Politische Berichte Nr.05/2023 (PDF)10
Aktionen-Initiativen

Aktionen und Initiativen. Thema: Bildungssystem

Thorsten Jannoff. Bundesweit fehlen in unterschiedlichster Abstufung Kitas, Erzieherinnen, Schulen und Lehrpersonal. Es mehren sich Berichte, wonach besonders in sozial abgehängten Städten und Stadtteilen regulärer Unterricht teilweise kaum noch möglich ist. Dieses Staatsversagen und der gestörte Übertragungsprozess von kulturellem Kapital in den Familien entfalten gerade dort eine doppelte Wucht. Die im Bildungssystem angelegte Reproduktion sozialer Ungleichheit droht sich massiv zu verschärfen. Der Druck für Veränderungen ist groß.

Das Bündnis „Bildungswende Jetzt!“, bestehend aus den Gewerkschaften GEW und Verdi, Bildungsverbänden sowie Eltern- und Schülervertretungen, hatte deshalb für den 16. September zu einem bundesweiten dezentralen Aktionstag aufgerufen. Mehr als 15 000 Menschen waren laut Veranstalter auf der Straße. Das Bündnis macht konkrete Vorschläge für eine Bildungswende, die wir dokumentieren, ebenso wie weitere und ähnliche Vorschläge aus der GEW und der Partei Die Linke.

Abb. (PDF): Logo „Bildungswende jetzt

Abb. (PDF): Foto: Andrea Kostolnik, Köln. APPELL: BILDUNGSWENDE jetzt!

01 Vier Forderungen für ein gerechtes und inklusives Bildungssystem bildungswende-jetzt.de.
02 Fünfzehn Punkte gegen den Lehrkräftemangel gew.de
03 Entschlossen gegen den Bildungsnotstand www.die-linke.de

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Vier Forderungen für ein gerechtes und inklusives Bildungssystem

bildungswende-jetzt.de. … unsere Gesellschaft erlebt aktuell eine der schwersten Bildungskrisen seit Gründung der Bundesrepublik. Ein enormer und sich vergrößernder Mangel an Lehrer*innen und Erzieher*innen trifft auf ein veraltetes, unterfinanziertes und segregiertes Bildungssystem, das sozial ungerecht ist. Kinder und Jugendliche werden viel zu oft nicht ausreichend auf die Zukunft vorbereitet, und notwendige Aufgaben wie Digitalisierung und Inklusion wurden viel zu lange verschlafen …

Viele Kitas und Schulen beklagen, dass sie aufgrund der nicht kindgerechten Personalausstattung und der Überlastung ihren Bildungsauftrag nicht mehr erfüllen können. Knapp 50 000 junge Menschen verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Schlechte Lernbedingungen erzeugen schlechte Leistungen. Schüler*innen lesen, schreiben und rechnen immer schlechter, wie der jüngste IQB-Bildungstrend zeigt.

Dabei hängt der Bildungserfolg in unserer Gesellschaft immer noch maßgeblich von der sozialen Herkunft ab. Bildungschancen sind extrem ungleich verteilt und der wachsende Mangel an Lehrkräften und Erzieher*innen verschärft diese bereits bestehende Ungleichheit weiter …

Wir fordern von Ihnen

1. Schule und Kita INKLUSIV und ZUKUNFTSFÄHIG machen

• Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) wirkungsvoll als verbindlichen Lerninhalt zu verankern, damit sich Schüler*innen auf die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereiten können

• Lehrpläne und Lerninhalte schüler*innenorientiert und diskriminierungskritisch zu überarbeiten, um Freiräume für die intellektuelle, emotionale und soziale Entwicklung der Schüler*innen zu schaffen und die Bildungsqualität zu erhöhen

• alternative Leistungsbewertungen zu ermöglichen, statt zu viele Vergleichsarbeiten durchzuführen

• Schulentwicklung gemeinsam zu gestalten, auf Nachhaltigkeit auszurichten und durch passende Aus- und Weiterbildung zu unterstützen

• multiprofessionelle Teams als festen Bestandteil in allen Schulen zu verankern und zu finanzieren

2. AUSBILDUNGSOFFENSIVE für Lehrer*innen und Erzieher*innen

• einen Staatsvertrag Lehrkräftebildung, der alle Bundesländer dazu verpflichtet, genügend Lehrkräfte auszubilden und die Studienabschlüsse gegenseitig anzuerkennen

• die Überarbeitung und engere Verzahnung des Lehramtsstudiums mit der Praxis und neue Wege ins Lehramt

• einen Plan, wie die Ausbildung von ausreichend und gut qualifizierten Erzieher*innen bei attraktiven Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen sichergestellt werden kann, und dessen Umsetzung

3. SONDERVERMÖGEN Bildung und ausreichende Finanzierung

• ein Sondervermögen Bildung in Höhe von mindestens hundert Milliarden Euro für die notwendigen Investitionen in Kita und Schule

• mindestens 10% des BIP jährlich für Bildung und Forschung, wie es beim Dresdner Bildungsgipfel 2008 vereinbart wurde

4. echter BILDUNGSGIPFEL auf Augenhöhe

• einen vom Bundeskanzler in Absprache mit den Regierungschef*innen der Länder einberufenen Bildungsgipfel, um gemeinsam mit Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft und Bildungspraxis über Auswege aus der Bildungskrise und den Aufbau eines gerechten, inklusiven und zukunftsfähigen Bildungssystems zu diskutieren.

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Fünfzehn Punkte gegen den Lehrkräftemangel

gew.de Bundesweit fehlen Lehrerinnen und Lehrer. Die GEW macht 15 Vorschläge an die Politik, was jetzt getan werden muss. So kann der Lehrkräftemangel bekämpft und die Krise im Klassenzimmer noch verhindert werden.

1. Arbeitszeitreserven heben. …Um ausgebildete Lehrkräfte an den Schulen zu halten, müssen die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte verbessert und damit attraktiver werden (Senkung der Arbeitszeit, kleinere Klassen, mehr Ausgleichsstunden, besserer Gesundheitsschutz, höhere Altersermäßigung, Unterstützungssysteme für Lehrkräfte wie Team-Coaching und Supervision usw.) …

2. Multiprofessionelle Teams bilden. Die Schulen müssen personell besser, aufgabengerechter und passgenauer aufgestellt werden. Dazu gehören unterschiedliche Professionen, insbesondere für den Ausbau des Ganztags, die Inklusion und die Integration Geflüchteter: Sozialpädagog*innen und -arbeiter* innen, Erzieher*innen, Psycholog* innen, Heilerziehungspfleger*innen, Therapeut*innen, Kunsterzieher*innen, Musikpädagog* innen, Dolmetscher* innen und herkunftssprachliche Lehrkräfte sowie Lehrkräfte für Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache …

3. Mehr IT- und Verwaltungsunterstützung. Zusätzlich müssen Verwaltungskräfte, Assistenzen und IT-Fachleute eingestellt werden. Sie sollen nichtpädagogische Arbeiten übernehmen und unter anderem eine digitale Infrastruktur aufbauen und deren Wartung übernehmen sowie Labore, Werkstätten oder Lehrküchen betreuen …

4. Gutes Geld für gute Arbeit – Attraktivität des Lehrkräfteberufs steigern. Die Attraktivität des Lehrkräfteberufs muss verbessert werden. Dazu gehört auch, alle voll ausgebildeten Lehrkräfte nach A 13 (Beamtinnen und Beamte) und E 13 (Angestellte) zu bezahlen …

5. Studienplätze ausbauen, Studium verbessern. Die Landesregierungen und damit die Hochschulen müssen die Zahl der Plätze für das Lehramtsstudium erhöhen und Studienbeschränkungen für das Lehramt (Numerus clausus, beschränkter Zugang zum Masterstudium) abschaffen. Dabei sollen sie den besonderen Bedarf bestimmter Fächerkombinationen berücksichtigen. Die Spezialisierung für einzelne Schularten muss zugunsten von Stufenlehrämtern überwunden werden …

6. Ausländische Abschlüsse anerkennen. Die Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse von Lehrkräften muss erleichtert werden. Spracherwerb und gegebenenfalls erforderliche Weiterqualifizierung dieser Lehrkräfte soll berufsbegleitend laufen und durch ausreichende Stundenermäßigung abgesichert werden. Wenn Lehrkräfte nur ein Unterrichtsfach haben – im Ausland ist das der Regelfall – darf das kein Ausschlusskriterium für eine berufsbegleitende Weiterbildung sein.

7. Vorbereitungsdienst stärken. Die Landesregierungen müssen die Zahl der Plätze im Vorbereitungsdienst (Referendariat), auch in Teilzeit, ausweiten. Der bedarfsdeckende Unterricht ist zu reduzieren und die Betreuung der Referendar*innen deutlich zu verbessern, um die hohe Abbruchquote zu senken …

8. Bezahlung der Anwärter*innen und Referendar*innen über Mindestlohn heben. Die Bezahlung im Vorbereitungsdienst muss signifikant angehoben werden. Rund 1.500 Euro brutto im Monat für eine mehr-als-Vollzeit-Beschäftigung nach fünf Jahren Studium sind unwürdig und schrecken auch potenzielle Quereinsteiger*innen mit Berufs- und Lebenserfahrung ab.

9. Gemeinsamer Kraftakt Quer- und Seiteneinstieg … Länder, Hochschulen, Studienseminare und Gewerkschaften müssen sich deshalb auf eine gemeinsame Kraftanstrengung verständigen, um ab sofort berufsbegleitend Quer- und Seiteneinsteiger*innen zu qualifizieren. Das erfordert attraktive Bedingungen für die angehenden Lehrkräfte, die auch Teilzeit möglich machen, um die hohe Abbruchquote deutlich zu senken. Die Ausbildung „on the job“ ist so zu gestalten, dass fehlende Ausbildungsinhalte berufsbegleitend nachgeholt werden können …

10. Beschäftigte ohne Lehramt begleiten und ihnen Perspektiven bieten. Unterricht durch nicht als Lehrkraft ausgebildete oder in Ausbildung befindliche Beschäftigte ist eine Notmaßnahme, für die die Politik verantwortlich ist. In diesen Fällen ist den Beschäftigten ohne Lehramt eine erfahrene Lehrkraft als Mentor*in mit ausreichend Entlastungsstunden zur Seite zu stellen …

11. Mentor*innen stärken. Lehrkräfte, die Nachwuchslehrkräfte betreuen (Mentor*innen), müssen eine Pflichtstundenentlastung von mindestens zwei Unterrichtsstunden pro Lehrkraft und Fach im Vorbereitungsdienst bzw. pro Seiteneinsteiger*in oder zu betreuender nicht ausgebildeter Lehrkraft erhalten …

12. Schulen in schwierigem Umfeld besser ausstatten. Schulen in herausfordernden sozialen Lagen stehen vor besonderen Problemen. Sie müssen aktiv mit zusätzlichen Bundesgeldern, die nach dem sozial indizierten Verteilungsschlüssel, den die GEW entwickelt hat, zu verteilen sind, und Ausgleichsstunden für die Lehrkräfte aus Landesmitteln unterstützt werden. Ungleiches muss ungleich behandelt werden …

13. Neue Wege gehen. In Modellprojekten soll geprüft werden, ob der Einstieg in den Beruf durch ein verändertes Referendariat in Verbindung mit einer darauffolgenden begleiteten Berufseinstiegsphase schneller und attraktiver gestaltet werden kann …

14. Kurswechsel bei Einstellungspolitik. Die Kultusministerkonferenz (KMK) und die Länder müssen umgehend eine Strategie entwickeln, kontinuierlich eine ausreichende Zahl Lehrkräfte auszubilden und einzustellen, um den ständigen Zyklus von Lehrkräfteüberschuss und -mangel künftig zu überwinden …

15. Verbindlichkeit sichern. In vielen Abkommen der KMK sind in der Vergangenheit Vereinbarungen getroffen worden, um die Ausbildung der Lehrkräfte zu verbessern und den Lehrkräftebedarf zu decken. Diese sind in der Regel nicht flächendeckend umgesetzt worden. Damit dies in Zukunft geschieht, schlägt die GEW einen Staatsvertrag zur Lehrkräfteausbildung und zur Deckung des Lehrkräftebedarfs vor.

https://www.gew.de/15-punkte-gegen-lehrkraeftemangel

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Entschlossen gegen den Bildungsnotstand

www.die-linke.de Janine Wisler, Vorsitzende der Partei Die Linke, und Nicole Gohlke, Sprecherin für Bildung und Wissenschaft der Linken-Fraktion im Bundestag:

… 1. Schulen zu Wohlfühlorten machen

Der Bund darf sich nicht länger um die Finanzierung von Schule drücken. Deshalb fordert Die Linke ein „100 Milliarden-Euro-Sondervermögen für Bildung“ des Bundes zur Sanierung, Modernisierung und Unterstützung der Bildungseinrichtungen, um die Mangelwirtschaft zu beenden …Das Kooperationsverbot in der Bildung muss vollständig fallen und stattdessen soll eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung im Grundgesetz festgeschrieben werden.

2. Lernen ohne Druck und Angst. Das gegliederte Schulsystem ist und bleibt ein Brandbeschleuniger für soziale Ungleichheit. Wir müssen stärken statt sortieren: ‚Eine Schule für alle‘ ist die Antwort! …Abschulen und Sitzenbleiben muss Schnee von gestern werden. …Der Stress wird verstärkt, wenn zu große Klassen in zu engen Räumen arbeiten. Lernen in kleineren Klassen bzw. Lerngruppen mit mehr individueller Förderung sorgt für mehr Leistung und ein besseres Lernklima …Hausaufgaben und Noten gehören abgeschafft. Einüben und Wiederholen hat in der Schulzeit zu geschehen …

3. Gute Arbeit im Klassenzimmer. Die bürokratische Belastung muss runter vom Lehrkraftschreibtisch, Schulen brauchen mehr Zeit und Beratung für Schulentwicklung und der IT-Support muss verbindlich extern abgesichert werden.

Die Gleichstellung bei der Bezahlung von Lehrkräften unabhängig von Schulform und Schulstufe (A 13/E 13) muss bundesweit her. Eine Ausbildungsoffensive für mehr Lehrer:innen und Erzieher:innen ist dringend notwendig.

Die Lehrer:innenausbildung muss praxisnah reformiert werden. Dazu gehört auch, die Studien- und Ausbildungsbedingungen insgesamt zu verbessern und besser mit der Praxis zu verzahnen sowie die Qualität der Lehre zu steigern. Die Lehrer:innenbildung darf nicht länger Sparmodell an Hochschulen sein. Es müssen Strategien entwickelt werden, um die Abbruchquoten bei Lehramtsstudierenden sowie von Erzieher:innen in Ausbildung deutlich zu senken …

4. Gute Standards von Aachen bis Görlitz. Der Bund muss sich dauerhaft an der bedarfsgerechten Finanzierung im Bildungswesen beteiligen.

Um Vergleichbarkeit im Bildungswesen und hohe Qualität sowie gleiche Möglichkeiten für die Bildungsteilhabe herzustellen, braucht es ein bundeseinheitliches Bildungsrahmengesetz, das alle Bildungsbereiche in den Blick nimmt …

https://www.die-linke.de/start/nachrichten/detail/entschlossengegendenbildungsnotstand/