Politische Berichte Nr.01/2024 (PDF)09
Globale Debatten - UN Initiativen

Gaza: Internationaler Gerichtshof fordert von Israel Maßnahmen zur Verhinderung des Völkermords an den Bewohnern des Gaza-Streifens

Südafrika hat vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag Klage gegen Israel wegen Verstoß gegen die Völkermord-Konvention erhoben.

„Die vorliegende Klage betrifft Handlungen, die von der Regierung und dem Militär des Staates Israel gegen das palästinensische Volk, eine besondere nationale, rassische und ethnische Gruppe, nach den Anschlägen in Israel am 7.10.2023 beschlossen, geduldet, und vorgenommen wurden und werden sollen. Südafrika verurteilt unmissverständlich alle Verletzungen des Völkerrechts durch alle Parteien, einschließlich der direkten Angriffe auf israelische Zivilisten und andere Staatsangehörige sowie Geiselnahmen durch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen. Kein bewaffneter Angriff auf das Hoheitsgebiet eines Staates, wie schwerwiegend er auch sein mag – selbst ein Angriff, bei dem Gräueltaten begangen werden – kann jedoch eine mögliche Rechtfertigung sein für Verstöße gegen das Übereinkommen von 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (…) oder diese begründen.“

https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/192/192-20231228-app-01-00-en.pdf , eig. Übersetzung

01 Aus der vorläufigen Anordnung
02 Reaktionen (Zusammenstellung aus einer Vielzahl von Nachrichten, Stand 30.1.2024)

Ulli Jäckel, Hamburg

Dem Antrag Südafrikas, Israel zur sofortigen Einstellung der bewaffneten Handlungen aufzufordern, kam das Gericht nicht nach. Es nahm aber die katastrophale Lage der Bevölkerung zur Kenntnis, wie sie durch Stellungnahmen von OCHA-Generalsekretär Griffiths, der WHO, der UNWRA und des UN-Generalsekretärs geschildert wurden:

„Das Gericht ist sich des Ausmaßes der menschlichen Tragödie, die sich in der Region abspielt, voll bewusst und ist zutiefst besorgt über den anhaltenden Verlust von Menschenleben und das menschliche Leid.“

Außerdem nahm das Gericht die zahlreichen Beispiele zur Kenntnis, die die „entmenschlichende Sprache“ und den heftigen Anstieg von gegen die Palästinenser gerichteten „rassistischen Hass-Reden und Entmenschlichungen (dehumanization)“ in den Stellungnahmen von israelischen Regierungsvertretern illustrierten. Angesichts der Ankündigung von Ministerpräsident Netanyahu vom 18. Januar 2024, dass der Krieg „noch viel mehr lange Monate“ dauern werde, stellte das Gericht fest, dass den Rechten der Bevölkerung des Gazastreifens irreparabler Schaden drohen könnte, bevor es seine abschließende Entscheidung treffen könne. Ohne die Entscheidung in der Hauptsache – ob die Handlungen Israels im Gaza-Streifen den Tatbestand des Völkermords erfüllen – zu präjudizieren, erkannte der Gerichtshof einen Teil der von Südafrika vorgebrachten Argumente als plausibel an und erkannte es für notwendig, folgende vorläufige Maßnahmen anzuordnen:

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Aus der vorläufigen Anordnung:

„1 Der Staat Israel soll in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, in Bezug auf die Palästinenser in Gaza alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen, um die Begehung aller Handlungen zu verhindern, die in den Anwendungsbereich von Artikel II dieser Konvention fallen, insbesondere:

a die Tötung von Mitgliedern der Gruppe;

b die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden bei Mitgliedern der Gruppe;

c die vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; und

d die Verhängung von Maßnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb der Gruppe zu verhindern;

2 Der Staat Israel stellt mit sofortiger Wirkung sicher, dass sein Militär keine der in Punkt 1 beschriebenen Handlungen begeht;

3 Der Staat Israel trifft alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen, um die direkte und öffentliche Aufstachelung zum Völkermord an den Mitgliedern der palästinensischen Gruppe im Gaza-Streifen zu verhindern und zu bestrafen;

4 Der Staat Israel ergreift sofortige und wirksame Maßnahmen zur Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Hilfe, um die widrigen Lebensbedingungen der Palästinenser im Gaza-Streifen zu verbessern;

5 Der Staat Israel ergreift wirksame Maßnahmen, um die Zerstörung und die Sicherung von Beweisen zu verhindern im Zusammenhang mit Anschuldigungen von Handlungen, die in den Anwendungsbereich von Artikel II und Artikel III der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes an Mitgliedern der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen fallen;

6 Der Staat Israel legt dem Gerichtshof einen Bericht über alle Maßnahmen vor, die zur Durchführung dieses Beschlusses ergriffen wurden, innerhalb eines Monats nach dem Datum dieses Beschlusses vor.“

https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/192/192-20240126-ord-01-00-en.pdf , eigene Übersetzung.

Die Anordnungen 1, 2, 5 und 6 wurden mit 15 zu 2 Richterstimmen beschlossen, die Punkte 3 und 4 mit 16 zu 1 Stimmen. Die Richterin Sebutinde (Uganda) stimmte in allen Fällen dagegen, der israelische Richter Barak in allen außer (3 und 4)

02

Reaktionen

(Zusammenstellung aus einer Vielzahl von Nachrichten, Stand 30.1.2024)

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte in seiner Antwort, sein Land sei der Einhaltung des Völkerrechts und der Verteidigung seines Volkes verpflichtet. „Der schändliche Versuch, Israel dieses Grundrecht [auf Selbstverteidigung] abzusprechen, ist eine eklatante Diskriminierung des jüdischen Staates und wurde zu Recht zurückgewiesen“, sagte er in einer Erklärung. „Der gegen Israel erhobene Vorwurf des Völkermordes ist nicht nur falsch, sondern ungeheuerlich, und anständige Menschen überall sollten ihn zurückweisen.“

Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant, der vom Präsidenten des Gerichtshofs zitiert wurde, weil er Palästinenser zu Beginn der israelischen Offensive als „menschliche Tiere“ bezeichnet hatte, sagte: „Der Internationale Gerichtshof ist über das Ziel hinausgeschossen, als er dem antisemitischen Antrag Südafrikas stattgab, den Vorwurf des Völkermordes in Gaza zu diskutieren, und sich nun weigert, den Antrag rundheraus abzulehnen.“

Der im Westjordanland ansässige palästinensische Außenminister Riyad al-Maliki sagte, dass der Beschluss des IGH „eine wichtige Erinnerung daran sei, dass kein Staat über dem Gesetz steht“ und fügte hinzu, dass das Urteil „als Weckruf für Israel und die Akteure dienen sollte, die seine langanhaltende Straflosigkeit ermöglicht haben“.

Das südafrikanische Außenministerium sieht darin „einen entscheidenden Sieg für die internationale Rechtsstaatlichkeit“ sowie „einen bedeutenden Meilenstein bei der Suche nach Gerechtigkeit für das palästinensische Volk“. Außenministerin Naledi Pandor sagte: „Wie soll die Versorgung mit Wasser und Hilfe gewährleistet werden ohne Waffenstillstand? Wenn man den Beschluss liest, impliziert er die Notwendigkeit eines Waffenstillstandes.“

Uganda hat sich von der Stellungnahme der ugandischen Richterin Sebutinde am Internationalen Gerichtshof (IGH) distanziert, die sich gegen das Urteil des Gremiums in der Völkermordklage Südafrikas gegen Israel ausgesprochen hat. „Die von Richterin Sebutinde vertretene Position ist ihre eigene individuelle und unabhängige Meinung und spiegelt in keiner Weise die Position der Regierung der Republik Uganda wider“. Das ostafrikanische Land unterstütze die Position der Bewegung der Blockfreien Staaten (NAM), die auf dem Gipfeltreffen in der ugandischen Hauptstadt in diesem Monat verabschiedet worden sei. Diese verurteilte Israels Krieg in Gaza und die Tötung von Zivilisten. Sie forderte außerdem einen sofortigen Waffenstillstand und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe.

Die UNO-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, hat dem Internationalen Gerichtshof Doppelmoral vorgeworfen. Es sei eine riesige Enttäuschung, dass der Gerichtshof nicht den sofortigen Stopp des israelischen Militäreinsatzes im Gazastreifen angeordnet habe, sagte Albanese im Deutschlandfunk. Russland sei dagegen bei seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine aufgefordert worden, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen.

Die Bundesregierung hatte – wie die USA, Großbritannien und Kanada – in einer Erklärung ihre Unterstützung für Israel bekundet: „Die Konvention ist ein zentrales Instrument des Völkerrechts, um das ‚nie wieder‘ umzusetzen. Einer politischen Instrumentalisierung treten wir entschieden entgegen. Wir wissen, dass verschiedene Länder die Operation Israels im Gazastreifen unterschiedlich bewerten. Den nun vor dem Internationalen Gerichtshof erhobenen Vorwurf des Völkermords weist die Bundesregierung entschieden zurück. Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage.“ Regierungssprecher Hebestreit sagte: „Die Bundesregierung intendiert, in der Hauptverhandlung als Drittpartei zu intervenieren.“ Auch Österreich, die Tschechische Republik und Frankreich hatten im Anschluss an die zweitägige erste Anhörung die Forderungen Südafrikas zurückgewiesen. Die EU hatte einen Kommentar zu der Klage abgelehnt, weil es unter den Mitgliedsstaaten dazu keine gemeinsame Position gibt.

Die deutsche Stellungnahme rief eine empörte Reaktion des Präsidenten von Namibia hervor: „Die deutsche Regierung hat den Völkermord, den sie auf namibischem Boden begangen hat, noch nicht vollständig wiedergutgemacht. In Anbetracht der Unfähigkeit Deutschlands, die Lehren aus seiner grausamen Geschichte zu ziehen, bringt Präsident Geingob seine tiefe Besorgnis über die schockierende Entscheidung zum Ausdruck, (…) in der sie die moralisch gerechtfertigte Anklage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof, dass Israel Völkermord an den Palästinensern in Gaza begeht, zurückweist. (…) Präsident Geingob wiederholte seinen Aufruf vom 31. Dezember 2023: ‚Kein friedliebender Mensch kann das Gemetzel an den Palästinensern in Gaza ignorieren.‘ In diesem Sinne appelliert Präsident Geingob an die deutsche Regierung, ihre unzeitgemäße Entscheidung zu überdenken, als Drittpartei zur Verteidigung und Unterstützung der völkermörderischen Handlungen Israels vor dem Internationalen Gerichtshof zu intervenieren.“

Mit seiner Entscheidung hat der IGH sowohl dem Vorwurf der Bundesregierung an Südafrika, die Genozid-Konvention politisch zu instrumentalisieren, als auch der Bewertung, dass der Vorwurf jeder Grundlage entbehre, eine klare Absage erteilt.

Die Europäische Kommission und der EU-Chefdiplomat Josep Borrell bekräftigten in einer gemeinsamen Erklärung die Unterstützung der EU für den IGH: „Die Beschlüsse des Internationalen Gerichtshofs sind für die Parteien verbindlich, und sie müssen ihnen nachkommen. Die Europäische Union erwartet, dass sie vollständig, unverzüglich und wirksam umgesetzt werden.“ „Das Recht jeder Partei, Argumente in Bezug auf die Rechtsprechung, die Zulässigkeit oder die Begründetheit vorzubringen, bleibt von der heutigen Entscheidung über den Antrag Südafrikas auf Erlass vorläufiger Maßnahmen unberührt“, hieß es in der Erklärung. Irland und Belgien erklärten, sie würden die Entscheidung des IGH vom Freitag unterstützen.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock erklärte: „Der Internationale Gerichtshof hat nicht in der Hauptsache entschieden, sondern im einstweiligen Rechtschutzverfahren vorläufige Maßnahmen angeordnet. Diese sind völkerrechtlich verbindlich. Aber auch daran muss sich Israel halten.“ Zudem habe der IGH daran erinnert, dass „auch Hamas an das humanitäre Völkerrecht gebunden ist und endlich alle Geiseln freilassen muss. Das werden wir mit aller Kraft unterstützen, ebenso die angeordnete Maßnahme an Israel, dringend mehr humanitäre Hilfe nach Gaza zu lassen.“

Der Zentralrat der Juden in Deutschland kritisiert: „Die Zurückweisung der extremen Forderung Südafrikas nach einem israelischen Waffenstillstand im Krieg gegen die Hamas in Gaza nimmt die J7 (Initiative von sieben großen jüdischen Diaspora-Gemeinden, d. Rd.) zwar zur Kenntnis, mit der einstweiligen Anordnung des Gerichts, Israel habe sicherzustellen, dass kein Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung begangen wird, verleiht der IGH der absurden Anschuldigung Südafrikas aber ein in keiner Weise zu rechtfertigendes Gewicht. Der Gerichtshof macht sich damit unweigerlich zum Gehilfen einer moralisch obszönen Anti-Israel-Kampagne, die neben Südafrika auch von dem iranischen Regime betrieben wird. Die israelische Armee ist in hohem Maße bemüht, zivile unschuldige Opfer zu vermeiden, die von der Hamas nicht nur billigend in Kauf genommen werden, sondern Teil ihrer mörderischen Strategie zum in ihrer Charta verbrieften Ziel der Auslöschung des jüdischen Volkes sind. Angemessen wäre die Annahme des Antrags Israels auf Zurückweisung der gesamten Klage Südafrikas gewesen, über die nun aber noch in einem langwierigen Verfahren entschieden werden wird. Der Völkermord-Vorwurf wird dadurch schamlos politisiert und Opfer tatsächlicher Genozide verhöhnt. Der Zentralrat und die J7-Partner unterstützen hingegen die Forderung des Gerichts nach der Freilassung der von der Hamas in den Gaza-Streifen verschleppten Geiseln. Darüber hinaus gilt der Dank der J7 den Verbündeten Israels wie Deutschland, den USA, Großbritannien, Italien, Guatemala, Österreich und anderen, die vor dem Internationalen Gerichtshof sich gegen die Anschuldigungen Südafrikas gestellt haben.“

Der Westen isoliert sich vom Rest der Welt. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat Israel nicht des Völkermords beschuldigt und ist auch Südafrikas Eilantrag, Israel zu einem sofortigen Stopp der Kämpfe zu verpflichten, nicht gefolgt. Dennoch sei die Entscheidung des IGH, Israel zu einem besseren Schutz der Palästinenser aufzufordern, „ein hartes Urteil“ für das Land, schreibt der Zeit-Autor Martin Klingst. Denn 15 von 17 Richterinnen und Richtern hielten es für plausibel, dass der Krieg gegen die Hamas in einen Völkermord münden könnte. Das zeige, dass sich die israelische Regierung – und ihre vornehmlich westlichen Unterstützerländer – mit dem Narrativ eines reinen Verteidigungskampfes gegen die Hamas zunehmend isolierten. Und so sei der Prozess vor dem IGH auch ohne Beschuldigung des Völkermords ein Zeichen des Konflikts zwischen dem Globalen Süden und jenen Staaten, „die einst die Menschenrechtskonventionen und Weltgerichte geschaffen haben, sich aber selbst nur halbwegs daran gebunden fühlen.“

Der Ägypter Mohammed El Baradei, ehemaliger Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde, schreibt: „Der Gaza-Krieg entlarvt die regelbasierte internationale Ordnung als Farce. Zwischen dem Westen und der muslimischen Welt zeichnet sich ein Bruch ab.

Viele, wenn nicht sogar alle Pfeiler der internationalen Ordnung der Nachkriegszeit scheinen zu bröckeln. (…) Ein besonders schwerer Schlag für das System ist jedoch der anhaltende Krieg zwischen Israel und der Hamas. Die gravierenden Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung sind kaum zu fassen. (…) Darüber hinaus hat die arabische bzw. muslimische Welt das Vertrauen in vermeintlich westliche Normen wie Völkerrecht und internationale Institutionen, Menschenrechte und demokratische Werte verloren. Ihrer Ansicht nach macht der Westen selbst vor, dass rohe Gewalt über allem steht. Natürlich ist die wachsende Überzeugung, dass es sich bei Demokratie und Menschenrechten – den liberalen Werten, die einst den Arabischen Frühling inspirierten – lediglich um Werkzeuge westlicher Vorherrschaft handelt, Musik in den Ohren von Autokraten und Despoten.“

Abb. (PDF): Emblem des Internationalen Gerichtshofs