Politische Berichte Nr.02/2024 (PDF)18
Gewerkschaften/Soziale Bewegung

Gelsenkirchen-Schalke

Ehrenreich, TRW, ZF: Ein langer Kampf

Robert Sadowsky, Gelsenkirchen

Als 2015 TRW-Automotive an den Automobilzulieferer ZF verkauft wurde, glaubten viele Betroffene, mit dieser Übernahme durch ein Stiftungsunternehmen sei die Zeit des brutalen Shareholder-Value-Kapitalismus endlich vorbei. Besonders die Beschäftigten des Gelsenkirchener Werkes, in dem Lenkungen für verschiedene Automobilhersteller produziert werden, konnten auf eine ebenso lange wie üble Geschichte von Personalabbau, Entlassungen, Verlagerungen in Billiglohnländer und Schließungsdrohungen zurückblicken.

1968 errichtete die Firma Ehrenreich in Gelsenkirchen-Schalke ein neues Werk, das schließlich deutlich über 1 000 Beschäftigte hatte. Im Jahr 1971 wurde TRW der neue Besitzer. Die Form des Umgangs mit den Beschäftigten wurde zusehends brutaler. Die Gewinnerwartungen kletterten in ebenso schwindelnde Höhen, wie der Leistungsdruck, der auf den Kolleginnen und Kollegen lastete. „Ballerbude“ nannten sie diese Bereiche treffend. Und wenn die Profite nicht den Erwartungen entsprachen, wurde mit Schließung und Verlagerung gedroht. Um das zu verhindern, wurden Tarifverträge zur Standortsicherung abgeschlossen, die den Kolleginnen und Kollegen jedoch erhebliche Einkommenseinbußen abverlangten. Ein Kollege damals: „In den letzten fünf Jahren hab‘ ich TRW einen Kleinwagen geschenkt.“

Während dieser Verhandlungen ging es keineswegs ruhig und friedlich zu. Begleitend wurden von Betriebsräten und IG Metall Mahnwachen, Demonstrationen, mehrtägige Betriebsversammlungen und auch Warnstreiks durchgeführt. Die Belegschaft wurde immer zeitnah und auf allen Schichten (Früh-, Spät-, Nacht-) ausführlich über den Stand der Verhandlungen informiert. In Mitgliederversammlungen der IG Metall wurde über das weitere Vorgehen gestritten und abgestimmt. Das führte dazu, dass die Bedrohung durch den TRW-Vorstand, „alles, was keine 25 % Rendite abwirft, wird geschlossen“, als Kampfansage angenommen wurde. Und die Entschlossenheit zum Widerstand stieg. Heute ist das ehemalige TRW-Werk in Gelsenkirchen der gewerkschaftlich bestorganisierte Betrieb im ZF-Konzern.

Die Hoffnung, mit der Übernahme durch ZF sei es vorbei mit den wiederkehrenden Schließungsdrohungen, erfüllte sich nicht. ZF zahlte 13,3 Milliarden US-Dollar für TRW, insbesondere, um bestimmte Technologien, die bei TRW weiterentwickelt waren (z.B. „Autonomes Fahren“), zu erwerben. Und dann dauerte es nicht lange, bis auch ZF – dem Gemeinwohl verpflichtetes Stiftungsunternehmen hin oder her – sein rücksichtsloses und profitgieriges Kapitalistengesicht zeigte. Bereits 2018 sollte zunächst der durchaus gewinnbringende Standort in Gelsenkirchen geschlossen werden und Produktion in Billiglohnländer verlagert werden.

Das kannte man im ZF-Konzern so bisher nicht. Es war klar: Der mit damals noch ca. 600 Beschäftigten relativ kleine Standort in Gelsenkirchen „gehört ja sowieso nicht richtig zur ZF-Familie“, da wollte man den Versuch starten. Teile und herrsche. Die Belegschaften der anderen – weit größeren – Standorte sollten sich daran gewöhnen, dass ZF immer mehr zu einem „richtigen“ kapitalistischen Unternehmen wird. Ohne sozialen Klimbim. Der Konzern sollte umstrukturiert werden und noch profitabler werden, damit auch der TRW-Kaufpreis möglichst schnell wieder hereingeholt werden könnte.

Beeindruckende Solidarität

Da jedoch hatte die Konzernführung die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Wirt war in diesem Fall Betriebsräte, Belegschaften und IG Metall der anderen ZF-Standorte. Die verstanden sehr wohl: Wenn sie dem nichts entgegensetzen, trifft es bald die nächsten Standorte. Ein beeindruckendes Beispiel der Solidarität: Mit Bussen reisten Hunderte von Kolleginnen und Kollegen über weite Strecken (z.B. Friedrichshafen) nach Gelsenkirchen, um dort an den mehrtägigen Betriebsversammlungen teilzunehmen und gegen die Schließungspläne zu protestieren.

Mit diesem entschlossenen und solidarischen Widerstand hatte die ZF-Konzernleitung nicht gerechnet. So wurden Verhandlungen über einen langfristig wirkenden Tarifvertrag zur Standortsicherung möglich. Das Ergebnis war dann nicht nur erfreulich. Der Standort wurde dadurch gefestigt, dass es zusätzlich zur Produktion künftig einen Entwicklungsbereich (Tech-Center) geben soll. Hier würde Personal aufgebaut und neu eingestellt. Für diese Aufgaben und auch für die künftige Produktion gab es Absprachen zwischen den Beschäftigten-Vertretern aller ZF-Standorte. Dass solche Pläne gemeinsam erarbeitet wurden und dem Unternehmen vorgelegt werden konnten, ist ein weiteres Beispiel beeindruckender Solidarität.

Die Laufzeit des Tarifvertrages ging bis Ende 2023. Darin ist festgeschrieben, dass auch über diesen Zeitpunkt hinaus der Standort Gelsenkirchen zu sichern ist und entsprechende Produktions- und Entwicklungsaufträge dorthin gelangen.

Soweit das Positive.

Personalabbau trotz hoher Gewinne

Es gab aber gleichzeitig einen weiteren 50%-igen Personalabbau im gewerblichen Bereich um 240 Beschäftigte. Dazu kamen Abfindungen und eine Beschäftigungsgesellschaft zum Einsatz. Für die Verbliebenen gab es empfindliche Einkommensverluste (keine ZF-Erfolgsbeteiligung, 2,5% Entgeltminderung, keine Zahlung des tariflichen-Zusatzgeldes).

Die vereinbarte Errichtung des Tech-Centers wurde dann eher zögerlich umgesetzt und sinnvolle Verlagerungen von Test- und Entwicklungsaufgaben aus dem überlasteten Entwicklungszentrum in Düsseldorf unterblieben.

Wie man mittlerweile erfahren konnte, war schon im Mai 2023 für die Konzernleitung klar: Ab Mitte 2024 soll es für die Produktion in Gelsenkirchen keine neuen Aufträge mehr geben. Diese Information hielt man gegenüber Belegschaft, Betriebsrat, Aufsichtsrat und IG Metall lange zurück. Mitte November 2023 hieß es dann: Die Produktion am Standort Schalke wird geschlossen! Weitere 200 Kolleginnen und Kollegen sollen ihren Arbeitsplatz verlieren!

Egal, dass der Standort Gewinne erwirtschaftet: Ein hoher Jahresverlust wird mit fadenscheinigen Argumenten behauptet.

Egal, dass ein Tarifvertrag zum dauerhaften Erhalt des Standortes verpflichtet. Denn was interessiert Vertrag und Geschwätz von gestern, wenn die Belegschaft ja brav ihren Beitrag zum Vertrag erbracht hat.

Egal, was Betriebsrat und IG Metall – in Absprache mit den anderen ZF-Standorten – für Vorschläge zur Weiterführung der Produktion machen, die will der ZF-Vorstand gar nicht hören, schließlich hat man ja schon seit Monaten die Schließung beabsichtigt. Sonst hätte man sich ja damals schon damit beschäftigen müssen. Wie lästig ist doch ein aktiver Betriebsrat!

Nicht egal, aber interessant ist, welchen Zeitpunkt ZF gewählt hat, um die Schließung zu verkünden. Man hatte wohl die Hoffnung, dass kurz vor den Festtagen keine Mobilisierung der Belegschaften möglich sei und im neuen Jahr die Wut verraucht ist und Verzweiflung einsetzt.

Jedoch: Weit gefehlt! Die Belegschaft in Gelsenkirchen-Schalke zeigt zum wiederholten Mal Kampfbereitschaft. Demonstrationen, lange Betriebsversammlungen – auch als Besuch bei anderen Betrieben – das war 2023 nur der erste Schritt. Und wieder gabs solidarische Unterstützung aus allen (!) anderen ZF-Standorten. Diesmal fuhren hunderte Schalker mit Bussen ins weit entfernte Friedrichshafen zur ZF-Zentrale. Dort demonstrierten dann am 17. Januar 2024 Tausende von ZF-Kolleginnen und Kollegen für den Erhalt aller Standorte.

Zwischenzeitlich war bekannt geworden, wie weit die Pläne zur Umgestaltung des Konzerns gehen: In Deutschland sollen mehr als 12500 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verlieren! (Nach verlässlichen Quellen sogar bis zu ca. 15 000 Menschen.)

Der Konzern will möglichst schnell die Gespräche über Alternativen beenden und über Abfindungen im Rahmen eines Sozialplans verhandeln.

Das ist für die Schalker keine Option. Auch, weil Gelsenkirchen die Stadt mit der höchsten Arbeitslosigkeit der Republik ist (offizielle Arbeitslosenquote im Februar 2024 15%, Unterbeschäftigung 18,9%).

Der Konflikt spitzt sich zu

Da auf die Vorschläge des Betriebsrats nur mit einem lapidaren „zu teuer!“ reagiert wurde, ist eine neue „alte“ Waffe der Arbeiterbewegung ins Spiel gekommen:

Die IG Metall hat im Februar 2024 den ZF-Vorstand aufgefordert, einen Zukunfts-Tarifvertrag zu verhandeln. Sollte der Vorstand dazu nicht bereit sein oder die Verhandlungen scheitern, wird ein Sozialtarifvertrag gefordert.

Der Hintergrund dieser Vorgehensweise: Nach den „normalen“ betriebsverfassungsrechtlichen Bestimmungen muss vor Entlassungen ein Interessenausgleich und Sozialplan verhandelt und abgeschlossen werden. Der „Interessenausgleich“ trägt diesen Namen zu Unrecht. Denn in Deutschland gibt es keine Mitbestimmung des Betriebsrats in wirtschaftlichen Fragen. Die Demokratie endet an den Werkstoren. Noch ist die Wirtschaftsdemokratie ein gewerkschaftliches Ziel auf dem Weg zum Sozialismus. Also entscheidet der Kapitalist in wirtschaftlichen Fragen allein. Im Streitfall gibt‘s auch keinen Auflösungsmechanismus.

Etwas anders ist es bei den sozialen Folgen der kapitalistischen Alleinentscheidung: da gibt es dann den Sozialplan, in dem z.B. steht, wie hoch Abfindungen sind. Und wenn da Betriebsrat und Unternehmer nicht einig werden, entscheidet eine Einigungsstelle, der meist ein Arbeitsrichter vorsitzt. Mit dieser Entscheidung ändert sich an den geplanten Entlassungen nichts. Und in einer Stadt wie Gelsenkirchen wird überdeutlich, wie zynisch der Spruch vom „sozialverträglichen Personalabbau“ tatsächlich ist.

Anders bei den tariflichen Instrumenten: Auch ein Zukunftstarifvertrag ist nicht erzwingbar. Für seine Inhalte darf nach herrschendem Arbeitsrecht nicht gestreikt werden. Aber die Verhandlungen können begleitet werden durch den Kampf für einen Sozialtarifvertrag. Auch unabhängig von eventuellen Verhandlungen oder Abschluss eines Sozialplans. Für einen Sozialtarifvertrag können Forderungen aufgestellt und vereinbart werden, die weit über das hinausgehen, was in einem herkömmlichen Sozialplan zu erwarten wäre. Und vor allem: Es besteht Arbeitskampffreiheit.

Das hat der ZF-Vorstand verstanden. Weil sie den Arbeitskampf vermeiden wollen, haben sie angekündigt, noch einmal über den möglichen Fortbestand des Werkes nachzudenken. Sie hatten eine Bedenkzeit bis zum 11. März 2024. IG Metall und Betriebsrat warteten. Es kam: Nichts.

Nun werden die Verhandlungen über einen Sozialtarifvertrag die passende Begleitmusik erhalten. Und das wird schnell gehen müssen, weil gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen auf zwei Arten Wirkung zeigen können:

• Sie bauen wirtschaftlichen Druck auf, indem die laufende Produktion unterbrochen wird. Das funktioniert, wenn die Anlagen ausgelastet sind. Bei einer Unterauslastung würde sich sonst das Unternehmen freuen, dass die IG Metall ihm die Lohnkosten abnimmt.

• Sie bauen politischen Druck in der Öffentlichkeit auf. Üblicherweise sind Unternehmen an einem „guten Ruf“ interessiert. Und dass ZF Vertragsbruch begangen hat, ist mehr als deutlich.

Diese beiden Druckmittel werden nun eingesetzt. Das Ergebnis des Arbeitskampfs ist offen. Aber eines ist klar: An Kampfbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen wird es nicht mangeln.

Und jetzt?

Kurz nachdem dieser Artikel geschrieben war, geschah Folgendes:

Die Belegschaft trat in allen drei Schichten für je drei Stunden in einen Warnstreik, und die IG Metall bereitete die Urabstimmung zum unbefristeten Streik vor.

Das hatte Auswirkungen: Wegen fehlender Teile aus Schalke stand bei Automobilherstellern das Band still. (Das ist die Folge von „just in time“-Lieferungen.)

Darauf bat ZF um schnelle Verhandlungen zum Sozialtarifvertrag. In erstaunlicher Geschwindigkeit bewegten sie sich auf die Forderungen der IG Metall zu. Heraus kam dann ein teures Ergebnis für die Kapitalseite. Es beinhaltet Elemente, wie Abfindungen usw., die in vielen Sozialplänen vorkommen. Sie sind in diesem Sozialtarifvertrag aber deutlich besser ausgestattet. Zusätzlich gibts einen „Schalke-Bonus“, mit dem die Arbeitsmarktsituation in der Region berücksichtigt wird und einen Bonus für die Mitglieder der IG Metall.

Fast einstimmig votierten die IG Metall Mitglieder für die Annahme dieses Ergebnisses.

Ein Kollege: „Wir wollten den Erhalt des Standortes. Das haben wir nicht geschafft. Wir haben für etwas gestreikt, was wir eigentlich gar nicht wollten. Aber wir haben nun eine gute Sicherung für unserer Kolleginnen und Kollegen, die wir ohne unsere Kampfbereitschaft und Solidarität nie erreicht hätten.“

Abb: Foto Streik und Demonstration