Politische Berichte Nr.05/2023 (PDF)07
EU-Politik

EU-Handelspolitik – Starke Akzentverschiebungen

Rolf Gehring, Brüssel

Ursula von der Leyen erfuhr bei ihrer Rede zur „Lage der Europäischen Union“ für ihre Initiative zum Handel und zu China scharfe Kritik. Markus Ferber (CSU) fand, sie verlasse den „Pfad der Tugend“ des Freihandels. Damit bezog er sich auf die Ankündigung von der Leyens, eine Untersuchung gegen chinesische E-Autos vorzunehmen. Ferber warnt vor einer „Abschottungspolitik“, die zu einem Teufelskreis führen könne, indem „sich andere Märkte dann auch abschotten“. (1) Tatsächlich weist die Darstellung in dem Newsletter Euractiv auf Richtungsänderungen in der EU-Handelspolitik hin. Man kann darin eine Tendenz zu Protektionismus, vor allem zu unilateralen (einseitigen) Gestaltungsmaßnahmen sehen.

Die grobe Unterscheidung bei der vertraglichen Handelspolitik sind bilaterale (zweiseitige) / multilaterale (mit mehreren Vertragspartnern) Handelsabkommen und das autonome Einfuhrregime bestehend aus Zöllen, Abschöpfungen (Agrarbereich – Abgaben in Höhe der Preisunterschiede) oder Einfuhrkontingenten, um europäische Produzenten zu schützen. Beide Bereiche basieren aber auf international ausgehandelten Regeln. Eine Sonderstellung nehmen die handelshemmenden Schutzmaßnahmen ein. Hier verpflichten sich Staaten oder Unternehmen „freiwillig“ zur Einhaltung bestimmter Handelspraktiken oder zur Selbstbeschränkung. Oft entstehen solche Zusagen durch die Drohung, anderenfalls stärkere Schutzmaßnahmen anzuwenden. Bewegt man sich durch die Internetseiten der Kommission zur Handelspolitik, findet man ein ausgefeiltes Instrumentarium von Maßnahmen, um die europäischen Wirtschaftsakteure vor unerwünschten Effekten eines freien Handels zu schützen. Es kommen außerdem geopolitischen Zielstellungen ins Spiel oder die Absicht, Nachhaltigkeits- und Umweltziele durchzusetzen.

Strategische Autonomie

Im Februar 2021 hatte die Kommission eine Neuausrichtung der EU-Handelspolitik vorgelegt mit dem Konzept einer „offenen strategischen Autonomie“ und darin ausdrücklich der Handelspolitik eine Rolle zur Durchsetzung geostrategischer Ziele zugewiesen. Stichworte dazu: nachhaltige und faire Globalisierung, ökologischer Wandel, Digitalisierung, Reform der WTO.

„Die Handelspolitik der EU muss sich auf drei zentrale Ziele konzentrieren:

1. Unterstützung der Erholung und des grundlegenden Wandels der EU-Wirtschaft im Einklang mit ihren Zielen für den ökologischen und den digitalen Wandel,

2. Gestaltung weltweiter Regeln für eine nachhaltigere und fairere Globalisierung,

3. Stärkung der Fähigkeit der EU, ihre Interessen zu verfolgen und ihre Rechte durchzusetzen – wenn nötig, auch eigenständig“ (2)

Die EU „braucht jetzt ein umfassendes und strategisches Konzept für wirtschaftliche Sicherheit, Risikominderung und Förderung des technologischen Vorsprungs in strategischen Sektoren“ (1), heißt es. Dieser Anspruch realisiert nicht, dass der technologische Vorsprung in mehr und mehr Feldern bereits nicht mehr vorhanden ist bzw. rapide verloren geht. „Im Konzept der offenen strategischen Autonomie spiegelt sich der Wunsch der EU wider, auf der internationalen Bühne einen eigenen Kurs zu bestimmen und durch Führungsstärke und Engagement die Welt um uns herum im Sinne der Interessen und Werte Europas zu gestalten.“ (3)

Bereits mit dem 2009 in Kraft getreten Vertrag von Lissabon hat eine Politisierung der Handelspolitik eingesetzt. Es wurde eine Verknüpfung mit der Außenpolitik und normativen Zielen vorgenommen. Ausdrücklich genannt werden Nachhaltigkeit, Ressourcen, Umwelt, auch Menschenwürde, Rechtstaatlichkeit und Völkerrecht. Die hierfür benötigten und als „soft power“ bezeichneten Einflussnahmen auf die Wirtschaft der Handelspartner entziehen sich der Begriffswelt der strukturierten Handelsbeziehungen und fallen unter die Rubrik der unilateralen Schutzmaßnahmen der EU. Vielfach geht es um Werteexport.

Gerade die Schnittmenge von wirtschaftlichen und sozialen Zielsetzungen erhält eine stärkere Rolle in der EU-Handelspolitik und führt zu oft einschneidenden Veränderungen bei den betroffenen Handelspartnern.

Man könnte die Liste fortsetzen, etwa um Vorgaben für die öffentliche Auftragsvergabe. Es sind allesamt unilaterale Maßnahmen, die nach ihrem Inkrafttreten den Zugang zum EU-Markt von der Einhaltung von Normen abhängig machen, die die EU einseitig setzt. Sollte man in einem kurzen Satz antworten: Vielfach gute Ziele (die eine breite Unterstützung in der Bevölkerung haben), schlechte Umsetzung. Die Kehrseite ist das protektionistische Moment. Beispiel: Mit einer Änderung der Anti-Dumping Grundverordnung der EU wurden 2017 Sozial- und Umweltstandards bei der Berechnung von Dumpingpreisen eingeführt. War diese Berechnung formal am Beginn auf ein „repräsentatives“ Land bezogen, werden ab 2019 die Kosten der Sozial- und Umweltstandards innerhalb der EU berücksichtigt. Das riecht schon stark nach Protektionismus.

Vonnöten: Internationale Rahmen

Auf die Kernarbeitsnormen der ILO zu pochen, hat gute Gründe; multinationale Konzerne auf Maßstäbe zu verpflichten ebenfalls. Die Bedingungen in den beteiligten Ländern zu beachten sollte dazugehören. Etwas zu viel des Werteexports wird es aber, wenn Staaten, die ausschließlich Kulturwälder aufweisen, anderen, die noch Urwälder haben, vorschreiben wollen, dass sie diese nicht antasten dürfen. Mit der aktuellen Richtung in der EU-Handelspolitik werden auch Standardbekenntnisse zu multilateralen Verhandlungen und einer Reform der WTO zu Makulatur. Diesen wird faktisch der Weg verbaut. Es täte der EU-Handelspolitik gut, wenn sie ihre Zielsetzungen in internationalen Foren und multilateralen Abkommen platzieren würde. Schon die Debatten aus der Gründungszeit der WHO um die Aufnahme der ILO-Kernarbeitsnormen in Handelsverträge zeigten die Problematik. Es waren vor allem Entwicklungsländer, die diese Verpflichtung als Protektionismus der Industriestaaten wahrnahmen. Allerdings sind in der Folgezeit in vielen Freihandelsabkommen Verweise auf ILO-Kernarbeitsnormen enthalten oder schreiben diese vor, was zeigt, dass Entwicklung im internationalen Rahmen möglich ist.

(1) https://www.euractiv.de/section/wahlen-und-macht/news/von-der-leyens-eu-rede-stoesst-auf-herbe-kritik/

(2) Europäische Kommission: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/qanda_21_645

(3) https://www.euractiv.de/section/handel-und-industrie/news/handelspolitik-eu-erwaegt-neue-schutzinstrumente-gegen-china/#eoff#