Politische Berichte Nr.06/2023 (PDF)26
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Europaparteitag: Die Linke beschließt Programm und Liste

Wolfgang Freye (Delegierter mit beratender Stimme für die ArGe konkrete Demokratie, soziale Befreiung)

Auf die Frage „Na und, wie siehst Du den Parteitag?“ hat mir ein Mitarbeiter des Karl-Liebknecht-Hauses sinngemäß geantwortet: Super, und wenn wir diese Aufbruchstimmung jetzt nach außen vermitteln, dann geht es auch aufwärts. Auf meine Bemerkung, es gäbe ja aber doch nach wie vor ziemlich grundsätzliche Gegensätze, wie die Debatte um den Angriff der Hamas auf Israel gezeigt habe, und dass wir solche Fragen klären müssten, hieß es: Als grundsätzlichen Gegensatz sehe ich das nicht an. Wichtig ist, dass wir jetzt alle Aufbruchstimmung verbreiten. Dann wird das eine „self fullfilling prophecy“ („selbsterfüllende Prophezeiung“) …

Schön wäre es, wenn es so einfach wäre. Die Umfragen weisen nach dem Augsburger Parteitag für Die Linke jedoch nicht steil nach oben und die Partei des Bündnisses Sahra Wagenknecht ist noch nicht gegründet. Diese Gründung wird sicherlich weitere Auswirkungen auf Die Linke haben, auch wenn zum Zeitpunkt des Parteitages und der Vertreter*innenversammlung vom 17. bis 19.11.2023 von 700 Eintritten seit der Pressekonferenz zum Austritt der zehn Bundestagsabgeordneten die Rede war und nach dem Parteitag mehrere hundert Leute aus der autonomen antifaschistischen Szene ihren Eintritt angekündigt haben.

Immerhin hat der Parteitag erfolgreich die Weichen für die Europawahl gestellt und mit großer Mehrheit ein Wahlprogramm beschlossen. Anschließend hat die Vertreter*innenversammlung eine Liste für die Europawahl aufgestellt, auf der 20 Kandidat*innen kandidieren. Die ersten vier Plätze, die von den Bundesvorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan vorgeschlagen und vom Bundesausschuss der Partei bestätigt worden waren, wurden so gewählt, wie vorgeschlagen: 1. Hartmut Schirdewan (MdEP, Thüringen), 2. die parteilose „Seenotretterin“ Carola Rackete, 3. Özlem Alev Demirel (MdEP, NRW), 4. den ebenfalls parteilosen Arzt und früheren Bundespräsidentenkandidat der Linken, Georg Trabert.

Damit hat Die Linke die ersten, aussichtsreichen Plätze der Liste mit jeweils deutlichen Mehrheiten mit sehr unterschiedlichen Kandidat*innen besetzt, die für verschiedene Themen und Spektren der Linken stehen und deutlich machen: Die Linke will außerparlamentarische Kräfte wieder stärker einbinden. Auf Platz 5 setzte sich in einer Kampfabstimmung Ines Schwerdtner aus Sachsen-Anhalt, Redakteurin des „Jacobin“ gegen eine der Vertreterinnen der „Bewegungslinken“ durch, die Stellv. Parteivorsitzende Daphne Weber. Auf Platz 6 Martin Günther aus dem Landesverband Brandenburg gegen Carsten Schatz, Fraktionsvorsitzender im Berliner Abgeordnetenhaus.

Inhaltlich war der Parteitag wie früher durch viele Diskussionen geprägt, die insbesondere bei der Debatte zu einem Initiativantrag zum Angriff der Hamas auf Israel von extrem gegensätzlichen Positionen gekennzeichnet war – in einem Beitrag wurde die terroristische Hamas in eine Reihe mit dem Kampf für einen palästinensischen Staat gestellt. Immerhin wurde der Kompromissantrag aus verschiedenen Initiativanträgen mit sehr großer Mehrheit beschlossen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass Die Linke für das Existenz- und Selbstverteidigungsrecht Israels eintritt, gleichzeitig aber die auch von der UN erhobene Kritik an der Schärfe der israelischen Antwort thematisiert. Es gab nur wenige Enthaltungen und Gegenstimmen.

Erfolgreiches Wirken der „Reformkräfte“

Abgesehen von dieser Debatte waren die Diskussionen auf dem Parteitag ziemlich sachlich. Das Netzwerk „Progressive Linke in und bei der Partei Die Linke“, das sich vor gut einem Jahr gebildet hat, hat dabei eine positive Rolle gespielt und kann einige Erfolge verzeichnen. Rund 40 Anträge kamen aus seinen Reihen, sie zielten auf die Verbesserungen des Europawahlprogramms und die programmatische Erneuerung der Partei. 32 Anträge wurden im Vorfeld vom Parteivorstand vollständig oder teilweise übernommen, teilweise nach zähen Verhandlungen. 2 wurden vom Parteitag mehrheitlich angenommen. Weitere 6 Anträge wurden nach Diskussion und zum Teil anderen Änderungen am Programm zurückgezogen.

Einer der wichtigsten Punkte: In den Antrag „Die Linke – eine laute Stimme für Frieden, Gerechtigkeit und Antifaschismus“, den der Parteivorstand als Dringlichkeitsantrag beschlossen hat, wurde das erste Mal eine zeitlich terminierte Aussage hineingenommen, nach der eine Programmdiskussion notwendig ist: „Angesichts der vielen Krisen und einer sich dramatisch verändernden Weltlage, der Krise des Neoliberalismus, der notwendigen Antwort auf die drohende Klimakatastrophe, neuen technologischen Revolutionen (Digitalisierung und KI) müssen wir uns politisch programmatisch weiterentwickeln. Wir haben damit bereits begonnen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung des Bundestagswahlprogramms beginnen wir einen Prozess der programmatischen Weiterentwicklung der Linken. Dieser reicht über die Bundestagswahl hinaus und soll bis spätestens 2027 abgeschlossen werden.“ Nun wird es darum gehen, diesen Prozess nach den Europawahlen auch wirklich anzuschieben und zu entwickeln.

Die meisten Anträge zum Europawahlprogramm bezogen sich auf Fragen der Außenpolitik und Demokratie. So steht nun im Europawahlprogramm, dass nicht nur die Nato aufrüstet, sondern auch Russland, China und Indien und dass der Internationale Strafgerichtshof nicht nur von den USA nicht anerkannt wird, sondern auch nicht von Russland.

Die Präambel des Wahlprogramms enthält neben der Forderung nach einem Waffenstillstand auch die nach einem Rückzug russischer Truppen und Durchsetzung der beschlossenen Sanktionen sowie dem Erhalt der territorialen Integrität der Ukraine. Die Aussage zu den bisherigen Sanktionen hat sich gegen gleich vier Anträge durchgesetzt, die die Sanktionen abschaffen oder einschränken wollten. Sie wurden im Block mit 221:131 Stimmen abgelehnt. Neu wurden ausdrücklich Sanktionen gegen den russischen Atomsektor in einer Kampfabstimmung ins Programm aufgenommen (177:130 Stimmen bei 51 Enthaltungen). Allerdings hat es auch die bei anderen beliebte Geschichte ins Europawahlprogramm geschafft, nach der die Nato-Osterweiterung ein wichtiger Grund für den russischen Angriffskrieg ist.

Ebenso durchgesetzt wurde ein Vorschlag zur UN-Reform. Die Linke fordert im Europawahlprogramm nun, dass die qualifizierte Mehrheit der Generalversammlung ein im Sicherheitsrat erhobenes Veto überstimmen kann. Das ist ein wichtiger Punkt, weil sich Die Linke damit in die Diskussion um eine Reform der UNO einschaltet und das setzt natürlich voraus, dass man die UNO als internationale Organisation akzeptiert und für wichtig hält. Auch ein positiver Bezug auf die Konferenz für die Zukunft Europas sowie die Forderungen nach Stärkung des Ausschusses der Regionen, Beitrittsperspektiven für weitere osteuropäische Staaten, die Aufwertung der Europäischen Bürgerinitiative gehen auf Anträge der Progressiven Linken zurück.

Damit hat der Parteitag die ideologisierte Debatte, ob Die Linke eine proeuropäische Kraft ist oder nicht weiter überwunden. Diese Debatte hatte die Verabschiedung des letzten Programms noch dominiert, die Signale nach außen waren extrem widersprüchlich. Von diesem Parteitag geht eher das Signal aus: Die EU gibt es einfach, ein zurück zu nationalstaatlicher Beschränkung kommt für Die Linke nicht in Frage. Stattdessen gilt es, die EU zu verändern, damit sie sozialer, demokratischer und klimaneutral wird und außenpolitisch als Friedenskraft wirkt, statt kriegerische Konflikte zu befördern. Gut so!

Abb. (PDF): Mit Blick auf dauerhaftes europapolitisches Engagement wählte der Parteitag 20 Kandidatinnen und Kandiaten (Foto die ersten vier): Martin Schirdewan | Carola Rackete | Özlem Alev Demirel-Böhlke | Gerhard Trabert | Ines Schwerdtner | Martin Günther | Desiree Becker | Alexander Kauz | Lea Reisner | Lucas Fiola | Hanna Wanke | David Stoop | Tanja Hilton | Finn Luca Frey | Johanna Brauer | Carsten Schatz| Evelyn Schötz| Reinhard Neudorfer | Marianne Esders | Christian Arnd

Abb. (PDF): https://www.die-linke.de/fileadmin/user_upload/Europawahlprogramm_2023.pdf

Kapitelüberschriften und die Hauptpunkte des Wahlprogrammes. Dazu kommen noch insgesamt fast hundert konkretisierende Unterpunkte. Das trägt der projektorientierten Arbeit des EU-Parlements Rechnung und signalisiert Möglichkeiten der Zusammenarbeit – mit Bewegungen und im Parlament.:

EINLEITUNG S. 6

Kapitel 1. Umverteilen für soziale Gerechtigkeit. S.12-36 • Umverteilen für gute Arbeit S.13 Soziale Sicherheit für alle in Europa: Umverteilen von oben nach unten S.18 • Für ein starkes europäisches Gemeinwesen: Umverteilen von privat zu öffentlich S.19 • Gute Gesundheit und Pflege S.27 • Steuern gegen Ungleichheit und für eine gute Zukunft S.31

Kapitel 2. Wirtschaft sozial und ökologisch gerecht umbauen S.37-48 • Die Industrie gerecht umbauen S.48 • Für eine sozialökologische Landwirtschaft S.43 • Digitalisierung geht gerecht S.45

Kapitel 3. Klimagerechtigkeit S.48-62 • Energie: So geht‘s gerecht S.49 • Energiewende sozial gerecht statt Energiemarkt S.49 • Wärmewende sozial gerecht S.51 • Die Zukunft ist erneuerbar S.52 • Klimagerechtigkeit weltweit S.53 • Mehr Mobilität mit weniger Verkehr S.54 • Nachhaltige Digitalisierung • S.59

Kapitel 4. Frieden und soziale Gerechtigkeit weltweit S.63-75

Kapitel 5. Mehr Demokratie, weniger Lobbyismus S.76-9

Schließlich S.96