Politische Berichte Nr.05/2023 (PDF)05
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Spanien vor der Bildung einer „progressiv-plurinationalistischen“ Regierung

Claus Seitz, San Sebastián

Bereits bei der der Wahl der neuen Parlamentspräsidentin, Francina Armengol (PSOE), am 17. August hatte sich im Parlament ein „links-plurinationalistischer“ Mehrheitsblock formiert, eine De-facto-Koalition, die 2018 Rajoy (PP) wegen Korruption aus dem Amt jagte und seit 2019 die linke Minderheitsregierung unterstützt, bestehend aus den Linksparteien PSOE und Sumar und den katalanisch/baskisch/galicisch-nationalistischen Parteien aktuell ergänzt um Puigdemonts Junts per Catalunya.

Alberto Feijóo, der am 22.8. von König Felipe VI. mit der Regierungsbildung beauftragte Kandidat der stärksten Fraktion (Partido Popular), scheiterte erwartungsgemäß bei der Wahl zum neuen Präsidenten am 25./27.9. im Parlament.

Bis zum 27.11. hat jetzt Pedro Sanchez (PSOE) Zeit, aus dem Block der Ablehnung einer Rechtsregierung mit Vox ein Bündnis für die Fortsetzung der Linksregierung zu formieren.

Ein gescheiterter Kandidat, der „gekonnt hätte, wenn er gewollt hätte“

Tief geschockt vom Wahlergebnis und dem misslungenen Sturz des „Sanchismus“ versuchte die PP, während der vierwöchigen Bewerbungstour Feijóo als wahren Wahlsieger, als Quasipräsidenten, darzustellen. Bis zum Überdruss behauptete man, Feijóo müsste regieren, weil die PP als stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen sei. Noch bei seiner Bewerbungsrede im Parlament erklärte Feijóo: „Der Hauptgrund, warum ich heute hier stehe, ist dass ich die Wahlen gewonnen habe. (…) Ich wäre nicht befähigt zu regieren, wenn der Oppositionsführer mehr Sitze hätte als ich.“ Dies, obwohl ein guter Teil der wichtigsten Führer der PP auf regionaler und städtischer Ebene erst kurz davor mit Unterstützung von Vox an die Macht gelangt waren, ohne dass die PP die stärkste Fraktion stellte.

Auch keimte noch die Hoffnung, Abgeordnete von Junts, der baskischen PNV oder gar der PSOE auf die Seite ziehen zu können. In der Vergangenheit hatten die bürgerlichen, nationalistischen Parteien immer wieder der PP gegen Kompensationen eine Mehrheit verschafft. 1996 wurde z.B. José María Aznar mit den Stimmen von CiU (Junts-Vorgängerpartei) und PNV zum Präsidenten gewählt. Kurz darauf wurden 180 Etarras aus der Haft entlassen, 304 ins Ausland Geflüchteten die Rückkehr ermöglicht.

Am 23.8. erklärte PP-Vizegeneral González Pons „Junts ist, ebenso wie Esquerra Republicana, eine Parlamentsfraktion, die jenseits der Handlungen von vielleicht vier, fünf oder sechs Personen eine Partei repräsentiert, deren Tradition und Legalität nicht zu bezweifeln ist“. Man wolle eine „bessere territoriale Einfügung Kataloniens“ ausloten. Verhandlungen mit Junts (seit 2017 für die PP nur noch „Putschisten“) wurden begonnen, nach wütenden Protesten des rechten PP-Flügels aber unverzüglich eingestellt.

Mehrmals deutliche Absagen erhielt Feijóo von der PNV: „Man könne und werde nicht vergessen, dass die Hochzeit der PP mit den Ultrarechten halb Spanien aus dem politischen Machtgefüge ausschließe.“ Daneben verwies die PNV u.a. auf das Wahlprogramm der PP, das z.B. die von der Linksregierung mit der PNV paktierten Erinnerungs- und Erziehungsgesetze aufheben will.

Der Gipfel politischer Fiktion wurde erreicht, als PP-Fraktionschefin, Cuca Gamarra, ankündigte, Feijóo werde der erste Kandidat sein, der freiwillig darauf verzichten werde, Präsident zu sein. „Ich kann die Stimmen erreichen, um Präsident zu sein, aber ich bin nicht bereit den Preis dafür zu bezahlen, den man von mir fordert“, verkündete Feijóo tags darauf im Parlament. Er habe „Prinzipien und Grenzen und sei glaubwürdig“, sprich seine persönliche Ethik würde ihn daran hindern, den Nationalisten Zugeständnisse zu machen. Die klarste Antwort darauf erteilte Aitor Esteban, Fraktionsführer der PNV: „Das ist nicht richtig, sie können nicht so tun, als ob Vox nicht Bestandteil der Gleichung wäre. Um die fünf Stimmen der PNV zu erhalten, müssten sie auf die von Vox verzichten. Und ohne Vox keine Mehrheit … Sie haben nicht auf eine Mehrheit verzichtet, weil sie sie niemals hatten. Sie versuchen ihr Scheitern als moralisches Opfer zu verkaufen, obwohl sie wissen, dass es nicht wahr ist.“ Feijóos Bewerbungstour und Rede dienten seiner Stärkung als Führer des rechten Oppositionsblocks und dem Aufbau einer Front gegen eine Neuauflage der Linkskoalition und eine politische Amnestie für den procés.

Reset für den katalanischen procés?

Bei den Verhandlungen mit Sumar und den weiteren Parteien strebt Sanchez einen Pakt für die gesamte Legislaturperiode an: „Ein Projekt des Fortschritts und des Zusammenlebens, das die Stabilität des Landes garantiert.“ Sumar will einen „territorialen und sozialen Pakt“ mit den sozialen und wirtschaftlichen Akteuren in Katalonien.

Ins Zentrum der Verhandlungen mit den katalanischen Parteien ist die Forderung nach einer politischen Amnestie gerückt. Die Linkskoalition scheint bereit dem mit den Begnadigungen politischer Führer eingeschlagenen Kurs folgend, dem Parlament eine Art politischer Amnestie zu unterbreiten. Sanchez: „Es geht nicht darum, bestehende Delikte zu annullieren, sondern eine neue Etappe der Verständigung für mehrere Generationen zwischen Katalonien und dem restlichen Spanien zu öffnen“. Ein Prozess, der helfen soll „neue Schritte Richtung Normalität zu unternehmen und auf die politische Handlungsebene zurückzukehren, die man niemals hätte verlassen sollen“. Im Gegenzug fordern PSOE und Sumar von Junts eine Absage an den Kurs einseitiger Unabhängigkeitserklärung, wie sie Esquerra Republicana 2021 abgab: „Wir sind für den Weg des Paktes, eines vereinbarten Referendums. Andere Wege sind nicht möglich, nicht wünschenswert“.

Exakt geregelt werden müssten Zeitraum und Personenkreis, den eine Amnestie umfassen soll. Über 1400 Personen sollen betroffen sein, neben der politischen Führung des procés viele höhere Funktionäre aus dem Regierungs- und Verwaltungsapparat bis hin zu Hunderten von Personen, die beim Referendum und politischen Kundgebungen festgenommen wurden. Daneben Fragen wie nach dem Umgang mit Gewalttaten gegen Personen (z.B. durch Polizisten) oder nach der künftigen Ausübung öffentlicher Ämter verurteilter Personen.

Stützen will man sich auf die Rechtsprechung des EuGH und der Verfassungsgerichte anderer EU-Länder, z.B. auf die deutschen Straffreiheitsgesetze von 1968 und 1970, die erlassen wurden, obwohl die deutsche Verfassung (wie die spanische) nicht explizit eine Amnestie vorsieht.

Heute, am 6.10., hat Sumar für den 10.10. die Präsentation eines von 20 beauftragten Juristen erarbeiteten Gesetzesentwurfs angekündigt.

Im Regierungsprogramm wird es u.a. um die Weiterentwicklung des asymmetrischen Föderalsystems (gerechtere Finanzierung, Kompetenzübertragungen, eventuell ein per Referendum gebilligtes neues Statut für Katalonien) gehen.