Politische Berichte Nr.01/2024 (PDF)28
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

Bundesweite Gedenkdemonstration in Hanau

Die Initiative 19. Februar, in der sich Hinterbliebene des rassistischen Terroranschlags von Hanau vom 19. Februar 2020 sowie Überlebende und Unterstützer:innen engagieren, ruft anlässlich des vierten Jahrestages des Anschlags zu einer bundesweiten Gedenkdemonstration nach Hanau am 17. Februar auf.1 Bei der Aktion wird es auch um die Bewertung des Abschlussberichtes des Untersuchungsausschusses gehen, den die alte Landesregierung erst nach den Landtagswahlen veröffentlicht hatte.2

Olaf Argens, Schmitten

Am 19. Februar 2020 erschoss der 43-jährige Tobias R. an mehreren Orten in Hanau innerhalb von sechs Minuten neun Frauen und Männer: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Sechs weitere Menschen wurden verletzt – teils schwer. Anschließend kehrte Tobias R. in sein Elternhaus zurück. Dort tötete er seine Mutter und sich selbst. Tobias R. hatte vor seiner Tat Pamphlete und Videos ins Netz gestellt, in denen er sich antisemitisch und verächtlich über muslimische Menschen äußerte. Verstärkt durch eine paranoide Schizophrenie verinnerlichte er Verschwörungserzählungen, hing einer rechtsextremen Ideologie an, wählte seine Opfer nach rassistischen Kriterien aus und orientierte sich an früheren rechtsextremen Anschlägen.3

Die Initiative 19. Februar hatte auf einer Webseite, die sich mit den Ergebnissen und dem Verlauf des Untersuchungsausschusses auseinandersetzt, festgestellt: „Der parlamentarische Untersuchungsausschuss … kam nur durch den öffentlichen Druck der Angehörigen zustande … Zentrale Versagenspunkte wurden bestätigt, viele offene Fragen blieben unbeantwortet. Niemand hat die politische Verantwortung übernommen. Es gab keine Konsequenzen. Also: Kein Abschlussbericht! Wir werden weiter keine Ruhe geben. Weil Erinnern Verändern heißt.“4

In der Landtagsdebatte stellte die damalige Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Lise Kula, fest, dass der Abschlussbericht hinter die Aufklärungsarbeit des Ausschusses zurückfällt. Sie bezieht sich auf das Sondervotum2 der Fraktion der Linken, in dem vier Gesichtspunkte besonders herausgestellt werden:

– Es lag ein systematisches Organisationsversagen der Polizei vor. So war beispielsweise weder bei den in der Tatnacht am Hanauer Notruf eingesetzten Polizisten noch deren Vorgesetzten bekannt, dass der Notruf keine Weiterleitung besaß. Dazu gab es weder eine polizeiinterne Aufarbeitung noch hat jemand dafür politische Verantwortung übernommen.

– Die Verantwortung für den verschlossenen Notausgang in der Arena Bar wurde weder aufgearbeitet noch geklärt. Eine mögliche Flucht der Opfer war unmöglich.

– Das Vorgehen der Waffenbehörde Main-Kinzig war fahrlässig und kann nicht nur durch Schutzlücken im Waffenrecht erklärt werden. Der Abschlussbericht unterschlägt z. B., dass es Hinweise auf die Gefährlichkeit von Tobias R. gab.

– Die hessischen Behörden haben im Umgang mit den Überlebenden und der Angehörigen der Opfer grob versagt. Die Vorgaben der europäischen Opferschutzrichtlinie wurden missachtet. Die Richtlinie will sicherstellen, dass die Grundrechte, die Interessen und die Bedürfnisse der unmittelbaren Opfer und ihrer Angehörigen gewahrt werden und ihnen Anerkennung und Respekt entgegengebracht wird.

Im Sondervotum werden dann u. a. folgende Konsequenzen gefordert:

– Beachtung und Weiterentwicklung des bestehenden Opferschutzes,

– Schaffung einer unabhängigen Beschwerde- und Ermittlungsstelle, die mit effektiven Kompetenzen ausgestattet ist,

– Einschränkung der Verfügbarkeit tödlicher Schusswaffen,

– Stärkung der wehrhaften Zivilgesellschaft und antirassistische Bildungsarbeit.

Etris Hashemi, Überlebender und Bruder des ermordeten Said Nesar Hashemi, im Untersuchungsausschuss am 17.12.2021. Die beiden jungen Polizisten waren vollkommen überfordert, der eine hat mich nach meinem Personalausweis gefragt, der andere meinte, er hätte sowas noch nie erlebt. Ich hab’ dann beide beruhigt und ihnen gesagt sie sollen meine Wunde zuhalten. Ich habe ihnen meinen Ausweis gegeben, habe mich bei Vilis Auto angelehnt und gewartet. Ich habe die Polizei gefragt, warum kein Rettungswagen kommt, einer meinte, wenn geschossen wird, kommt in Deutschland erst mal die Polizei.

Filip Goman, Vater von Mercedes Kierpacz in „Kette des Versagens“:Ich sehe wie die von hinten kommen, mit vielen, in voller Montur. Ich sage zu den Kindern, keine falsche Bewegung, weil die knallen uns alle ab hier und sagen dann, dass es Notwehr ist. Die stehen mit Waffen auf uns gerichtet an allen Türen und sagen: langsam aussteigen! Hände auf die Lenkung! Hände zeigen! Langsam aussteigen! Dann mussten wir die Hände auf das Autodach legen und sie haben noch immer die Waffen auf uns gerichtet. Ich sage: bitte, ich bin der Vater von Mercedes Kierpacz. Die hören mir nicht zu. Die anderen Polizisten waren vorne vor der Arena Bar weiterhin. Ich rufe „bitte, Herr Wachtmeister“ zu dem Polizisten, der mir vorher geholfen hat. „Hände runter!“ schreit mich einer an. Bitte, ich bin der Vater von Mercedes. Dann kommt der Polizist rüber und sagt zu dem von der Sondereinheit: das sind die Angehörigen. Der nimmt immer noch die Waffe nicht runter. Und irgendwann sagt der endlich zu seiner Truppe „Falscher Alarm!“ …

Vaska Zlateva, Cousine von Kaloyan Velkov, im Untersuchungsausschuss am 3.12.2021. Warum hat uns niemand geholfen? Warum wurden wir Tage lang nicht informiert? Ich hatte gehofft, dass jemand kommt und nach uns sieht. Aber niemand ist gekommen.

Professor Dr. Tobias Singelnstein am 5. Mai 2023 im Untersuchungsausschuss. „…Die bisherige Arbeit des Ausschusses hat gezeigt, dass der polizeiliche Einsatz so, wie er abgelaufen ist, in verschiedener Hinsicht zu Recht kritisiert wird. Das kann auf ganz unterschiedliche Aspekte zurückgeführt werden, einerseits auf ein individuelles Fehlverhalten, andererseits auf problematische Strukturen. (…) Gleichwohl ist es wichtig, im Nachhinein zu schauen: Was liegt an den besonderen Umständen, und wo ist aber doch individuelles Fehlverhalten oder wo sind strukturelle Probleme zu erkennen? Wenn man sich anschaut, was der Ausschuss bisher erarbeitet hat, was in der öffentlichen Debatte bekannt geworden ist, sind aus meiner Sicht drei Themen besonders relevant, die ich gerne näher ausführen möchte. Das sind erstens Herausforderungen für die Polizeiarbeit in der postmigrantischen Gesellschaft. Das ist zweitens die Frage der Versorgung der Verletzten und der Angehörigen, der Umgang mit ihnen und drittens die Frage der Fehlerkultur in der Polizei.“41 https://19feb-hanau.org/2024/01/07/jahrestag-2024 2 https://starweb.hessen.de/cache/DRS/20/4/11754.pdf 3 https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/505333/19-februar-2020-anschlag-in-hanau/ 4 https://kein-abschlussbericht.org