Politische Berichte Nr.06/2023 (PDF)06
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Spanien: Amnestie – Linksregierung wiedergewählt

01 Vereinbarung mit Junts per Catalunya
02 Abkommen mit Esquerra Republicana (ERC, Katalonien)
03 Abkommen mit der PNV (Baskenland)
04 Abkommen für eine neue progressive Koalition PSOE – Sumar
05 PP/Vox: Kampagne gegen „illegitime“ Regierung

Claus Seitz, San Sebastián

Ein „progressiv-plurinationalistisches“ Bündnis von 179 Abgeordneten, das 12,5 Millionen Wähler repräsentiert, hat Pedro Sanchez als Ministerpräsidenten der linken Minderheitsregierung PSOE-Sumar wiedergewählt. Gegen Sanchez stimmten 171 Abgeordnete des rechten Blocks (11,18 Millionen Wähler).

Die Wiederwahl von Sanchez erfolgte auf der Basis von mit den einzelnen Parteien abgeschlossenen Abkommen, in denen die Absicht betont wird, der Regierung über die gesamte Legislaturperiode hinweg Stabilität zu verleihen.

Abkommen PSOE – Junts per Catalunya

Unterstützung der Linksregierung im Gegenzug für eine politische Amnestie und das Versprechen trotz unterschiedlicher Meinungen und gegensätzlichen Misstrauens eine ausgehandelte Lösung des Konflikts zu suchen, so der Inhalt des für beide Seiten schwierigen Paktes.

Die PSOE unterstützte 2017 die PP-Regierung in der Anwendung des Artikels 155 der Verfassung (Absetzung des katalanischen Regionalpräsidenten, Neuwahlen, etc.) gegen den katalanischen procés. Sie hätte als Bedingung für ihre Zustimmung zum Artikel 155 den Verzicht auf die Anwendung strafrechtlicher Maßnahmen fordern können, tat es aber nicht. In der Folge wurde eine Prozesswelle gegen den procés ausgelöst, neun Anführer zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Seither hat sich Sanchez schrittweise über Begnadigung der Inhaftierten, Entschärfung von Strafgesetzen, erstes Abkommen mit Esquerra Republicana zur politischen Amnestie hinbewegt, das heißt zur „Lösung des katalanischen Konflikts auf politischem Weg“. Mit Blick auf die eigenen Wähler gleicht das durchaus einem Ritt auf der Rasierklinge.

Noch vor einem Jahr warf Junts ERC Verrat vor und zog sich aus der katalanischen Regierung zurück. Ein Jahr später kehrt sie aus der Isolierung und dem Weg der Konfrontation, auf den Puigdemont während seiner sechs Jahre in Belgien setzte, in die politischen Realität zurück, weg von der einseitigen Unabhängigkeitserklärung auf den Verhandlungsweg.

„Junts kehrt unter enormem Misstrauen zu den legalen Wegen zurück, womit sie dem Pfad folgt, den ERC schon eingeschlagen hatte. Keines der Abkommen enthält irgendeinen Kompromiss, mit dem die PSOE den Verfassungsrahmen überschreiten würde. Ein gutes Beispiel ist, dass beide (Junts, ERC) gestern im katalanischen Parlament gegen den Vorschlag der CUP für ein erneutes Referendum stimmten. Es zeigt sich, dass der von beiden Parteien schweigend akzeptierte Rahmen die spanische Verfassung ist, auf deren Artikel 92 sich Junts in ihrem Vorschlag für die Abhaltung eines legalen Referendums beruft.“ (Leitartikel El Pais, 10.11.23)

Politische Amnestie

Nach dem von der PSOE in das Parlament eingebrachten Gesetzentwurf sollen Straftaten oder bestimmte Handlungen von Verantwortlichen auf Verwaltungs- und Finanzebene, die im Zeitraum vom 1.1.2012 bis zum 13.11.2023 im Zusammenhang mit der Volksbefragung in Katalonien am 9.11.2014 und dem Referendum vom 1.10.2017 begangen wurden, amnestiert werden. Dies umschließt alle Beteiligten an der Planung und Durchführung von Befragung und Referendum, aber auch Teilnehmer an Protestaktionen, Berater, Polizisten, etc. Ausgenommen werden terroristische Taten; vorsätzlich ausgeführte, die zum Tod führten; rassistisch, antisemitisch motivierte; Folter oder herabwürdigende, unmenschliche Taten.

In der Präambel dargelegte Motive: „Über zehn Jahre nach dem Beginn des Unabhängigkeitsprozesses soll eine angemessene Antwort gegeben werden, für die Garantie des künftigen Zusammenlebens … in einer pluralen Gesellschaft, die ihre wichtigen Debatten mittels Dialogs, Verhandlung und demokratischer Vereinbarungen führt. Auf diese Weise wird die Lösung des Konfliktes wieder auf den Weg der politischen Diskussion zurückgeführt.“ „Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden in europäischen Ländern 52 solcher Gesetze erlassen, auch in Ländern wie Deutschland und Belgien, in deren Verfassung die Amnestie nicht explizit geregelt ist. Die geplante Amnestie fügt sich in den juristischen Rahmen der EU ein.“

Die Amnestie, sollte sie denn im Parlament beschlossen und vom Verfassungsgericht (und eventuell auf europäischer Ebene) abgesegnet werden, wird bewirken, dass der Preis für einige politische Taten, die nie hätten begangen werden sollen, aber auf die auch nur politisch hätte reagiert werden sollen, nicht noch höher ausfällt. Zweifellos wird sie in Katalonien eine versöhnende Wirkung haben.

Im Parlament steht jetzt die Frage nach der territorialen Ordnung Spaniens und der Lösung des katalonischen Konflikts unabweisbar auf der Tagesordnung. Im Rahmen der spanischen Verfassung wäre vieles möglich. Eine dringend benötigte, konstruktive Beteiligung der Opposition ist derzeit nicht absehbar – ganz im Gegenteil.

01

Vereinbarung mit Junts per Catalunya

PSOE und Junts anerkennen ihre tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten und sind sich der Komplexität und der Hindernisse des Prozesses, den sie in Angriff nehmen wollen, bewusst.

Einerseits betrachtet Junts das Ergebnis und das Mandat des Referendums vom 1. Oktober sowie die Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober 2017 als legitim. Auf der anderen Seite bestreitet die PSOE jede Legitimität und Gültigkeit des Referendums und der Erklärung und lehnt jede einseitige Aktion ab.

Gleichzeitig stellen sie fest, dass wichtige Vereinbarungen erzielt werden können, ohne dass die jeweiligen Standpunkte aufgegeben werden.

Angesichts der tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten über die endgültige Form der Konfliktlösung sowie des von beiden Seiten anerkannten gegenseitigen Misstrauens haben sich die PSOE und die Junts darauf geeinigt, einen internationalen Mechanismus zwischen den beiden Organisationen einzurichten, der die Aufgabe hat, den gesamten Verhandlungsprozess zu begleiten.

• Was den Bereich der nationalen Anerkennung betrifft, so wird Junts die Durchführung eines Referendums über die politische Zukunft Kataloniens gemäß Artikel 92 der Verfassung vorschlagen. Die PSOE wird sich ihrerseits für eine umfassende Weiterentwicklung des Statuts von 2006 durch geeignete rechtliche Mechanismen sowie für die volle Entfaltung und Achtung der Institutionen der Selbstverwaltung und der institutionellen, kulturellen und sprachlichen Einzigartigkeit Kataloniens einsetzen.

• Im Bereich der Defizite und Einschränkungen der Selbstverwaltung schlägt Junts eine Ausnahmeklausel für Katalonien vor, die die Einzigartigkeit des institutionellen Systems der Generalität anerkennt und die Abtretung von 100% aller in Katalonien gezahlten Steuern erleichtert. Die PSOE ihrerseits wird sich für Maßnahmen einsetzen, die die finanzielle Autonomie und den Marktzugang Kataloniens ermöglichen, sowie für einen einzigartigen Dialog über die Auswirkungen des derzeitigen Finanzierungsmodells auf Katalonien.

02

Abkommen mit Esquerra Republicana (ERC, Katalonien)

ERC garantiert der Regierung während der Legislaturperiode Stabilität. Die PSOE sichert dafür zu:

Politische Amnestie für den procés

03

Abkommen mit der PNV (Baskenland)

Ca. 30 im baskischen Statut von 1979 aufgeführte Kompetenzen, die bis heute entgegen der im Statut eingegangenen Verpflichtung nicht auf die autonome Gemeinschaft Baskenland übertragen wurden, sollen im Zeitraum von maximal zwei Jahren auf das Baskenland übergehen, darunter die Rentenauszahlung für das Baskenland und das System der Nahverkehrszüge.

Die baskische Regionalpolizei Ertzaintza soll die Kompetenz für die Zone des Hafens von Bilbao erhalten. Vertretern der baskischen Polizei wird Zugang zur europäischen Polizei-Kooperation (Europol und Interpol) gewährt.

In die spanische Delegation für Treffen auf höchstem europäischem Niveau zu bestimmten Themen, z.B. zu Steuerfragen, wird ein baskischer Vertreter aufgenommen.

Im spanischen Arbeitnehmerstatut soll der Vorrang von regionalen baskischen Tarifverträgen vor staatlichen bzw. Branchen-Tarifverträgen geregelt werden, immer unter Anwendung des Günstigkeitsprinzips.

Die baskischen Institutionen erhalten im Zeitraum von vier Jahren hundert Millionen Euro für die Anpassung der baskischen Sprache, Euskera, an die Digitalisierung.

Verhandlungen sollen geführt werden „über die nationale Anerkennung des Baskenlands, den Schutz der baskischen Kompetenzen“ und ein System von Garantien basierend auf „Bilateralität und den foralen Rechten [lokale Sonderrechte, d. Red.]“. In einer bilateralen Kommission sollen die Fortschritte in der Umsetzung der Vereinbarungen überprüft werden.

04

Abkommen für eine neue progressive Koalition PSOE – Sumar

Auf 48 Seiten werden 230 Maßnahmen entwickelt.

Hier Auszüge aus den Bereichen Arbeit, Soziales, Verkehr.

Schrittweise Verkürzung der gesetzlichen Arbeitszeit ohne Entgeltkürzung bis 2025 von 40 auf 37,5 Wochenstunden

05

PP/Vox: Kampagne gegen „illegitime“ Regierung

Die konservative Volkspartei PP und Vox führen seit Wochen auf allen Ebenen eine Kampagne gegen die geplante Amnestie mit dem Ziel, Neuwahlen zu erzwingen bzw. die Linksregierung so rasch wie möglich zu stürzen. Ein Angriff „zu Erde, zu Wasser und in der Luft“, so die PP.

Zur Einordnung des Zorns der rechten Parteien auf die Sanchez-Regierung ein Passus aus der Rede Feijóos vor dem Parlament am 26.9.23: „Die Spanier haben ihnen („den katalanischen und baskischen Nationalisten“) nur 6,5 % der Stimmen gewährt, sie haben sie nicht gewählt, um entscheidend zu sein. Für das, was sie fordern, haben sie die Spanier nicht um Zustimmung gebeten, noch haben die Spanier es ihnen gewährt. Deshalb können sie weder fordern, noch kann die PSOE erlauben, dass Bildu, Esquerra und Junts für alle Spanier entscheiden. Wir, die wir weiterhin treu zur Demokratie und zum Rechtsstaat stehen, sind unendlich mehr. Dafür haben wir gestimmt. Und für diese wirkliche Mehrheit stehe ich hier.“

Die stärkste Partei habe die Regierung zu bilden! Der Wettbewerb um die Präsidentschaft soll ausschließlich zwischen PP und PSOE entschieden werden.

In der Vergangenheit haben baskische und katalanische Nationalisten mehrmals der stärksten Partei (PSOE oder PP) bei der Wahl der Regierung zur Mehrheit im Parlament verholfen. Mit dieser „ergänzenden“ Funktion hätte die PP auch kein Problem. Dass katalanische und baskische Nationalisten mit ihren „zweitklassigen“ Stimmen aber die gegebene Ordnung stürzen und die zweitstärkste Partei wählen, und dass Sanchez sich mit deren Stimmen wählen lässt, ist für die spanischen Nationalisten ein ungeheuerlicher Vorgang. Unter anderem daher der Vorwurf der illegitimen, undemokratisch gewählten, gekauften Regierung und die Forderung nach Neuwahlen.

Feijóo spricht von Wahlbetrug, Ayuso (PP Madrid) von einer „Diktatur durch die Hintertür“, Abascal (Vox) von einem „Staatsstreich“.

Charakterisierung des Abkommens durch PP und Vox

Bisher ohne Erfolg, gestützt auf Manfred Weber (EVP-Fraktionsvorsitzender), das Europäische Parlament und die EU-Kommission gegen die Amnestie in Katalonien in Stellung zu bringen. Über konservative Richterorganisationen die Justiz, über Massendemonstrationen die Regierung unter Druck zu setzen, zu schwächen und zu stürzen.

Im Fokus jetzt die Wahl zum Europaparlament, und davor die Regionalwahlen in Galicien und im Baskenland.

Die Wahl des Hardliners Telleja zum Fraktionssprecher der PP im Parlament wird als Absicht nochmals verstärkter Konfrontation gewertet. Der Rechtsblock hat sich auf ein permanentes Nein zu allen Vorhaben der Regierung eingeschworen.