Politische Berichte Nr.01/2024 (PDF)08a
EU-Politik

Formelkompromiss – Beim Thema Staatsschulden setzt die EU weiter auf Floskeln statt seriöser Reform

Rüdiger Lötzer, Berlin

Am 21. Dezember letzten Jahres haben die Botschafterinnen und Botschafter der EU-Staaten eine „Reform der Haushaltsregeln“ verkündet, über die nun mit dem Europäischen Parlament verhandelt werden soll. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Spaniens, Nadia Calvino, erklärte, damit wolle die EU sich einsetzen „für ausgewogene und langfristig tragfähige öffentliche Finanzen sowie für Investitionsschutz, Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen in der gesamten EU“. Schon die wolkige Formulierung lässt ahnen, dass hier wirkliche Konflikte überdeckt wurden.

Jeder Mitgliedsstaat soll nämlich nun einen Finanzplan für vier oder fünf Jahre erstellen, mit dem öffentliche Investitionen und Reformen möglich bleiben, der aber zugleich einen „schrittweisen Schuldenabbau und ein nachhaltiges und inklusives Wachstum gewährleistet“. Wie diese Quadratur des Kreises gelingen soll, ohne dass sich die Mitgliedstaaten in Wirklichkeit auf Investitionen und Wachstum fokussieren und die Schuldenregeln lockern, bleibt ein Rätsel.

Der Europäische Gewerkschaftsbund hat deshalb zu Recht auch schon gegen die Einigungsformeln des Ratsbeschlusses protestiert und das Parlament aufgefordert, keine „Defizit-Sicherungsregeln“ zu genehmigen und die Schuldenobergrenze zu lockern.

Tatsächlich hat die EU seit dem Vertrag von Maastricht 1992 mit seinen sogenannten „Stabilitätsregeln“ (kein öffentliches Defizit von 3% oder mehr der Wirtschaftsleistung pro Jahr, keine Staatsschulden von mehr als 60% des BIP) ein Problem. So wurden diese „Schuldenregeln“ 2005 das erste Mal geändert, als ausgerechnet Deutschland, der angebliche „Zuchtmeister“ der EU in Sachen solider Haushalt, gemeinsam mit Frankreich dagegen offen verstieß. 2011, nach der weltweiten Finanzkrise, wurden die Regeln erneut verschärft – mit fürchterlichen Folgen durch die Diktate der sog. „Eurogroup“ für Griechenland und andere Mittelmeerländer.

Tatsächlich muss die Finanzarchitektur der EU gründlich reformiert werden – vermutlich mit einer oder mehreren EU-Steuern (eine europaweite Vermögenssteuer, eine Steuer auf Finanzgeschäfte oder ähnliches), EU-Schulden (die sog, „Eurobonds“) und einer Anhebung der Obergrenzen für staatliche Schulden.

Wie wirklichkeitsfremd diese Obergrenzen für viele Staaten sind, zeigt ein Blick auf die Entwicklung der „Staatsschuldenquote“ mehrerer EU-Staaten seit 2010.

Land Staatsschuldenquote in % des BIP

2010 2022

Griechenland 147,5% 178,1%

Portugal 100,2% 113,9%

Frankreich 85,3% 111,8%

Italien 119,2% 144,4%

Spanien 61,7% 111,6%

Quellen: Destatis, IWF, Statista

Für die Bundesrepublik wies der SPD-Haushaltsexperte Thorsten Rudolph darauf hin, dass Deutschland in den Jahren 2010 bis 2022 – also wesentlich unter der Regierung Merkel – seine Staatsverschuldung von 81% auf jetzt 64% verringert habe. Bis Ende 2025 solle sie weiter Richtung 60 Prozent sinken. „20 Prozent Schuldenquote entsprechen 800 Milliarden Euro. Jetzt muss man sich mal vorstellen, wir hätten 400 Milliarden Euro davon investiert.“ (ntv, 18.1.24). 400 Milliarden Euro mehr Investitionen in Schienen, Brücken, Schulen, Kitas, die allseits mit guten Gründen verlangt werden.

Wie wirklichkeitsfremd der Brüsseler Formelkompromiss ist, machte auch die FAZ in einem Artikel mit der spöttischen Überschrift „EU-Stabilitätspakt, die vierte“ deutlich. Denn die neue Richtlinie, die nun mit dem Parlament verhandelt werden soll, sieht auch weiter Geldbußen für Länder vor, die gegen die Stabilitätsregeln der EU verstoßen. Bis zu 0,05% des BIP sollen diese zahlen. Das wären für die BRD etwa 1,8 Milliarden Euro, die „alle sechs Monate bis zur Ergreifung wirksamer Maßnahmen akkumuliert“ werden sollen. Tatsächlich wurden solche Geldbußen bisher kein einziges Mal gegen ein Euro-Land verhängt.

In Wirklichkeit kommt es also auf das Ergebnis der kommenden Europawahlen an, ob sich das neue EU-Parlament dazu aufrafft, sich für eine seriöse Reform der europäischen Finanzarchitektur ins Zeug zu werfen. Mit eigenen EU-Steuern, EU-Schulden und einer Fokussierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik auf mehr Förderung von Innovationen, mehr Wachstum und eine Transformation der Wirtschaft. Immerhin war der Europäische Rat so weise, eine erste Überprüfung der neuen Richtlinie bereits für 2025 vorzusehen.

Pressemitteilung des Europäischen Rats vom 21.12.2023; ntv-Interview mit SPD-MdB Thorsten Rudolph, 18.1.24; EGB-Stellungnahme vom 17.1.24: „100 Milliarden Euro Kürzungen nächstes Jahr unter dem Austeritätsplan des Europäischen Rats“ (in Englisch); FAZ, 22.12.23