Politische Berichte Nr.06/2023 (PDF)25
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

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„Postkolonialer Antisemitismus?“ – Plädoyer für einen verflechtenden Dialog

Eine Buchbesprechung von Michael Juretzek, Bremen

01 Abb. (PDF): (Karte) Westjordanland, Verwaltungszonen nach Osloer Vertrag 1993/1995. „Ist Israel ein Apartheidsstaat?“

Abb. (PDF): Buchcover. Micha Brumlik: Postkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger. Bestandsaufnahme einer Diskussion; 2. aktualisierte und korrigierte Auflage 2022; EUR 14,80; ISBN 978-3-96488-154-0

Der Autor: Micha Brumlik wurde 1947 als Kind jüdischer Eltern in der Schweiz geboren. Von 2000 bis 2013 war er Professor für Theorien der Bildung und Erziehung in Frankfurt a. M. Sein Buch erschien 2021.

Worum geht es? „Um die Frage, ob es zulässig ist, Israel und den Zionismus – zumal die mehr als 50 Jahre währende Besatzungsherrschaft im Westjordanland – als ‚kolonialistisch‘ zu bezeichnen, mehr noch: die Besatzungsherrschaft zur ,Apartheid‘ und damit für rassistisch zu erklären.“ (S. 8)

Alle drei Begriffe sind im „Internationalen Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft zu BDS“ (Boykott, Divestment [Investitionsentzug], Sanktionen) der BDS-Bewegung vom 9. Juli 2005 enthalten: „rassistische Diskriminierung“, „koloniale und diskriminierende Politik Israels“, „inspiriert vom Kampf der Südafrikaner gegen die Apartheid“. (http://bds-kampagne.de/der-aufruf-der-palaestinensischen-zivilgesellschaft-zu-bds-2/).

Im Mai 2019 beantwortete der Bundestag die oben gestellte Frage mit Nein und erklärte in seinem Beschluss „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ (BT-Drucksache 19/10191) die BDS-Bewegung für „antisemitisch“.

In Reaktion wandten sich 240 jüdische und israelische Wissenschaftler an die Abgeordneten: „Wir, jüdische und israelische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler … sind besorgt über den Anstieg des Antisemitismus auf der ganzen Welt, auch in Deutschland … Gleichzeitig möchten wir vor einem parallelen Trend warnen: der wachsenden Tendenz, Unterstützer der palästinensischen Menschenrechte als antisemitisch zu bezeichnen. Dieser Trend eskaliert nun auch in Deutschland … Aber BDS als solches ist nicht antisemitisch.“ (S. 23/24) Mitunterzeichnerin Eva Illouz dazu in der „Zeit“ (7.5.2020): „BDS will das Ende der Besatzung [im Westjordanland, M.J.] und das Rückkehrrecht der Palästinenser [nach Israel, M.J.] … Natürlich kann ich dem Rückkehrrecht nicht zustimmen, aber trotzdem ist diese Forderung nicht antisemitisch. Sie ist legitim, wie es auch legitim ist, ihr zu widersprechen.“ (S. 25)

Die Vorsitzende der Heinrich Böll Stiftung, Barbara Unmüßig, erklärte: „Die meisten zivilgesellschaftlichen Gruppen in Palästina haben 2005 den BDS-Aufruf unterzeichnet … Anstatt gewaltsam gegen die israelische Besatzung vorzugehen, haben sie sich für einen friedlichen und gewaltlosen Widerstand entschlossen … Wir fürchten eine Pauschalverurteilung unserer palästinensischen Partner, die nun mit Antisemiten gleichgesetzt werden … Wenn am Ende der Spielraum für den Dialog mit zivilgesellschaftlichen Gruppen in Israel, Palästina und Jordanien immer kleiner wird, erweist uns der Bundestag damit einen Bärendienst.“ (S. 23)

Brumlik dokumentiert in Kapitel 3 die Hintergründe des Rücktritts vom Direktor des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer, Mai 2019. Nach dem Angriff von Regierungschef Netanjahu auf die im Jüdischen Museum gezeigte Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ als antiisraelische Aktivität und dem Vorwurf des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, dass die „jüdische Perspektive auf Jerusalem zu kurz gekommen“ sei, entzieht der Zentralrat dem Direktor das Vertrauen. (S. 30) Im Juni 2019 erklären 45 Talmudgelehrte, u.a. aus Tel Aviv und Princeton, ihre Solidarität mit Peter Schäfer: „Wir sind zutiefst besorgt über die zunehmende Zensur der freien Meinungsäußerung und die schrumpfende Möglichkeit, die Regierungspolitik zu kritisieren oder gar in Frage zu stellen, die sich in diesen jüngsten Entwicklungen manifestieren.“ (S. 31)

Nachdem Brumlik in Kapitel 6 einen umfassenden Einblick in die verschiedenen Strömungen des Zionismus gibt, widmet er sich explizit der Frage „Ist der Zionismus ein Kolonialismus?“ (S. 117) Am Ende zitiert er die beiden israelischen Historiker Confino und Goldberg, die von der „Zwiespältigkeit des Zionismus“ sprechen: „Er war eine nationale Befreiungsbewegung, die Juden, die vor dem Antisemitismus flohen, einen sicheren Hafen bot. Er schuf einen Ort, an dem Holocaust-Überlebende ihr Leben neu und selbstbestimmt in die Hand nehmen konnten. Der Zionismus schuf aber auch einen kolonialen Siedlerstaat, in dem eine klare Hierarchie zwischen Juden und Arabern herrscht und Segregation und Diskriminierung zum Alltag gehören.“ (S. 127/128)

Abschließend plädiert Brumlik für einen fairen, vorurteilsfreien, respektvollen Dialog, ohne den es keinen dauerhaften Frieden zwischen Israel und Palästina geben wird mit einem Zitat von Michael Rothberg, Inhaber des Samuel-Goetz-Lehrstuhls für Holocaust-Studien in Los Angeles: „Selbst wenn es wünschenswert wäre – wie es manchmal scheint – , eine Mauer oder einen Cordon sanitaire zwischen verschiedenen Geschichten aufrechtzuerhalten, ist dies nicht möglich. Erinnerungen sind beweglich; Geschichten sind ineinander verwoben. Politische Konflikte zu verstehen, bedeutet also letztlich, die Verflechtung von Erinnerungen im Kraftfeld des öffentlichen Raums zu verstehen. Der einzige Weg nach vorne ist die Verflechtung.“ (S. 138)

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Abb. (PDF): (Karte) Westjordanland, Verwaltungszonen nach Osloer Vertrag 1993/1995. „Ist Israel ein Apartheidsstaat?“ „… im Februar 2002 gab Michael Benyair, von 1993 bis 1996 israelischer Generalstaatsanwalt, in einem Interview für „Le Monde“ zu Protokoll: Wenn zwei Völker weder denselben Status noch dieselben Rechte hätten, wo die Armee den Besitz des einen schütze und den des anderen zerstöre, wo ein Siedler Recht auf viel mehr Wasser habe als ein alteingesessener Einwohner, wo Segregation [Trennung, M.J.] in die Gesetze eingeschrieben sei, da gebe es keine andere Zustandsbeschreibung als Apartheid.“ (S. 149) Brumlik antwortet auf seine oben gestellte Frage: „Fasst man den Begriff Apartheid aber – wie inzwischen nur üblich, aber völkerrechtlich nicht ausgewiesen – weiter als politische, soziale und wirtschaftliche Dominanz kombiniert mit Formen der Unterdrückung, Diskriminierung und Separation, die sich auch gegen andere als ,rassisch‘ definierte Großgruppen richtet, dann kann man ihn sehr wohl auf die Zustände in der West Bank – nicht im israelischen Kernland, in den Grenzen von 1967 – anwenden.“ (S. 148)

Quelle: www.anera.org/what-are-area-a-area-b-and-area-c-in-the-west-bank/ Zone A, 18%, (mittel): Palästinensische Verwaltung und Kontrolle Zone B, 22%, (dunkel): Palästinensische Verwaltung, israelische Kontrolle Zone C, 60%, (hell): Israelische Verwaltung und Kontrolle