Aus Politische Berichte Nr. 7/2018, S.04 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Brexit : Keine Lösung in Sicht

Eva Detscher, Karlsruhe

EU-Gipfel Ende Juni und die Suche nach Lösungen

Großbritannien will von der EU ein Abrücken vom Standpunkt, dass die vier Freiheiten des EU-Binnenmarktes – Arbeitskräfte, Kapital, Handel und Dienstleistungen – nicht mehr als Gesamtsystem verhandelt werden sollen: ein eigenes „gemeinsames Regelwerk“ soll ermöglichen, dass GB bei Waren und landwirtschaftlichen Erzeugnissen weiterhin eng an den EU-Binnenmarkt angeschlossen bleibt: London will dafür EU-Vorschriften und Produktstandards übernehmen, aber auch weiterhin Mitsprache behalten. Die Zollunion will GB verlassen und bilaterale Abkommen mit USA und China schließen. An der Grenze Irland/Nordirland oder eben EU/Nicht-EU wollen die Briten für Importe aus Drittländern zwei verschiedene Zollsätze erheben. Der EU-Ratsvorsitzende Sebastian Kurz reiste am 8. Juli an die Grenze und zu Gesprächen mit Theresa May. – Für die Befürworter des Brexits ist das alles inakzeptabel und wie dieses Hin und Her, Drohung des Sturzes von May, Schweigen von Labour weitergeht, ist immer noch offen.

Eine wichtige Stütze hat May am Anfang dieser Woche verloren: David Davis, der britische Unterhändler mit Brüssel, hat seinen Rücktritt erklärt; wenig später auch der Außenminister und Wortführer der Brexiteers Boris Johnson.

Drängende Einzelfragen

• 65 000 Bachelor-Studenten aus EU-Ländern sind derzeit in Großbritannien. Maximal 9250 britische Pfund pro Jahr müssen bislang britische sowie EU-Studenten berappen – die Regelung für Nicht-Briten soll mit Einschreibung Herbst 2019 enden: dann wäre eine Spirale nach oben offen und damit Verhandlungsgegenstand beim Brexit, ganz abgesehen davon, dass es z.B. in Schottland Sonderregelungen gibt (Gebührenfreiheit).

• Der London Court of Arbitration ist international führend bei der außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten in grenzüberschreitenden Geschäften. Mit dem Brexit würden alle Verordnungen, die der EU-Gesetzgeber erlassen hat, um die Beilegung internationaler Streitigkeiten zu erleichtern, in GB und im Verhältnis zu GB ihre Wirkung verlieren. Daher suchen Unternehmen, die Zugang zum europäischen Justizraum haben, Alternativen und sind auch schon rege tätig (FAZ vom 5. Juli 2018). Es gibt Stimmen, die ein Chance für die Gründung eines europäischen Handelsgerichts sehen, allerdings braucht es für eine solche Debatte ja wirklich kein Ausscheiden GBs aus der EU.

• Große Unternehmen wie Siemens (15 000 Beschäftigte in GB – Gasturbinen und medizinische Geräte), Airbus (10 000 in 2 Werken) und BMW (8 000) warnen ebenso wie der Verband der britischen Autohersteller SMMT vor dem Verlassen der Zollunion und einem Ende der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Boris Johnson dazu so viel wie: „Scheiß auf die Wirtschaft.“

• Ein Großauftrag für Siemens (1,7 Mrd. Euro) zur Ausstattung der U-Bahn-Linie Picadilly mit 94 neuen Zügen. Die Londoner U-Bahn „tube“ wurde 1863 eröffnet und hat ein notorisches Hitzeproblem: „Die Hitze in der Londoner U-Bahn, die sich über 400 Kilometer erstreckt, ist ein immer größer werdendes Problem für die jährlich 1,37 Milliarden Passagiere – vor allem im Sommer. Am 1. Juli 2015 stiegen die Temperaturen in der Northern Line beispielsweise auf 35 Grad. Seit Jahren erteilt die Londoner U-Bahn Passagieren Tipps in Sachen Coolbleiben. Immer wieder kommt es jedoch zu Evakuierungen von Passagieren, die wegen der Hitze gesundheitliche Probleme bekommen.“ (Der Standard, 12. Juni 2018) U-Bahn-Züge werden im Siemens-Werk Simmering in Österreich für den Weltmarkt produziert. Noch ist der Auftrag nicht erteilt, obwohl eigentlich schon lange entschieden sein soll.

• Die Automarke Mini ist eine Ikone des britischen Automobilbaus Sie gehört allerding BMW, und es ist fraglich, ob der Mini weiterhin in GB produziert werden könne. „BMW montiert den Kleinwagen zwar in Oxford, 90 Prozent der Einzelteile werden aber aus dem Ausland geliefert – viele davon aus der EU.“ (FAZ 27.6.18)

Der größte Abnehmer für Autos, die in Großbritannien hergestellt werden, ist die EU: 53,5 % (zum Vergleich: USA 15,7 %, China 7,6 %). 865 000 Arbeitsplätze hängen laut SMMT vom Automobilbau ab. Auch Nissan und Honda z.B. haben Produktionsstandorte in GB. (nach: Die Welt Kompakt vom 27.6.18)

Jaguar-Landrover hat angekündigt, einen Teil der Produktion des Discovery in die Slowakei zu verlagern, allerdings nicht nur wegen des Brexits.

• Bei der Chemieindustrie läuten die Alarmglocken: keine andere Branche ist international so verflochten. Es drohen Importverbote für Produkte aus britischer Produktion: die europäische Chemikalienrichtlinie Reach ist bindend. Seit 2007 wurden 90 000 Dossiers über mehr als 21 000 Substanzen unter Mitarbeit von 14 000 Unternehmen über die chemisch-toxikologische Wirkung dieser Substanzen erarbeitet und an die in Helsinki angesiedelte Agentur übermittelt. „Die Rechtsunsicherheit ist groß, da etliche Chemikalien eine Mixtur aus importierten und selbst hergestellten Stoffen sind.“

• In der Versicherungsbranche wird von Verteuerung der Versicherungen gesprochen: durch die Beteiligung vieler kleiner Versicherungen an großen Haftpflicht- und Sachversicherungsverträgen ist das in der EU vereinheitlichte Versicherungsaufsichtsrecht Kernstück der Risikoabwägung. Britische Versicherer versuchen mit Gründung neuer Versicherungsgesellschaften in der EU (z.B. Lloyds of London in Brüssel), Versicherer in EU-Ländern mit „Drittstaaten-Zweigniederlassungen“ in der GB der Rechtsunsicherheit entgegenzuwirken.

• Die Banken sprechen von 75 000 Arbeitsplätzen, die aus London abgezogen werden, viele davon gehen an den Finanzplatz Paris.

• Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat sich für die weitere Förderung des in London angesiedelten Aby-Warburg-Museums entschieden: 6,3 Millionen Euro für den internationalen Forschungsverbund „Bilderfahrzeuge – Aby Warburg’s Legacy and the Future of Iconology“, es geht dabei um „mobile Bilder und Ideen, deren Migrationsprozesse und Interaktion mit unterschiedlichen Aufnahme-Kulturen seit dem Mittelalter“ von dem Kunstwissenschaftler Aby Warburg untersucht wurden: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 27.6.18 tituliert „Anti-Brexit-Bilder“.