 Rudi Arendt, Aquarell Juni 2023, Malnotiz: Steine wie Fußspuren. Seine Entscheidung, der Weg in die vermutete Lichtquelle bleibt mir nur zu respektieren 7 „Ein tragischer Tod, der Fragen aufwirft“; Arbeits- und gesundheitswissenschaftliches Gutachten zur Gefährdung der psychischen Gesundheit des Pflegepersonals im Krankenhaus unter besonderer Berücksichtigung des Suizids von Andreas Arendt, ehem. Krankenpfleger der Asklepios Klinik St. Georg, Hamburg, Dr. Wolfgang Hien, Forschungsbüro für Arbeit, Gesundheit und Biographie, 12/2022, Bremen 8 ebenda 9 Dr. Wolfang Hien, Gutachten „Ein tragischer Tod, der Fragen aufwirft“, Bremen 12/2022, Seite 16 10 Bild und Text: HUMAN RIGHT WATCH, www.hrw.org/legacy/photos/2005/darfur/drawings/de/index.htm