Politische Berichte Nr.05/2023 (PDF)08
EU-Politik

Europa gestalten: sozial gerecht und weltoffen! Die Linke vor den Europawahlen

Helmut Scholz und Frederike-Sophie Gronde-Brunner

evd. Im offenen Online-Redaktionsgespräch der Politischen Berichte am 22. September über die Lage in Bezug auf die Europawahlen 2024 wurden viele Sachverhalte mit Helmut Scholz, Mitglied des Europäischen Parlaments, Fraktion The Left, und Frederike Gronde-Brunner, Wahlkreisbüro Scholz, diskutiert. Wir freuen uns, dass die beiden ihren Standpunkt für die Politischen Berichte in einem Artikel darlegen. Sachkenntnis über die Abläufe in den EU-Institutionen, über die Arbeit der Parlamentarier und das Zusammenspiel von z.B. Gewerkschaften und den Fraktionen im Europäischen Parlament wie auch die Erfolge, die auf europäischer Ebene erzielt wurden und werden, sind in der linken Öffentlichkeit zu wenig vorhanden. Dabei spielen Entscheidungen auf europäischer Ebene in alle Bereiche der vertikalen Demokratie bis hin zur Kommune hinein. Die Regulierungen des Arbeitslebens, die sozialen Säulen, der Gesundheitsschutz, die Sicherung gesunden und ausreichenden Trinkwassers sind nur einige Aspekte der vielfältigen Arbeit. Der Rechtsraum Europa neben anderen Rechtsräumen stellt wiederum andere Herausforderungen an die Kooperation und das Handeln auf allen Ebenen. Die Wahlen zum Europäischen Parlament stellen die Weichen – für linke Politik ein Feld und Raum für politische Wirksamkeit.

Die Europäische Union und ihre 27 Mitgliedstaaten stehen derzeit vor komplexen Herausforderungen: Die Bewältigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie, das Erreichen von Energiesicherheit für die Bürger:innen und Unternehmen angesichts des notwendigen Umstiegs auf erneuerbare Energien bei gleichzeitiger Entkoppelung von Gas- und Ölimporten aus Russland, der Aggressionskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine mit seinen noch nicht wirklich einzuschätzenden mittel- und langfristigen Folgen für das internationale Staatensystem und der notwendigen Unterstützung für die Menschen in der Ukraine, die Inflation und wirtschaftliche Anfälligkeit, die zudem von der Absage vieler Schwellen- und Entwicklungsländer an noch länger einseitig vom „Westen“ definierte Bedingungen für ein Weiter-so zur Fortsetzung des Funktionierens der Weltwirtschaft verstärkt wird.

Wie sind diese vielschichtigen und sich überlappenden Auswirkungen der multiplen Krisen und globalen Herausforderungen auf die Gesellschaft und für den Alltag der Menschen politisch und gesellschaftlich zu bewältigen?

Angesichts der all diese Problemlagen überwölbenden Klimakatastrophe und des damit verbundenen zeitlichen Zwangs, Lösungen vor dem Erreichen der Kipppunkte nicht nur aufzuzeigen, sondern praktisch umzusetzen, müssen von der Politik auf europäischer und nationaler Ebene konkrete Maßnahmen dafür endlich angegangen werden.

Kleiner lassen sich die Aufgaben kaum beschreiben – wir brauchen dringend ein Umsteuern von Politik, also gemeinschaftliches Handeln aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte in der EU.

In der gesamten EU wächst die Schere zwischen Arm und Reich, in vielen europäischen Regionen fehlt es an notwendiger Infrastruktur und sozialer Abfederung. Viele Menschen fühlen sich von der Politik – ob von ihren regionalen oder nationalen Regierungen oder EU-Institutionen – abgehängt, in ihrem Alltag im Stich gelassen und so zerrinnt das Vertrauen in funktionierende Demokratie und die Spaltungstendenzen in den Gesellschaften der EU-Mitgliedstaaten verstärken sich. Andererseits wächst bürgerschaftliches Engagement und die Überzeugung gerade vieler junger Menschen, die groß geworden sind in der Realität eines Zusammenlebens ohne Grenzen, sich für das Meistern der gewaltigen Herausforderungen und das Überwinden der Verwerfungen aus strukturellen Fehlentwicklungen im Integrationsprozess einzusetzen.

Die Linke in Deutschland und in der EU muss sich als Teil dieser Gesellschaften ebenso positionieren und ihre Vorschläge für die Entwicklung einer sozial gerechten und ökologischen EU in diesen Kampf einbringen. Ohne ihre Verantwortungsübernahme und ohne eine klare Positionierung aller anderen demokratischen Kräfte ist das demokratische Zusammenleben bedroht. Rechte Politiker:innen und Parteien versuchen nicht nur kurzfristig Profit daraus zu schlagen, sondern die Aufkündigung des Grundkonsens des europäischen Integrationsprojekts durchzusetzen. Das ist neu und verdeutlicht die sich mit den Europawahlen 2024 stellende Grundsatzfragen: Wer wird nach dem 9. Juni in der EU Gesetze beschließen, wie wird die neue EU-Kommission aussehen, und wird die EU befähigt bleiben, ihre aktuellen und neuen Aufgaben in Angriff nehmen zu können? Verstärken sich die Versuche, Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten abzubauen, vertraglich gesicherte Grundrechte zu missachten und werden Zynismus und Doppelstandards in der Politik zum Tragen kommen, wie es aktuell beim Umgang mit Flüchtlingen und Menschen in Not deutlich wird? Bereits jetzt beeinflusst dies Entscheidungen im Rat und eine Neuorientierung politischer Akteur:innen im Europäischen Parlament und anderen Gremien nach rechts ist zu verzeichnen. Die Linke. ist gefordert, sich aktiv und inklusiv in die Diskussion um die künftige Entwicklung der EU einzubringen, realistische Alternativen zum Status Quo der EU aufzuzeigen: nur mit gemeinschaftlicher EU-Politik lassen sich die Auswirkungen der Krisen, die nicht vor Grenzen halt machen, abfangen und nur durch gemeinschaftliches Handeln können wir präventiv dafür sorgen, dass Krisen erst gar nicht entstehen.

Was ist dafür notwendig?

Ein sehr konkretes und klares Wahlprogramm, das unsere vielen politischen Vorschläge mit den notwendigen institutionellen Reformen verbindet: wir müssen deutlich machen, wer die Akteur:innen in der Mehr-Ebenen-Entscheidungsstruktur der EU sind, an wen wir uns richten und mit wem wir unsere Initiativen und Angebote für eine andere Politik der EU und damit Veränderungen der EU selbst umsetzen wollen. Ein Beispiel: Wie ist die Gemeinsame Agrarpolitik in enger Verbindung mit dem EU-Renaturierungsgesetz zu entwickeln, zu reformieren und weiter auszugestalten und was heißt das für die Einbindung der Agrarproduzent:innen in Planungsprozesse der Politik für eine EU-weite tagtägliche „Güterproduktion“? Sicher ist, dass nur mit den Landwirt:innen die weitere Qualifizierung der „Vom Hof auf den Tisch“-Strategie als Ausgangspunkt weiterer Reformen gelingen kann. Und da ist zugleich der internationale Kontext mitzudenken: Welchen Einfluss hat die Exportorientierung einer subventionierten EU-Agrarproduktion auf die Lebensrealitäten in anderen Regionen der Erde, wie sind nationale und internationale Lieferketten angesichts von Klimakatastrophe und Kampf gegen Artensterben in Einklang mit der Natur und dem sich verändernden Konsumverhalten auszugestalten? Wie kann über die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik eine regionale Kreislaufwirtschaft mit Ressourcenschonung und guten Arbeitsplätzen auch in ländlichen Regionen ermöglicht werden? Viele weitere Beispiele aus den Bereichen des Binnenmarkts mit der notwendigen Re-Industrialisierung der EU im Hochtechnologie-Zeitalter mit KI und Digitalisierung aller Produktions- und Lebensbereiche, einer nachhaltigen Energieproduktion usw. ließen sich hier anfügen.

Entscheidend bleibt die weitere Demokratisierung von EU-Institutionen und Politik: Doch derzeit erschwert, beziehungsweise blockiert der EU-Rat notwendige Veränderungen der Entscheidungsmechanismen in der EU. Das ist den Lissabon-Verträgen immanent – und deshalb sind die 20 Jahre alten Verträge dringend auf den Prüfstand zu stellen. Diese Dauerblockaden wollen wir überwinden. Wir müssen dafür die Zuordnung und Verantwortlichkeiten der EU-Institutionen verändern – der europäische Staatenverbund ist zu einer echten parlamentarischen Demokratie weiterzuentwickeln. Wir schlagen deshalb vor die EU-Kommission in eine echte Ministerialebene und den Rat in eine zweite Kammer umzuwandeln und das Parlament, wie seit vielen Wahlperioden gefordert, mit einem vollumfänglichen Gesetzesinitiativ- und Haushaltsrecht auszustatten. Zugleich wollen wir die Mitbestimmung der Regionen über den Ausschuss der Regionen stärken, denn jegliche Entscheidungen auf EU-Ebene wirken sich ganz konkret auf den Alltag der Menschen in den Regionen aus, und sie sind es, die am besten wissen, was vor Ort gebraucht wird. Das gilt ebenso für den Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU, der verbindliche Mitsprache in der EU-Gesetzgebung bekommen muss.

Die konkreten Empfehlungen der Konferenz zur Zukunft Europas zeigen: die Bürger:innen wollen an politischen Entscheidungen beteiligt werden, und sie wollen die EU gemeinschaftlich weiterentwickeln. Kurzum, sie wollen eine funktionierende soziale, ökologische, friedliche und demokratische Gemeinschaft. Sie haben sich für eine Energie- wie Gesundheitsunion, eine Umwelt- wie Verteidigungsunion und für die Verankerung der sozialen Dimension im Primärrecht der EU ausgesprochen. Dazu ist die Linke in der EU gefordert, eigene Antworten vorzulegen. Denn wir sehen hier große gemeinsame Schnittmengen.

Noch ein Beispiel: Gemeinsam mit Gewerkschaften und Verbänden haben wir uns erfolgreich für einen EU-weiten Mindestlohn eingesetzt – eine von vielen Maßnahmen, um europaweit Niedriglöhne zu verhindern, den Menschen ein Einkommen zu ermöglichen, das vor Armut schützt.

Wir machen Druck, damit das von der Kommission auf den Weg gebrachte Ziel eines CO2-freien Kontinents im sogenannten European Green Deal und seiner ziel- und zeitgenaueren Konkretisierung in der „Fit for 55“-Strategie nicht abgebaut wird, sondern in einen umfassenden sozial-ökologischen Umbau der Industrie-, Landwirtschafts- und Verkehrspolitik mündet. Bei diesem Umbau müssen die wichtigen Lebensfragen wie sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze, Bildung und Ausbildung, aber auch bezahlbares Wohnen und Zugang zu Gesundheitsleistungen entscheidende Zielkriterien sein. Die Verbindung dieser auf sozial gerechte Verhältnisse ausgerichteten Alternativen sind zugleich konsequent mit verbindlichen Vorgaben und Maßnahmen im ganzheitlichen Umweltschutz wie beispielsweise dem Schutz von Gewässern oder Wäldern zu verbinden. Und das heißt für uns: die EU-Mitgliedstaaten müssen diese tatsächlich umsetzen, der Markt muss hier nachrangig re-reguliert werden.

Also an unser aller Adresse: Wir müssen unsere Lebens- und Wirtschaftsweise nicht nur theoretisch neu denken, sondern in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs auch gemeinsam die Schritte abstecken, um diese radikal verändern zu können. Das erfordert wiederum erweiterte demokratische Teilhabemöglichkeiten und zielgenaue Entscheidungen, wie wir den Umbau von Wirtschaft und Industrie so vorantreiben, dass Wirtschaftskreisläufe möglichst regional und ökologisch nachhaltig gestaltet sind und zugleich Arbeitsplätze in den Regionen geschaffen werden. Auch hier wird zu sehen sein, was geht nur EU-weit und wo kann und soll nationalstaatliche Verantwortung für diese EU-Vorgaben gestärkt oder kommunales und regionales Zusammenwirken, auch grenzüberschreitend, auf dem Subsidiaritätsprinzip fußend vorangebracht werden. Wir meinen, dass uns Alleingänge daran hindern, diese Ziele zu erreichen – sinnvoller helfen nur durch alle Mitgliedstaaten und gemeinsam mit den Regionen abgestimmte Strategien. Dies gilt sicher für viele andere Bereiche, z. B. ebenso für den Energiesektor. Die in den 1990er-Jahren durch die EU vorangetriebene Liberalisierung der Energiemärkte hat mit dafür gesorgt, dass die Energiekonzerne ihre Profite nicht erst seit der Krise steigern, während viele Menschen nicht mehr wissen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Und genau deswegen kämpfen wir dafür, dass Energiepolitik gemeinschaftlich geregelt wird und wir zügig von fossiler auf erneuerbare Energie umsteigen. Energieunion heißt gewiss auch für jede:n verfügbare Energiesicherheit zu gewährleisten, also Energieerzeugung wirklich im Kontext der gesamten EU unter Berücksichtigung der lokalen und regionalen Umweltbelange zu realisieren. Die Errichtung eines LNG-Terminals vor Rügen – noch dazu über berechnete Bedarfe hinaus – wäre nicht notwendig, wenn die praktische Errichtung eines Großterminals keine 100 km entfernt in Polen berücksichtigt worden wäre. Also wirklich EU-weit denken und handeln! Und: Erneuerbare Energie muss in den Regionen gewonnen und vergemeinschaftet angeboten werden, sodass Gewinne auch dort verbleiben und vor Ort in dringend benötigte Infrastruktur investiert werden kann.

Die Klimakatastrophe trifft die Ärmsten dieser Gesellschaft besonders hart und insbesondere die Menschen im globalen Süden sind den zunehmenden Folgen wie Dürre oder Überschwemmung schutzlos ausgeliefert und dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Wer vor Hunger, Krieg oder politischer Verfolgung zu uns flieht, hat ein Recht auf Asyl. Der Abschottungspolitik stellen wir uns als Linke entschieden entgegen und setzen uns weiterhin für eine solidarischen Aufnahme Geflüchteter ein, bei der Kommunen nicht allein gelassen werden.

Fazit: Wir wollen bei den Europawahlen mit einem einladenden und überzeugenden Programm und politischen Aktivitäten unter Beweis stellen: Wir meinen es ernst mit unserem Vorhaben, konsequentes und gemeinschaftliches politisches Handeln voranzutreiben. EU-Politik muss inklusiv und partizipativ für die Menschen und mit ihnen gemeinsam realisiert werden.

Wir wollen die EU umgestalten: sozial gerecht, ökologisch und weltoffen!

Abb. (PDF): Zu den Autoren:

Helmut Scholz ist seit Juni 2009 für die Linke gewähltes Mitglied des Europäischen Parlaments und zuständig für Internationale Handelspolitik und Verfassungsfragen. Helmut wird nicht erneut für das EP kandidieren. www.helmutscholz.eu

Frederike-Sophie Gronde-Brunner ist seit 2016 für Helmut Scholz tätig und Leiterin der Wahlkreisbüros Brandenburg & Mecklenburg-Vorpommern, und seit 2017 Referentin für Europa- und Entwicklungspolitik in der Linksfraktion im Landtag Brandenburg. Die Landesvorstände der Linken Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gaben für Frederike-Sophie Gronde-Brunner eine Empfehlung als gemeinsame Kandidatin beider Landesverbände auf der Bundesliste für die Europawahl 2024 ab. https://www.facebook.com/frederikesophie.gronde