Aus Politische Berichte Nr. 7/2018, S.14 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Europäisches Arbeits- und Sozialrecht – Update

Thilo Janssen / Rolf Gehring, Brüssel

D ie EU-Gesetzgeber Parlament und Rat verhandeln zurzeit neue Richtlinien und Verordnungen zum europäischen Arbeitsmarkt, zu Arbeitsverhältnissen und zu Sozialstandards. Diese wurden in mehreren Ausgaben der Politischen Berichte vorgestellt und diskutiert. Gewerkschaftliche Kritik wurde in die Diskussionen eingebracht und rechtlich verarbeitet. Das zeigen die letzten Monate. Bereits im März hatte der Binnenmarkt-Ausschuss des Parlaments die europäische Dienstleistungskarte verworfen. Besonders die Bau-Gewerkschaften konnten nachweisen, dass Dienstleistungen wesentlich ortsnah stattfinden. Europäisch angebotene Dienstleistungen werden dagegen oft über Briefkastenfirmen organisiert. So werden Scheinselbständigkeit gefördert und tarifliche Normen ausgehebelt.

Nachfolgend werden Sachstände zu den verschiedenen Initiativen vorgestellt, die derzeit in der EU verhandelt werden.

Rechte entsandter Beschäftigter gestärkt

In den Jahren 2007 und 2008 wurde die EU-Entsenderichtlinie durch verschiedene Urteile des EuGH umgewidmet. Es war unklar, ob die vorgegebenen Standards als Mindeststandards oder künftig als Höchststandards ausgelegt würden. Die Gewerkschaften nahmen zunächst Abstand von der Forderung einer Revision der Richtlinie, da befürchtet wurde, dass Standards noch weiter verschlechtert werden. Eine Umsetzungsverordnung zur Entsenderichtlinie (2014/67/EU) brachte Fortschritte, allerdings nicht im materiellen Bereich sondern bezüglich der Durchsetzung in den EU-Ländern. Jetzt ist eine Revision der Richtlinie zwischen den Gesetzgebern ausgehandelt worden, die von den Gewerkschaften wesentlich positiv eingeschätzt wird. Wichtige Punkte sind:

• Entsandte Arbeitnehmer haben ab dem ersten Tag Anspruch auf die gleiche Entlohnung wie örtliche Arbeitskräfte, nämlich:

• Löhne gemäß den Tarifverträgen;

• Zulagen wie ein 13. Monatsgehalt, Kaltwettergeld und andere Vergünstigungen;

• Erstattung von Reise- und Unterkunftskosten, zusätzlich zum Gehalt;

• Wechsel vom Arbeitsrecht des Herkunftslandes zum Arbeitsrecht des Aufnahmelandes nach 12 Monaten mit einer möglichen Verlängerung um sechs Monate, statt wie von der Kommission vorgeschlagen erst nach 24 Monaten.

Prekäre Arbeitsbedingungen bekämpfen

Zwar hat das EU-Parlament nicht die Kompetenz direkt Vorschläge für Rechtsakte der EU zu initiieren. Es kann jedoch mit Resolutionen die Kommission auffordern, aktiv zu werden. In einer Resolution vom 31. Mai fordert das Parlament, prekäre Arbeitsbedingungen zu bekämpfen. EU-Kommission, EU-Länder und die Sozialpartner sollen zusammenarbeiten, damit sichere und gut bezahlte Beschäftigung zu fairen Bedingungen gefördert wird. Ausdrücklich wird gefordert, die Aufsichtsbehörden zu stärken. Bestehende Rechte der Beschäftigten in den EU-Ländern werden häufig nicht umgesetzt, weil Aufsichtsbehörden unterbesetzt sind. [1]

Transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen

Wir hatten in den PB 2/2018 (S. 17) über die Revision der Richtlinie 91/533/EWG berichtet, die vor allem garantieren soll, dass Beschäftigte einen schriftlichen Arbeitsvertrag erhalten. In einer Sitzung am 21. Juni 2018 verabschiedete der Rat einen Kompromiss, der mehrere Änderungen vorsieht. Darunter ist auch die Möglichkeit der EU-Länder, für bestimmte Arbeitnehmer Ausnahmen zuzulassen. Während der Vorschlag der Kommission vorsieht, Ausnahmen für Verträge von einem Monat mit maximal acht Stunden zuzulassen, will der Rat Verträge mit einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von fünf Stunden und einem Bezugszeitraum von vier Wochen ausnehmen. Bestimmte Beamtengruppen sollen ebenfalls ausgenommen werden können. Der EGB kämpft darum, dass möglichst keine Beschäftigtengruppen ausgenommen werden. Außerdem sollen Scheinselbständige von der Richtlinie abgedeckt werden.

Fonds für Massenentlassungen

Seit Jahren werden Ideen für eine europäische Arbeitslosenversicherung vorgetragen – und auch wieder verworfen. Fortschritte sind nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Konstellation schwierig, sondern auch, weil die nationalen Sozialversicherungssysteme so unterschiedlich sind. Vorschläge, die in Richtung einer „Arbeitslosenrückversicherung“ gehen, sind Gegenstand eines Vorschlags der EU-Kommission, vorgelegt am 31. Mai 2018 (KOM (2018) 387 endg.). Er trägt den sperrigen Titel „Errichtung einer europäischen Investitionsstabilisierungsfunktion“, abgekürzt EISF. Die 30 Mrd. EUR, die dem Fonds zugewiesen werden sollen, sollen sowohl den Ländern des Euroraums als auch den Euro-Kandidaten zugutekommen.

Der Fonds soll bei „großen asymmetrischen Schocks“ in einem EU-Land aktiviert werden. Der Vorschlag besagt: „Die Kriterien für die Aktivierung der Unterstützung … basieren auf einem doppelten Arbeitslosigkeitsauslöser. [Dieser Ansatz] wird gewählt, weil ein starker Anstieg der nationalen Arbeitslosenquoten ein relevanter Indikator für die Auswirkungen eines großen asymmetrischen Schocks ist …“

Zu den Kriterien gehört, dass die vierteljährliche Arbeitslosenquote a) über der durchschnittlichen Arbeitslosenquote der letzten 15 Jahre lag und b) die Arbeitslosenquote für denselben Monat des Vorjahres um mehr als einen Prozentpunkt überstieg. Für den Fall, dass dieser doppelte Auslöser eintritt, wird die EU ein zinsloses Darlehen gewähren. Es muss nach den mit der Kommission ausgehandelten Bedingungen zurückgezahlt werden. Der EISF soll nur als „erster Schritt in der Entwicklung eines vollwertigen Versicherungsmechanismus im Laufe der Zeit betrachtet werden […], um makroökonomische Stabilisierung zu gewährleisten“.[2]

Europäischer Sozialfonds Plus

Die Kommission hat ihren Vorschlag für den Europäischen Sozialfonds Plus (ESF+) vorgestellt. Für den Zeitraum 2021 bis 2027 sollen insgesamt 101,1 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Bisher macht der ESF etwa 0,3 % aller Sozialausgaben in der EU aus. Der ESF+ führt bestehende Programme zusammen. Dazu gehören der ESF selbst, der vor allem dazu dient, Arbeitskräfte zu qualifizieren, die Beschäftigungsinitiative für junge Menschen sowie der Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP), dessen Projekte extreme Armut lindern helfen. Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege, die Gewerkschaften und Die Linke im EU-Parlament (EP) begrüßen dies grundsätzlich, sofern die verschiedenen Aufgaben der einzelnen Programme weiterhin mindestens gleichwertig erfüllt werden. Kritisiert wird dagegen, dass die Prioritäten des ESF+ stärker daran gebunden werden sollen, was die EU den EU-Ländern im Rahmen des Europäischen Semesters empfiehlt. Hier kann es zu Konflikten zwischen neoliberalen wirtschaftlichen und fiskalischen Vorschriften und bisher unverbindlichen sozialen Empfehlungen kommen.

Verordnung über die Koordinierung sozialen Sicherungssysteme

Der Rat der Sozialminister hat am 26. Juni die gemeinsame Position der EU-Länder zur Überarbeitung der Verordnung über die Koordinierung sozialen Sicherungssysteme in der EU festgelegt. Die Verordnung regelt sozialrechtliche Ansprüche von EU-Bürgern, die sich in einem anderen EU-Land aufhalten, dort leben oder arbeiten. Mit seinem Beschluss geht der Rat unter österreichischer Ratspräsidentschaft in die Verhandlungen mit dem EU-Parlament (EP). Wenn das EU-Parlament seine gemeinsame Position im September festlegt hat, werden zähe Verhandlungen erwartet. Knackpunkte werden in den Bereichen Arbeitslosengeld (ALG), Entsendung von Arbeitnehmer*innen (anwendbares Sozialrecht) und Zugang zu Sozialleistungen für Nicht-Erwerbstätige liegen. Der Rat will einige neue Hürden einziehen: So sollen etwa Ansprüche auf ALG in einem anderen EU-Land zukünftig erst nach einem Monat gelten. Für Grenzpendler soll das Land der Beschäftigung zuständig für ALG werden, aber erst nach drei Monaten. Bisher sind die Regeln deutlich einfacher. Es gibt keine zeitlichen Schwellen. Die Linke im EP will die Regeln für die EU-Bürgerinnen und -Bürger so einfach wie möglich gestalten und wirkt im EP auf eine entsprechende Position hin.

Richtlinie zur Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben

Am 25. Juni hat der Rat der Sozialminister seine gemeinsame Position zur neuen Richtlinie über die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben festgelegt. In einigen Punkten schwächt der Kompromiss des Rates den ursprünglichen Vorschlag der Kommission deutlich ab. Statt vier sollen nur zwei Monate Elternzeit nicht übertragbar sein. Dies fördert die Gleichstellung von Frauen und Männern nicht in ausreichendem Maße. Die Kommission hatte vorgeschlagen, Vaterschaftsurlaub, Pflegezeiten und Elternzeit verbindlich mindestens in Höhe des in einem EU-Land gültigen Krankengeldes zu vergüten. Der Rat hat diese Mindeststandards für die Vergütung gestrichen und will dies den EU-Ländern jeweils selbst überlassen. Die Linksfraktion im EU-Parlament hat sich für eine verbindliche Vergütung in Höhe von 100 % des letzten Lohnes ausgesprochen. Das Parlament wird seine Verhandlungsposition in den kommenden Tagen abstimmen. Dann beginnt die Auseinandersetzung mit dem Rat.